Menu
A+ A A-
8 minutes reading time (1598 words)

Kampf um die Deutungshoheit unserer Zukunft

Kampf um die Deutungshoheit unserer Zukunft

Viele wichtige Entscheidungen, die wir heute treffen, hängen davon ab, wie wir unsere Zukunft sehen. Kaufentscheidungen zum Beispiel, aber auch Wahlentscheidungen. Derzeit tobt in Europa und auch in den USA ein Kampf um die Deutungshoheit unserer Zukunft. Optimisten vs. Pessimisten. Aufbruch vs. Absturz. Anfang vs. Ende. Wer gewinnt?

Viel wird dieser Tage vom notwendigen Neustart Europas geredet. Doch will man diesen? Denn wenn man sich die Neustarts in Eu­ropa der letzten 100 Jahre anschaut, ging eigentlich immer ein Krieg und Blutvergießen voran: WKI, WKII, Kalter Krieg/1989. Letzterer endete eher durch Zufall unblutig bzw. löste eine Vielzahl an Blutvergießen erst im Nachhinein aus, siehe Südosteuropa und Afrika.

Der Wunsch nach einem Neustart drückt aber etwas aus, das viele spüren. Nämlich dieses mulmige Bauchgefühl, dass unsere Welt mehr Chaos denn Ordnung kennt. Dass irgendwas falsch läuft in Europa und überhaupt in der Welt und wir am liebsten einen Schalter drücken wollten, der uns einen Neustart ermöglicht. Tabula rasa, um uns eine neue Wirklichkeit zu bauen.

Auf die 25 Jahre Party nach dem Fall des Eisernen Vorhangs folgte ein abrupter achtjähriger Kater. Seit 2008 befinden wir uns in einem Krisenmodus, der uns auf das Gemüt schlägt. Und mittlerweile sind wir in einer gefährlichen Zeit angekommen. Erstmals will ein Mitgliedsland die Europäische Union tatsächlich verlassen. Und auch anderorts wirkt die Dynamik der Desintegration. Unser Wohlstand ist ein Eisberg in der Antarktis, der quasi stündlich schmilzt. Mit anderen Worten: Die gute alte Zeit, sie ist vorbei.

Wir blicken verängstigt in die Zukunft, die eigentlich nur unser Untergang sein kann.

Warum ist das so?

Zunächst einmal: Alles, was ich soeben geschrieben habe, stimmt so nicht. Das menschliche Gehirn tendiert nämlich dazu, die Vergangenheit zu verklären und die Zukunft hingegen mit Angst zu betrachten. Was ist damit gemeint? Unser Gehirn funktioniert so, dass Schlechtes oder Traumatisierendes systematisch zur Seite geschoben und verdrängt wird. Erinnerungen sind nämlich keine Dateien wie auf einem Computer, die wir fix abspeichern, sondern wir komponieren jedes Mal, wenn wir eine Erinnerung vermeintlich aufrufen, in Wahrheit diese komplett neu.

Dadurch entstehen jedes Mal neue Varianten mit Abweichungen, die die Vergangenheit immer ein Stück besser darstellen und eben eher die Highlights beleuchten als die dunklen Seiten. Und das ist auch wichtig so, denn um uns für die Zukunft zu motivieren, benötigen wir Erfolgserlebnisse aus der Vergangenheit.

Der Mensch denkt in Widersprüchen, das ist ganz menschlich. Drei Widersprüche bestimmen derzeit zentral unsere gesellschaftliche und auch politische Realität:

Uns ging es noch nie so gut vs. Das Ende ist nah

Auf die nackten Fakten gestützt: Es geht uns so gut wie noch nie. Die Lebenserwartung ist weltweit im Durchschnitt um 40 Jahre höher als im vorigen Jahrhundert. Zum ersten Mal leben weniger als 10 % der Weltbevölkerung in absoluter Armut. Erstmalig sind mehr Länder Demokratien als Diktaturen und die Zahl der Kriegstoten ist auf einem Jahrhunderttief.

Gleichzeitig meinen wir in Europa bzw. auch in den USA, dass unser Ende nah ist. Denn unser Denkfehler ist meist, dass der Kuchen »Wohlstand« eine absolute Größe sein muss – und je mehr andere haben, desto weniger bleibt für uns. Dabei hätten wir am meisten Anspruch darauf, da unsere Zivilisation die am weiten fortgeschrittene ist. Es ist also eine Mischung aus Angst und Arroganz, die sich in die allgemeine Debatte in der westlichen Welt eingeschlichen hat.

