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Die Pandemie als Organisationsentwicklung

Corona-Kopie

 

Hatten Sie sich das Jahr 2020 auch anders vorgestellt? Wir definitiv. Das vergangene Jahr wird in die Geschichtsbücher eingehen als ein Jahr, das viele Veränderungen gebracht hat. Veränderungen, die in vielen Unternehmen fortbestehen werden, auch wenn die unmittelbare Gefahr durch den Virus nachgelassen hat. Das COVID-19-Virus hat als Organisationsentwickler agiert. Effektiver, als Heerscharen von menschlichen OrganisationsentwicklerInnen es je könnten.

Wir haben dazu Mag. Gerd Beidernikl, Soziologe, systemischer Coach, Trainer und zertifizierter Managementberater sowie Gründer und Geschäftsführer der vieconsult GmbH um seine Expertenmeinung gebeten. Vieconsult ist ein auf die Durchführung von Mitarbeiterbefragungen und 360° Führungsfeedbacks spezialisiertes Institut in Wien.

 

Die COVID-19-Pandemie

Das vergangene Jahr hat viele einschneidende Erfahrungen gebracht. Man möge zum gesundheitlichen Bedrohungspotenzial persönlich stehen, wie man will – wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch hat es einschneidende Erfahrungen und Veränderungen gegeben. Vielfach ein „Probieren“ ohne echten Erfahrungshintergrund und ideale ExpertInnenlösung. Vieles wird erst eine Nachbetrachtung zu späteren Zeiten evaluieren können.

Was für das große Ganze gilt, gilt auch für viele Unternehmen und deren UnternehmerInnen. Es war (und ist) eine Phase der Unsicherheit, des raschen Reagierens, des manchmal Experimentierens und der extern ausgelösten internen Veränderungen.

  • Unmittelbaren Veränderungen als Schutzreaktion auf COVID-19 wie Masken, Hygiene, Abstandsregelungen etc.

  • Organisationale Reaktionen auf die COVID-19-Pandemie wie Kurzarbeit, Telearbeit, Digitalisierung etc.

  • Langfristige Transformationen aufgrund sich verändernder Konsumgewohnheiten, Sicherheitsbedürfnisse, internationaler Reisevorschriften etc.

Es gibt in dieser Gesamtkonstellation gefühlt „Verlierer“ und „Gewinner“ der Entwicklung. Manche haben es „einfacher“, andere „schwerer“. Der Gesamteinfluss wirkt auf alle, in jeweils anderer Art und Weise.

Die Pandemie als Organisationsentwicklung

Die COVID-19-Pandemie wirkt in diesem Zusammenhang wie eine riesige organisationsentwicklerische Intervention. Der Virus hat – so formulierte es ein Kunde von mir – in Wochen geschafft, wozu Personalabteilungen und IT-Abteilungen Jahre gebraucht hätten: Die Telearbeit wurde binnen Tagen oder Wochen flächendeckend eingeführt. Betrachten wir das Virus daher in dieser Artikelserie als neuen Kollegen in der Personalabteilung der als Organisationsentwickler mit uns für uns arbeitet. Ein Gedankenexperiment, um auch in der Krise etwas positives zu entdecken.

In der systemischen Organisationsentwicklung spricht man oft über das „Goldene Dreieck“ mit den drei Eckpunkten: Strategie – Struktur – Kultur. Die Kurzformel dabei lautet, dass diese drei Elemente in Interdependenz zueinanderstehen und einander beeinflussen.

Strategie als Sammlung von Plänen und Vorhaben zur Erreichung der jeweiligen Ziele bzw. Vision der Organisation.

Struktur als Aufbau- und Ablauforganisation die den Rahmen der Zusammenarbeit einer Organisation vorgeben.

Kultur als „Persönlichkeit“ einer Organisation, als System geteilter Normen, Werte und erprobter Praktiken.

