Die jüngsten Beschlüsse der KP Chinas könnten sich als die größte Öffnung der chinesischen Politik seit den 1990er Jahren erweisen.


Zunächst hatten sich die „Märkte“ vom kurzen Abschlussdokument des Dritten Plenums der KP Chinas enttäuscht gezeigt, das Anfang der zurückliegenden Woche veröffentlicht worden war. Es offenbarte nicht die erhoffte stärkere Öffnung des Unternehmenssektors und der Finanzmärkte. Die Aktienkurse in China und in anderen Teilen Asiens fielen daraufhin. Man befürchtete, ohne umfassende Reformen könnte der Motor der Weltwirtschaft ins Stocken geraten. Immerhin ist China mittlerweile die zweitgrößte Volkswirtschaft, zuletzt war ihr BIP-Zuwachs so gering ausgefallen wie seit 23 Jahren nicht.

Die ausführliche Version des Abschlussdokuments, die am Wochenende vorgelegt wurde, zeigt jetzt ein anderes Bild. Die chinesischen Aktienindizes sind daraufhin kräftig angesprungen und zogen die meisten anderen Börsen der Emerging Markets mit. Bloomberg spricht von der „breitesten Ausweitung wirtschaftlicher Freiheiten seit mindestens den 1990er Jahren“. 1993 hatte das Zentralkomitee der KP Chinas die „sozialistische Marktwirtschaft“ ausgerufen, nachdem Deng Xiaoping 1978 die wirtschaftliche Öffnung Chinas angestossen hat.

Die meisten Vorhaben sollen bis 2020 umgesetzt werden. Leitlinie ist, das Land wettbewerbsfähiger zu werden und seinen Wohlstand zu mehren. Billige Massenexporte stehen nicht länger im Fokus, statt dessen soll die Binnenwirtschaft das Wachstum antreiben. Als wichtigste Reformen gelten:

  • Lockerung der Ein-Kind-Politik
  • Abschaffung der Zwangsarbeitslager zur politischen Umerziehung
  • Alimentierung der Sozialversicherungen aus den Dividenden der Staatsunternehmen
  • Zulassung kleiner und mittelgroßer Privatbanken
  • Aufhebung des starren Einwohnermeldewesens Hukou
  • Beschleunigung der Konvertibilität des Renminbi der Freigabe der Wechselkurse und der Zinsen
  • Öffnung aller nicht auf einer Negativliste stehenden Branchen für privates und ausländisches Kapital
  • Freigabe der Preise für Transport, Telekommunikation, Wasser, Kraftstoffe, Erdgas und Wasser

Große Bedeutung wird auch der Erlaubnis zugemessen, dass Bauern ihr Nutzungsrecht für nichtagrarisches Land künftig zu Marktpreisen verkaufen dürfen. Bisher waren sie von den Kommunen mit einer Entschädigung enteignet worden, die deutlich unter dem lag, was die Gemeinden mit dem Weiterverkauf etwa an Immobilienentwickler erzielten. Mancher Beobachter schätzt, dass dadurch die Einkommen der Landwirte so stark steigen könnten, dass sie sich in den Städten niederlassen könnten.

Die Reproduktionsrate in China beträgt aktuell durchschnittlich 1,58 Kinder pro Frau. Um die Bevölkerungszahl zu halten, ist eine Reproduktionsrate von knapp über zwei Kinder pro Frau erforderlich. Zum Vergleich: In Indien beträgt die Reproduktionsrate fast 2,6, in Pakistan sogar über 3,3, in Indonesien liegt sie bei fast 2,1. In den USA beträgt die Reproduktionsrate nahezu 1,9 und liegt damit an der Spitze der entwickelten Länder, in Japan liegt sie bei lediglich 1,4. Die Reproduktionsrate ist auch in Hinsicht auf die Versorgung der Alten in der Bevölkerung wichtig. Je geringer sie ist, je höher muss zum Ausgleich die Produktivität der Wirtschaft sein.

Ob die Vorhaben allerdings auch so umgesetzt werden, wie es auf dem Papier steht, muss sich noch zeigen. Es gibt starke Interessengruppen in Gemeinden und Provinzen, bei den Staatsunternehmen oder bei den öffentlichen Banken.

Derweil schreitet der Immobilien-Boom unaufhaltsam voran: Nach Berechnungen des IWF kostet eine 70-Quadratmeter-Wohnung in Peking mittlerweile etwa das 20-fache eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens. Der Anstieg der Immobilienpreise geht weiter, in den 70 größten Städten lagen sie im Oktober im Schnitt 9,6% über den Werten aus dem Vorjahr. Das ist der zehnte Monat in Folge mit einem Anstieg. Die politischen Anstrengungen, die Preissteigerungen zu deckeln, haben bislang wenig gebracht.

Der Hang-Seng-Index ist gestern mit einem großen “Gap-up” aufgewacht und distanziert sich vom großen Dreieck, das sich seit Ende 2007 gebildet hat. Seit September war dessen Oberseite immer wieder getestet worden, im Mai hatte die Unterseite Support geboten.

Über Deutschland wird mehr als ein Drittel des gesamten EU-Handels mit China abgewickelt, zwischen 2002 und 2012 hat sich der Warenverkehr zwischen beiden Ländern vervierfacht. China ist heute das fünftwichtigste deutsche Exportziel, beim Import steht das Land auf Platz zwei.

Wenn China künftig auf einen stärkeren Binnenkonsum setzt, könnte das den deutschen Maschinen- und Anlagenbauern nutzen. Für sie ist China schon jetzt der wichtigste Zielmarkt und gerade bei einer solchen Ausrichtung werden Kapitalgüter benötigt, für die Deutschland ein weltweit führender Anbieter ist. Auch für deutsche Hersteller, die in China für den einheimischen Markt produzieren, dürfte die politische Neuausrichtung positiv sein. Die deutsche Automobilindustrie z.B. findet in China den größten, profitabelsten und am schnellsten wachsenden Markt vor, eine Entwicklung, die sich zunächst noch beschleunigen könnte.

Allerdings dürfte China gerade mit seiner Neuausrichtung den Fokus auch immer stärker darauf lenken, von ausländischen Lieferungen unabhängiger zu werden, um eine größere Wertschöpfung im eigenen Land zu erzielen. Das würde bedeuten, dass der deutschen Industrie in China noch einige (wenige) gute Jahre bleiben. Die Globalisierung, bei der China im Zentrum stand und noch steht, dürfte ihren Zenith bald überschreiten.