Am Beispiel des gewählten US-Präsidenten Donald Trump verdichtet: Amerikanische Jobs gehen nach Mexiko, mexikanische Einwanderer sind aber Menschen zweiter Klasse. Aus diesem Denkfehler heraus dominiert auch derzeit mehr die Verteilungsdebatte denn die Diskussion darüber, wie der Wohlstand von morgen erwirtschaftet werden kann.  Was dabei ebenso übersehen wird, ist der Umstand, dass ein großer Teil unseres Wohlstandes in Europa nicht mehr in Eu­ropa produziert wird. Die europäische und deutsche Automobilindustrie wäre schon längst implodiert ohne die Absatzmärkte z.B. in Asien. Gerade exportorientierte Staaten wie Österreich leben sehr gut vom Wohlstandswachstum außerhalb ihrer Grenzen. 

Und trotz aller Prosperität und Stabilität: Wenn wir kollektiv in die kommenden 30 Jahre schauen, sehen wir primär: Massenarbeitslosigkeit, weil Roboter unsere Jobs übernehmen, Europa wird islamisiert, alle Frauen tragen Burka und der europäische Wohlstand ist abgewandert.  Was wir nicht sehen: Gewinn an Lebensqualität und völlig neue Lebensmodelle, weil Roboter uns eine Vielzahl zeitraubender Tätigkeiten abnehmen. Was wir nicht sehen: dass Eu­ropa schon immer ein Kontinent der Migration war und der Säkularismus noch immer Mehrheitsmodell und resilient ist.

Möglichkeit der unbegrenzten direkten Kommunikation vs. Die Gesellschaft wird immer gespaltener

Der Wandel in unserer Kommunikation ist wohl die größte Veränderung der letzten 20 Jahre. Heute trägt jeder einen Superminicomputer bei sich, der nicht nur unbegrenzte Kommunikation, sondern auch Information ermöglicht. Die Kosten für Kommunikation sind massiv gefallen und Information ist en masse und meist kostenlos verfügbar. Gerade dank sozialer Medien ist nun eine viel dynamischere und inklusivere Kommunikation und Informationsbeschaffung technisch möglich. In der Tradition des Buchdrucks müsste das doch bedeuten, dass der aufklärerische Funke nun auch auf diese Weise noch mehr Licht entfacht.

Jedoch erscheint es uns, dass die Gesellschaft sich immer mehr fragmentiert. Sehr gut zu beobachten ist das im Zuge von politischen Auseinandersetzungen, wenn Anhänger unterschiedlicher Auffassungen sozial medial aufeinander losgehen. Das Unvermögen und noch mehr der Unwille, die jeweils andere Seite zu verstehen, um einen gemeinsamen Standpunkt zu finden, sind dabei quasi live mitzulesen. Fakten zählen dabei wenig. Diskussionen im sozialen Raum sind mehr von Emotionen denn von Fakten geprägt, und dies dringt auch verstärkt in die Diskussionsform der Offline-Welt durch. Viele sprechen daher schon von einem post-faktischen Zeitalter, in dem wir uns befinden. Und das ist tatsächlich ein gefährliches Phänomen: Viele verwechseln das Recht auf eigene Meinung mit dem Recht auf eigene Fakten, wie von Rudolf Taschner jüngst pointiert zusammengefasst wurde. 

Durch die neue Technologie der sozialen Medien wird ein Effekt offensichtlich, den es zwar immer schon im Ansatz gab, der jedoch durch diese Medien verstärkt wird: der Echokammer-Effekt. Damit ist gemeint, dass man sich tendenziell und instinktiv mit Meinungen auseinandersetzt und Informationen einholt, die das eigene Weltbild bestärken und nicht zerstören. In der prä-sozialen Medienwelt geschah das vor allem durch Zeitungen oder Bücher, die man bevorzugt konsumiert hat, nun übernimmt das ein Algorithmus auf Face­book.  Soziale Medien haben damit auch den Stammtisch im Wirtshaus digital ersetzt. Das Geschwätz ist das gleiche geblieben, das Auditorium ist aber nun ungleich größer und damit dynamischer.

