Sinn führt zu Beginn aus, die Euro-Krise sei nie weg gewesen, es habe nur eine Verschiebung von Lasten und Risiken von den Kapitalanlegern aus aller Welt zu den Steuerzahlern der noch gesunden Euroländer gegeben: „Die Finanzmärkte haben sich beruhigt, weil die Steuerzahler in die Haftung genommen wurden.“
Während das OMT-Programm der EZB die Finanzmärkte beruhigt hat, hätten die Steuerzahler allen Grund, beunruhigt zu sein. Es sei gut, dass das Bundesverfassungsgericht über dessen Verfassungskonformität entscheiden wird. Sinn rechnet damit, dass es das OMT für verfassungswidrig erklärt und die Bundesbank daran hindert, mitzumachen.
Damit wird zwar nicht verhindert, dass die Bundesbank mit ihrem EZB-Anteil beteiligt ist, wenn die anderen Zentralbanken Schrottanleihen kaufen. Aber ein solches Urteil des BVG verändert nach Sinns Auffassung die politische Atmosphäre und dürfte die EZB veranlassen, von ihrer Politik Abstand zu nehmen. Das würde manche Krisenländer zu echten Reformen zwingen.
Darüber hinaus hätte das BVG auch die Möglichkeit, dem Bundestag aufzuerlegen, ESM-Mittel nur dann freizugeben, wenn sich die EZB zuvor von ihrem Programm verabschiedet. Es kann die Bundesregierung aber auch verpflichten, den Maastrichter Vertrag neu zu verhandeln.
Ein solches Urteil könnte zwar der Anfang vom Ende der Eurozone sein, meint Sinn, aber wahrscheinlicher sei eine Stärkung des Euro und seiner rechtlichen Basis. Das sei letztlich auch für die ökonomische Funktionsfähigkeit besser. Der Euro würde nämlich auf Dauer zerstört, wenn die Politik darauf besteht, dass kein Land den Euro verlassen kann und Länder durchfinanziert, die sich nicht an die Maastricht-Regeln halten. Der Euro könne langfristig nur überleben, wenn Länder austreten können, die nicht in die Währungsunion passen.
Griechenland gilt Sinn als Paradebeispiel für die bisherige verfehlte Rettungspolitik. Das Land wolle im Euro bleiben, weil es sich hier das Geld drucken kann, für das es auf den Märkten hohe Zinsen zahlen müsste, abgesehen von den Hilfsgeldern über die Rettungsschirme. Diese Mittel scheinen der griechischen Regierung wichtiger als Arbeitsplätze für ihre Bevölkerung.
Zum Thema Schuldenschnitt sagt Sinn, Griechenland sei außerstande, seine Schulden zurückzuzahlen. Das Land sollte einen Teil seiner Schulden erlassen bekommen. Danach dürften aber keine neuen Kredite vom EZB-System oder der Staatengemeinschaft mehr gewährt werden. Die zwangsläufige Folge sei der Austritt aus der Eurozone und eine kräftige Abwertung. Dadurch gewinnt das Land an Wettbewerbsfähigkeit und dadurch kann seine Arbeitslosenquote sinken.
Neben der Euro-Krise sieht Sinn in der demografischen Entwicklung eine große Gefahr. Die deutschen Babyboomer sind jetzt knapp 50 Jahre alt, die Jahrgänge danach immer dünner besetzt. Der Höhepunkt der demografischen Krise dürfte zwischen 2030 und 2035 liegen (dort, wo die offiziellen Projektionen aufhören…). Steuern oder Sozialabgaben müssten dramatisch angehoben werden, um die Renten der Babyboomer zu finanzieren, die dann doch weit unter dem heutigen Niveau liegen. Sinn nennt eine Anhebung der Rentenbeiträge um bis zu 50%.
Zu den Lasten der demographischen Entwicklung kämen die des Euro-Fehlschlags hinzu. Die Staatengemeinschaft und die EZB hätten die privaten Gläubiger der Südländer freigekauft und den Krisenländern über Jahre hinaus neuen Kredit gegeben. Jetzt sollen auch noch die Altlasten in den Bilanzen der südlichen Bankensysteme auf den Rettungsfonds ESM und damit auf die Steuerzahler abgeschoben werden (siehe z.B. hier!). Das könnte der teuerste Schritt überhaupt werden. Beides zusammen lässt einen gravierenden Verteilungskampf erwarten, so Sinn.
Bei der Eurokrise könne die Politik noch Weichen stellen, bei der demografischen Krise sei es aber gelaufen. Hierzu hätten in den 1980er Jahren Entscheidungen getroffen werden müssen. Die Politik reagiert eben meist erst, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, sagt Sinn. So wird sie dann vielleicht in 15 oder 20 Jahren Maßnahmen für eine höhere Geburtenrate treffen, die wiederum erst eine Generation später greifen.
So weit die Zusammenfassung des Interviews.
Die FAZ berichtet, die Ungleichgewichte in den Zahlungsbilanzen der Eurostaaten bilden sich nach und nach zurück, bleiben aber auf hohem Niveau. Die Target2-Salden waren bis zum Sommer 2012 stark angestiegen, danach sorgte die Ankündigung des OMT-Programms der EZB für einen Rückgang. Sie sind auch im Juni noch weiter gesunken, wenn auch nur wenig. So sind die Forderungen der Bundesbank gegen das Euro-System im Vergleich zum Vormonat von 589 auf 575 Mrd. Euro zurückgegangen, im August 2012 waren es 751 Mrd. Euro. Sie bleibt mit Abstand größter „Gläubiger“ des Eurosystems.
Sinn kommentiert: „Der absolute Rückgang der Target-Salden wird durch die Marktberuhigung durch das OMT, den Rückgang der Geldmenge seit dem Sommer 2012 und vor allem durch den Ersatz der Target-Kredite durch die Rettungskredite der Staatengemeinschaft erklärt, die die Salden unmittelbar eins zu eins reduzieren.“