Die neue Ehrlichkeit
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Social Media haben unfassbar viel zu einem ehrlichen miteinander beigetragen.
Was waren das für dunkle Zeiten! Damals, noch vor etwa fünf, sechs Jahren, als wir alle als Unwissende blind und naiv durch die Welt getorkelt sind! Es ist noch nicht so lange her, dass wir uns nicht ständig im freudvollen Gedankenaustausch mit all unseren Mitmenschen befanden. Ja, es gab ein Leben vor Facebook-Pinnwänden, Kommentarforen und Twitter, ohne die Möglichkeit, jederzeit und sofort der Welt unsere innigsten Regungen, intensivsten Gefühlswallungen und spontanen Entladungen ehrlichster Emotion mitzuteilen. Aber war das denn wirklich ein Leben? Woher wusste ich zum Beispiel, damals, in den dunklen Zeiten vor Facebook, dass sich meine Trafikantin Frau Hermine Geier* in verständlicher, rechtschaffener Empörung für das sofortige, brutalstmögliche Foltern und Exekutieren all jener einsetzt, die nicht nur Fleisch essen, sondern gar Eier aus Käfighaltung kaufen? Wie hätte ich je erfahren, dass der auf Facebook wacker mit dem Bierglas winkende Herr Mirko Stanic, offenbar ein mit subtilstem Humor und feingeistiger Selbstironie gesegneter Satiriker von Weltrang, sofort »alle scheis asülanten und nicht östereicher was nicht deutsch können zurück ins meer« werfen möchte? Wie hätte ich damals, vor der Möglichkeit zum freundlichen Tratsch in diversen Kommentarforen, je Kenntnis erlangt von der tiefen Überzeugung von Herrn Michi Wurmser, dass gehirngewaschene Feminazigutmenschenkommunisten unsere Lügenpresse mit antirussischer Propaganda direkt aus den Ostküstenlaboren des Mossad indoktrinieren würden? Es ist eine wahrhaft freie und aufrechte Gesellschaft, in der stolze Bürger sich ohne Furcht vor gesetzlicher Repression oder altvat’rischer Angst vor bloßer Peinlichkeit derart selbstbewusst präsentieren können! Gottlob, sie sind vergangen, die dunklen Jahre, in denen Leserbriefe, die den linkslinkslinken Schreiberlingen nicht ins Gutmenschenweltbild passten, einfach in der Rund ablage verschwinden konnten! Vorbei die Zeiten, in denen mutige Offenbarungseide von kleingeistigen Wirten nach Mitternacht am Stammtisch durch Abwürgen des Alkoholnachschubs und zensorisches »Jetz’ is aber dann a Ruah!« schmählich im Keim erstickt wurden! Die Unsicherheit, seine Mitmenschen nicht zu kennen – sie ist Geschichte. Denn es ist eine neue Zeit angebrochen, in der sich überall online unsere Mitmenschen freiwillig vor uns so präsentieren, wie sie es früher nur nach zwölf Bier und drei Schnaps sein durften: offen, wahrhaftig, ehrlich. Nur komisch, dass ich mich selber beim Lesen jetzt häufiger so fühle, als hätte ich zwölf Bier und drei Schnaps getrunken. Nur nicht so lustig.