»Enormes Wachstumspotenzial«
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Hans-Jörg Hörtnagl, österreichischer Wirtschaftsdelegierter in Neu Delhi, im Interview.
Wer sich auf dem indischen Markt behaupten will, braucht viel Geduld, meint er.
(+) plus: Wie kommt dieser plötzliche Wandel vom Zukunftsmarkt zum Krisenmarkt?
Hörtnagl: Diese Entwicklung ist nicht ganz unerwartet und hat sich schon seit einiger Zeit abgezeichnet. Vor Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahre 2008 ist Indien über einen Zeitraum von fünf Jahren zwischen 8 % und 9 % pro Jahr gewachsen, basierend auf einem starken Inlandskonsum. Dann folgten zwei Konjunkturprogramme der Regierung, welche das Wachstum weiter hoch hielten. Nach Auslaufen dieser Stimulierungen verschlechterten sich die volkswirtschaftlichen Daten. Geringere Kapitalzuflüsse im Zuge der Euro-Krise, reduzierte Exportmöglichkeiten sowie relativ hohe Rohstoffkosten belasten die indischen Unternehmen, hierzu kommen noch hausgemachte Faktoren wie eine hohe und volatile Inflation, eine restriktive Geldpolitik und eine mangelhafte Infrastruktur. Ein um 20 % unter dem Durchschnitt liegender Monsunregen verschlimmerte dann noch drastisch die wirtschaftliche Situation. Bereits im Mai erfolgte eine Herabstufung der Wirtschaftsaussichten Indiens durch S&P.
(+) plus: Die Demokratie galt zuvor als Trumpf im Wettlauf mit China. Stimmt der Eindruck, dass sich nun aber gerade die Politik selbst blockiert?
Hörtnagl: Die politischen Verhältnisse in Indien sind sehr komplex. Im Parlament sind über 50 Parteien vertreten, wobei lediglich drei Parteien in ganz Indien Bedeutung haben, der große Rest sind größere und kleinere Regionalparteien. Die Regierungskoalition besteht aus zehn Parteien, die führende Kongresspartei kann sich aber keiner Mehrheit sicher sein und muss laufend Kompromisse schließen. So passiert es eben leider laufend, dass wirtschaftlich sinnvolle Maßnahmen aus populistischen Gründen blockiert werden.
(+) plus: Ein Reformschub scheint dringend nötig. Können Liberalisierungen des Marktes einen Befreiungsschlag bewirken?
Hörtnagl: Selbstverständlich. Der letzte große Reformprozess erfolgte 1991 und ermöglichte Indien die Abkehr von einem planwirtschaftlichen System. Die indischen Unternehmen haben damals die neuen Möglichkeiten geschickt genützt. Die hohen Wachstumsraten der vergangenen Jahre sind Ausdruck dieses Erfolges. Ein zweiter großer Reformschritt wäre dringend notwendig, um die Produktionskosten zu senken. Veraltete und noch aus der Kolonialzeit stammende Arbeitsgesetze, Mangel an Industriegrundstücken, eine unzureichende Infrastruktur mit ständigen Stromabschaltungen, Bürokratie und komplexe, langatmige Entscheidungsprozesse der öffentlichen Hand sind alles Faktoren, die dazu führen, dass Indien im »Doing Business«-Guide der Weltbank auf den hinteren Rängen zu finden ist.
(+) plus: In welchen Branchen können westliche Unternehmen noch punkten?
Hörtnagl: Österreichisches Know-how und Technologien genießen in Indien einen sehr guten Ruf. Besondere Chancen bestehen in den Bereichen Maschinen- und Anlagenbau, Automotive, Infrastruktur/Energiewirtschaft, Eisen- und Stahlindustrie sowie Elektrotechnik/Elektronik. Die österreichische Tunnelbaumethode wird in Indien bereits sehr geschätzt. Auch der Dienstleistungsexport gewinnt immer mehr an Bedeutung.
(+) plus: Mit welchen Schwierigkeiten müssen Neueinsteiger auf dem indischen Markt rechnen?
Hörtnagl: Indien ist kein einfacher Markt und deshalb nichts für Exporteinsteiger. Exporteure müssen sich bewusst sein, dass es sich um ein Niedrigpreisland mit niedriger Kaufkraft handelt. Man hat es mit einer völlig anderen Geschäfts- und Arbeitskultur, einer stark ausgeprägten Bürokratie, einer mangelnden Infrastruktur, manchmal mangelnder Transparenz sowie einer erschwerten Rechtsdurchsetzbarkeit zu tun. Gefragt sind sehr viel Geduld, interkulturelle Kompetenz sowie der Aufbau eines Kontakt- und Informationsnetzes.
(+) plus: Müssen die in Indien vertretenen Unternehmen ihre Erwartungen inzwischen zurückschrauben?
Hörtnagl: Derzeit gibt es über 120 heimische Unternehmen in Indien, wobei mehr als die Hälfte in den letzten fünf Jahren gegründet wurden. Natürlich müssen die Erwartungen in einigen Bereichen aufgrund der allgemeinen Entwicklung etwas zurückgeschraubt werden, gleichzeitig gibt es aber auch Sektoren, die davon unberührt bleiben. Am wichtigsten ist aber die Erkenntnis, dass es sich bei Indien um eine der letzten großen Volkswirtschaften mit enormen Wachstums-
potenzial handelt, welche sich früher oder später entfalten wird.n