Und diese Betrachtungsweise lässt sich auch sehr gut auf COVID-19 umlegen

COVID-19 und Strategie

In irgendeinem Zusammenhang ist wohl fast jedes Unternehmen über die letzten Monate von COVID-19 betroffen gewesen. Der Grad der Auswirkung mag dabei sehr unterschiedlich sein:

Kurzfristige Einschränkungen oder Gebote im Sinne des Gesundheitsschutzes der eigenen Belegschaft etc., die fast alle Treffen.

Kurzfristige Verbote oder Verunmöglichungen der eigenen Geschäftstätigkeit durch Lockdown, Sperren im Tourismus etc. in bestimmten Branchen.

Mittelfristige Anpassungen der eigenen Geschäftstätigkeit durch die schrumpfende Wirtschaft und veränderte Kundenbedürfnisse.

Langfristige, tiefgreifende Transformationen des eigenen Geschäftsmodells oder der Geschäftsfelder.

Wo die einen betriebe Mehrarbeit unter erschwerten Bedingungen haben (bspw. Gesundheitseinrichtungen), haben andere einen zeitweisen oder saisonalen (Total-) Ausfall (bspw. Tourismus, Restaurants). Die einen arbeiten in Kurzarbeit (bspw. manche Produktionsbetriebe), die anderen haben mehr Aufträge als je zuvor (bspw. IT-Dienstleister).

Die COVID-19 Pandemie ist aus meiner Sicht ein Weckruf sich mit Strategie und strategischen Fragen zu beschäftigen. Von Seiten der Kundenbedürfnisse her, von Seiten der Liefer- und Wertschöpfungsketten her, von Seiten der eigenen Positionierung her. Und was das Krisenmanagement in Unternehmen betrifft stand und steht ebenso die strategische Entscheidung an: Überbrücken, anpassen, neu erfinden oder professionell beenden.

COVID-19 und Struktur

Das Virus hat sich ebenso auf die Aufbau- und Ablauforganisation vieler Unternehmen ausgewirkt. Denn das viel proklamierte Gebot der Stunde „Distanz“ hat den Babyelefanten in unsere Organigramme und Prozessabläufe gezeichnet. Per Lockdown #1 im März 2020 wurde die Telearbeit quasi flächendeckend (zumindest temporär) eingeführt. Homeoffice wurde vom „Fringe Benefit“ für verlässliche Mitarbeitende zur Notwendigkeit und Risk-Management-Strategie. Laptops und Webcams wurden vom Kostenfaktor zum ausverkauften Wunschobjekt.

COVID-19 hat in dieser Betrachtungsweise die Schwächen der eigenen Aufbau- und Ablauforganisation vielerorts aufgedeckt. Wo papiergebundene Prozesse dominiert haben und Anwesenheit die Maßzahl für Produktivität gewesen ist, musste man häufig stark kämpfen die Leistungsfähigkeit aufrecht zu erhalten. Andernorts war man zumindest technisch/strukturell besser vorbereitet. Man denke nur an die gute alte „Unterschriftenmappe“ im Vergleich zum digitalen Signaturprozess. Die kurzfristigen Auswirkungen haben v.a. den Ablauf betroffen, eine strategische Optimierung der Aufbauorganisation ist nur der logische Folgeschritt.

Führung, Kooperation und interne Kommunikation mussten sich dadurch anpassen und mit verändern. Das „Command & Control“ Denken alter Führungsschule funktioniert bei Homeoffice und Homeschooling nicht mehr wie gewohnt. Ziele und Aufgaben zu definieren, Selbstständigkeit zu fördern und auch private Verpflichtungen zu berücksichtigen bringt sowohl neue Chancen als auch neue Belastungen mit sich. „Homeoffice extrem“, möchte ich es in einigen Lockdown Phasen bezeichnen.

Wo persönliche Meetingformate plötzlich reduziert oder verboten wurden, galt es andere Kanäle und Formate zu (er)finden. Das Webmeeting wurde zum neuen Stein der Weisen. Wobei bis heute viele Unternehmen diesen „Stein“ maximal als Briefbeschwerer nutzen denn daraus Großartiges zu bauen. Die Technik wurde rasch nachgezogen, die Medienkompetenz und Didaktik hinken oft hinterher. Und in vielen Unternehmen ist MS Teams nur zum Telefon mit Bild aufgestiegen. Die vollen Potenziale bleiben oft ungenutzt.