Dadurch wirkt auch unsere Gesellschaft fragmentierter, schlicht und einfach, weil uns von unserem Weltbild abweichende Meinungen schlussendlich doch leichter und unmittelbarer erreichen als in der Offline-Welt.
Die traditionellen Gatekeeper veröffentlichter Meinung verlieren derzeit rapide ihr Monopol. Medien wie TV oder Zeitungen fungierten lange Zeit unangefochten als Quelle für Information, aber auch als Filter und Zensur. Diese Funktion haben sie immer weniger. Durch die Dynamik und Unmittelbarkeit der sozialen Medien verbreitet sich jede Information dezentral und oft an traditionellen Medien vorbei. Diese Information kann richtig oder falsch sein, informativ oder manipulativ. Was geblieben ist, ist die Gutgläubigkeit der Konsumenten: Sobald es »fit to print« ist, muss es wahr sein – auch wenn es »nur« auf Facebook steht. Fake news werden schnell geglaubt und das spielt vor allem populistischer Politik in die Hände.

Meine Theorie: Die Gesellschaft ist nicht fragmentierter als früher. Es ist nur deutlich schwieriger geworden, diese Fragmentierung nicht zu sehen oder sie zu ignorieren. Und: Wir bemerken nun deutlicher, dass wir eigentlich große Teile der Gesellschaft um uns herum gar nicht so gut kennen, und das macht uns Angst.

Wir fordern politische Partizipation, wollen uns aber nicht politisch engagieren

Weiter oben im Text habe ich geschrieben, dass es erstmals mehr Demokratien als Diktaturen auf der Welt gibt. In Europa hat sich die Anzahl der Demokratien seit den 1970er-Jahren mehr als verdoppelt. Und dennoch lesen wir immer wieder, dass sich die Demokratie, wie wir sie kennen, in einer Krise befindet. Repräsentative Demokratie ist pfui, direkte Demokratie oder noch besser: Autokratische Demokratie ist hui.
Dazu drei Gedankensplitter:

1. Die wichtigste Funktion einer Demokratie ist meiner Meinung nach nicht Mitbestimmung, sondern die Begrenzung von Macht. Montesquieus Gewaltenteilung hat einen tieferen Sinn und fußt auf den schlechten Erfahrungen des Absolutismus. Macht korrumpiert und absolute Macht korrumpiert absolut. Es hat einen guten Grund, warum es in Europa eben nicht die eine starke Hand gibt, die die Zügel der Macht in Händen hält. Die Verteilung der Macht darf aber nicht dazu führen, dass am Ende keine Entscheidungen getroffen werden können.

2. Jeder will politische Mitbestimmung, niemand will aber politisch mitmachen. Die Zahlen der Parteimitglieder gehen in Eu­ropa seit Jahren kontinuierlich zurück, und die Bereitschaft, sich politisch zu engagieren, korreliert nicht mit dem Wunsch nach direkter Demokratie. Politische Partizipation ist aber mehr als ein Like auf Facebook unter einem Politiker-Posting oder in die Wahlkabine zu gehen. Die Zukunft der Parteien – und damit der repräsentativen Demokratie – wird sich daran entscheiden, wie es den Parteien gelingt, sich in ihren Strukturen und Meinungsbildungsprozessen Nichtmitgliedern zu öffnen und diese einzubinden.

3. Ich sehe die Jugend in einer besonderen Verantwortung. Das Votum zum Brexit hat es sehr deutlich gezeigt: Je älter der Wähler, desto eher pro-Brexit die Stimme. Und je älter der Wähler, desto höher die Teilnahme an der Abstimmung. Die Jungen haben es also zugelassen, dass die Alten über ihre Zukunft entschieden haben. Selbst schuld, muss man sagen. 

Fazit

Europa steht vor einer historischen Situation und somit vor einem ganz anderen Neustart, als wir es aus unserer Geschichte heraus gewohnt sind: Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit haben wir einen generationenübergreifenden Frieden und Wohlstand geschaffen. Kein Krieg bildet hier die Ausgangsbasis, um eine Gesellschaft neu zu ordnen oder Chancen neu zu verteilen. So gesehen ist Europa ein Opfer seiner eigenen Erfolgsgeschichte. Je eher wir als Individuen und als Gesellschaft Antworten auf die oben beschriebenen Herausforderungen finden, desto erfolgreicher wird diese Geschichte weitergehen. 

Zukunft Wohnbau im Lichte der Pariser Klimaziele
Trumpland oder der falsche Film

By accepting you will be accessing a service provided by a third-party external to https://archiv.report.at/