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Zwischenrufe aus Übersee

Wie ein Europäer den Alltag an der US-amerikanischen Ostküste erlebt.

Google, Zillow und Co

mein nachbar, ein offenes Buch: Tratsch war gestern, heute steht alles bereits im Internet.Google Earth liefert die Bilder, Zillow die Zahlen und Facebook das Persönliche. Bald weiß ich mehr über meine Nachbarn, als ich je wissen wollte.

 

Adrett im Business-Kostüm stand die resolute Dame vor meiner Haustür in Princeton und begehrte Einlass. Sie wolle mein Haus besichtigen, erklärte die Mittvierzigerin, und als sie mein verdutztes Gesicht sah, erklärte sie mir auch, warum. Sie plane ihr Haus zu verkaufen und habe dabei festgestellt, dass ich meines weit unter jenem Wert erworben hätte, den sie für ihre Liegenschaft veranschlage. Dafür müsse es einen Grund geben, und den wolle sie herausfinden, also müsse sie sich mein Haus anschauen. Sie müsse gar nicht, aber vor allen Dingen müsse ich nicht, entgegnete ich. Sie ließ nicht locker und lieferte weitere Details: Sie wohne in derselben Straße nur fünf Blocks weiter, habe ihr Haus vor fünf Jahren erworben und habe so viel bezahlt wie der Vorbesitzer meines Reihenhäuschens.

Jetzt hatte sie mit ihrem Detailwissen mein Interesse geweckt, und als die Unbekannte meinen Keller inspizierte, erfuhr ich mehr über mein Haus und entdeckte, das ist keine Tratschtante, die zu viel Zeit bei ihren Nachbarn verbringt. Sie nutzt Zillow.com und kann für jedes Haus nachlesen, wie viel es gerade wert ist. Das Haus am Anfang der Straße kostet 562.000 USD, der Nachbar schräg gegenüber, ein freundlicher Russe, hat 538.000 USD gezahlt. Und: In der Gegend werden gerade fünf Häuser zum Kauf angeboten, und eins ist vor kurzem verkauft worden. Erst vor zwei Tagen ist ein Objekt in der Parallelstraße auf den Markt gekommen, das schon im Mai 2006 vom jetzigen Besitzer erworben wurde. Jetzt will der um 625.000 USD verkaufen. Zillow.com hält das nicht für aussichtslos, aber die Preisbandbreite schwankt zwischen 480.000 und 633.000. Jedenfalls wartet die Nachbarschaft gespannt, denn er hat es schon einmal vor einem Jahr probiert. Genau am 5. Juli 2010 hat er das Haus in der Leigh Avenue 97 um 625.000 auf den Markt gebracht und am 4. Dezember wieder vom Markt genommen. Jetzt startet er einen neuen Versuch. Davor war das Haus im Jahr 2005 um 310.200 USD verkauft worden, und der jetzige Besitzer hat es dann am 2. Mai 2006 um 455.000 USD erworben.

Laut Zillow.com haben die Häuserpreise in den vergangenen 30 Tagen um rund 28.500 USD zugelegt, also könnte mein Nachbar, wenn der Trend anhält, Glück haben.

Ich lerne an diesem Tag enorm dazu, und das Schöne ist, alles, was mir die resolute Nachbarin erzählt, kann ich später online nachlesen. Als Journalist weiß ich das zu schätzen, ich muss nicht mitschreiben.

Also: In meinem Township leben 16.762 Menschen, davon sind 4.680 nicht in den USA geboren. Rund drei Viertel sind Weiße, 14 Prozent Asiaten, fünf Prozent Afroamerikaner. 52,8 Prozent sind Akademiker und weitere 25,5 Prozent haben den Titel des Bachelors erworben.

Das durchschnittliche Haushaltseinkommen pro Jahr beträgt 105.662 USD. Nur habe ich in all dem Datenwust noch nicht herausgefunden, was mein russischer Nachbar, von dem ich weiß, was sein Haus wert ist, nun tatsächlich verdient.

Aber mit großer Wahrscheinlichkeit steht demnächst ein anderer Nachbar vor der Tür, der mir erzählt, was ich verdiene und was meine Kinder so treiben. Das weiß er, weil er auf Facebook ist und es irgendwie geschafft hat, auf die Liste der Freunde zu kommen.

Außerirdischer Amtsschimmel
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