COVID-19 und Kultur

Die Veränderungen in Strategie und Ablauforganisation bringen auch neue kulturelle Anforderungen mit sich. Gerade die erste Phase der Pandemie hat in vielen Unternehmen erhöhten Kollaborationsbedarf aufgezeigt. Der „Feind nach außen“ hat nach innen geeint. Denn die Lösungen der aktuellen Probleme macht nicht an Abteilungsgrenzen halt. Hemdsärmelig wurde über Organigramm-Kästchen hinweg zusammengearbeitet.

In Telearbeit wurde auf Vertrauensbasis oft ohne gültige Telearbeitsvereinbarung und ohne bis ins letzte definierte Arbeitsanweisung das Uhrwerk „Unternehmen“ am Laufen gehalten. Wo Vertrauen ineinander vorhanden war, ist vielerorts eine Gruppenerfahrung entstanden, die auch in Jahren von heute noch hohes Storytelling-Potenzial in sich trägt. „Wir bleiben hier, damit Ihr zuhause bleibt!“ – dieser von sozialen Medien geprägte Aufschrei wird mir zumindest in Erinnerung bleiben.

Die proklamierte Unternehmenskultur und die vermarktete „Employer Brand“ wurde auf die Rüttelstrecke geschickt und konnte sich in seinen Qualitäten beweisen oder in seinen fehlenden Qualitäten bestätigen. Die digitalen Kompetenzen, die schon lange gefordert werden, können sich nun in täglichen ZOOM-Meetings beweisen. Und Gleichzeitig wurde vor Augen geführt, wie einfach es eigentlich ist die Sachebene am Laufen zu halten, und wie schwierig es ist die Beziehungsebene in Unternehmen zu digitalisieren. Kultur jenseits des physischen Ortes – eine spannende Betrachtungsweise. Oder anders ausgedrückt: Unternehmen bestehen aus Kommunikationsereignissen, die Systemtheorie lässt grüßen.

Ein weiterer Kulturaspekt ist, dass plötzlich Mensch und Mitarbeiter stärker eins sein dürfen bzw. müssen. Wie gerne hält man als Unternehmen Privatleben und Berufsleben auseinander, versucht künstlich zu trennen was als Mensch ein Ganzes ist. Homeoffice und Homeschooling haben uns gezeigt, wo die Chancen aber auch die Grenzen liegen. Und auch diese Erfahrung wird uns weiter prägen, wenn es um die menschliche Komponente im Berufsleben geht. Personalleiter im Kapuzensweater statt Anzug in Webmeetings - mit dem rosa Kinderzimmer ihrer Tochter als Hintergrund inklusive. Wie erfrischend menschlich.

Auswirkungen auf Führung und Engagement

Von Winston Churchill soll das Zitat stammen: „Never waste a good crisis!“ – Verpasse nicht die Chance, die in einer Krise steckt. Die aktuelle Phase COVID19 ist für viele Unternehmen eine Phase, die bei aller Unsicherheit auch gewaltige Potenziale in sich trägt. Sitzen wir die COVID19 Krise nicht nur aus, nutzen wir sie! Nutzen wir auch das Virus zu unseren Gunsten als Organisationsentwickler!!

Der aktuelle Blogbeitrag, der die „Vogelperspektive“ einnimmt, wird von zwei weiteren Blogbeiträgen komplettiert werden, die in den kommenden Wochen erscheinen. Die Beiträge gehen jeweils Schlüsselfragen auf der Kultur-Ebene nach:

Was bedeuten diese Veränderungen für Führung und Führungsarbeit?

Was bedeuten diese Veränderungen für Betriebsklima und Engagement der Belegschaft?

 

Ein Blick in den Spiegel

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