Die Flüchtlinge erreichen auch Brüssel. Zumindest in politischer Hinsicht (aber auch in realita). Und die Thematik spaltet die Mitgliedstaaten wie zuvor kaum ein anderes Thema. Mit dem Streit und seinen Folgen wird Europa noch lange beschäftigt sein – hoffentlich.
Auch wenn sie auf den ersten Blick nichts miteinander gemein haben, lässt sich zwischen der Finanz- und der Flüchtlingskrise doch eine Parallele ziehen: Eine Ursache, die ihre Quelle nicht in Europa hat, löst das (beinahe) Zusammenbrechen einer europäischen Architektur aus – und die europäischen Staaten streiten über Ursache, Verantwortlichkeit und Reaktion. Was im einen Fall die Subprime-Krise in den USA, die Existenzbedrohung der Eurozone und der Rettungsschirm waren, sind im anderen der Brandherd Naher Osten, das Scheitern des Systems »Dublin« und der (noch) hilflose Umgang mit dem Flüchtlingsstrom ins Herzen Europas. Der Wegfall des europäischen Bandes legte in beiden Fällen die enormen nationalen Fliehkräfte frei und zeigte deutlich auf, wie fragil eigentlich das Haus Europa ist, in dem wir alle leben.
Halbe Lösungen sind doppelt so schlecht
Eurozone, Asylsystem »Dublin« und viele andere Regelungen zeigen eines deutlich auf. Die Strategie lautet fast immer: Die Nationalstaaten erkennen einerseits die Notwendigkeit an und vergemeinschaften ihre Politik auf EU-Ebene. Andererseits wollen sie sich dann doch nicht von »Brüssel« alles vorschreiben lassen, und so hat die Vergemeinschaftung im Endeffekt mehr Löcher als ein Emmentaler. Dies ist nicht nur halbherzig, sondern doppelt schlecht. Denn eine solche Lösung ist nicht nur externen Krisen schutzlos ausgeliefert wie eine Holzhütte einem Orkan. Sie kann auch selbst Krisen auslösen, auf die es dann keine Antworten gibt.
»Dublin« hatte – man muss in der Vergangenheitsform schreiben, denn derzeit ist das System tot – primär einen Zweck: Flüchtlinge und Zuwanderer an den Außenmauern Europas zu halten. Nun ist diese Mauer gestürmt und die Flüchtlinge stehen im Burgfried, also Deutschland, Österreich und anderen zentral- und nordeuropäischen Ländern. Damit hat uns ein Stück weit die Realität eingeholt, denn diese Flüchtlinge hat es auch zuvor gegeben. Und es zeigt deutlich auf: Europa muss selbst das Heft in die Hand nehmen und aktiv die Ursachen angehen, will man nicht von den Folgen überfordert werden.
Europäische Antworten, auch auf nicht gestellte Fragen
Was sind nun einerseits die Lehren und auch die notwendigen Folgen aus dieser aktuellen Situation?
Erstens: Die »neuen« Mitgliedstaaten verstanden lange die EU als Bankomat und Finanzier des eigenen Wirtschaftsaufbaus. Dieses (Miss-)Verständnis wird nun ein Ende haben und auch das »alte Europa« muss sein Verständnis seiner Rolle gegenüber den osteuropäischen Staaten neu ordnen.
Zweitens: Europa wird sich schnell ein neues System im Bereich Asyl und Zuwanderung überlegen müssen, das eben die aufgezeigten Schwachstellen von »Dublin« beseitigt und auch das Thema Integration behandelt. Dazu müssen auch legale und gesteuerte Einreisemöglichkeiten für Zuwanderer und Asylansuchen aus Drittstaaten gehören, will man das Sterben im Mittelmeer und in Schlepper-LKWs verhindern.
Drittens: Es rächt sich nun, dass Europa im Nahen Osten lange nur Beobachter oder Beiwagerl der USA war. Europa muss sich selbst eine neue politische Doktrin im Umgang mit seinen Nachbarstaaten bzw. seinem »Hinterhof« Naher Osten geben. Eine solche Doktrin sollte auch militärische Dimensionen abdecken. Denn sonst machen das auch in Zukunft weiterhin die Amerikaner und die Russen – und Europa darf die Scherben aufkehren.
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