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Neue Leute

Der Wirtschaft gehen die Fachkräfte aus.

Die Pensionierungswelle der geburtenstarken Jahrgänge kann spätestens ab 2020 nicht mehr ausbalanciert werden.

 

In vielen Branchen mangelt es schon jetzt an qualifizierten Arbeitskräften. Wie können Politik und Unternehmen diesem Trend entgegenwirken?

 

Die Zeit drängt. Soll die Wirtschaft weiter wachsen, werden in den nächsten beiden Jahrzehnten in Europa mehr als 45 Millionen zusätzliche Arbeitskräfte benötigt. In den USA fehlen bis 2030 mehr als 25 Millionen. Der weltweite Wettbewerb um die besten Köpfe hat längst begonnen – Österreich und Deutschland haben dabei punkto Attraktivität das Nachsehen. Zu diesem alarmierenden Ergebnis kommt die Studie »Global Talent Risk – Seven Responses« der Boston Consulting Group (BCG), die den weltweiten Bedarf von neun Berufsgruppen in 13 Branchen errechnete. Vor allem die Länder der nördlichen Hemisphäre haben mit einer sukzessiven Überalterung der Gesellschaft zu kämpfen. Die Pensionierung der sogenannten »Baby Boomer«-Generation, der geburtenstarken Jahrgänge, steht unmittelbar bevor. Diese Lücke kann weder durch Ausbildungsinitiativen noch durch ein höheres Pensionsantrittsalter gefüllt werden.  Österreich nahm an der Studie nicht teil, weshalb konkrete Zahlen für die einzelnen Berufsfelder fehlen. »Auch wir müssen mit dem demografischen Knick leben lernen«, meint aber Antonella Mei-Pochtler, Senior Partnerin bei BCG. Schon jetzt ist der Arbeitsmarkt überaltet: 2009 war der österreichische Arbeitnehmer im Durchschnitt 40 Jahre alt. Im Jahr 2020 wird die Zahl der jährlichen Pensionierungen um rund 56 Prozent höher sein als die Zahl junger Menschen, die in den Arbeitsmarkt eintreten. Die Mobilität von Fachkräften müsse drastisch steigen. Die Alpenrepublik sei deshalb gut beraten, »Arbeitskräfte für sich zu begeistern«, so Mei-Pochtler. »Österreich muss für eine bessere Aus- und Weiterbildung sorgen und den Standort für ausländische Arbeitnehmer attraktiv gestalten.«

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Bezüglich Integration besteht allerdings noch Nachholbedarf. In Österreich und Deutschland ortet die Unternehmensberaterin »eine gewisse Basisablehnung« gegenüber Ausländern, mit der sich auch BCG vor einiger Zeit selbst konfrontiert sah. Sechs Inder – »Topleute, sehr gebildet und freundlich«, erzählt Mei-Pochtler – wanderten schon nach wenigen Monaten in der Münchner Niederlassung weiter nach Kanada. Sie waren wegen ihrer dunkleren Hautfarbe mehrfach in der U-Bahn angepöbelt worden.

Nun leben sie mit ihren Familien in Québec. Die Provinz nimmt in der strategischen Anwerbung und Integration von ausländischen Arbeitskräften eine Vorreiterrolle ein. Durch die starken Geburtenrückgänge ist der Fachkräftemangel in Kanada schon jetzt ein reales Problem, auf das die Regierung frühzeitig reagieren musste. Mit Marketingmaßnahmen werden gezielt Talente angeworben. Die Vergabe von Arbeitsgenehmigungen erfolgt für gut Qualifizierte recht unbürokratisch, nach drei Jahren haben sie und ihre Familienangehörigen Anspruch auf Einbürgerung. 2010 holte die Regierung 250.000 Einwanderer ins Land. Noch am Flughafen erfolgt ein Beratungsgespräch über die nächsten Schritte im Integrationsprozess, inklusive gratis Sprachkurs. Nicht immer verläuft die Eingliederung ganz friktionsfrei – Schwierigkeiten gibt es teilweise auch hier mit muslimischen Einwanderergruppen, die häufig isoliert leben, sowie mit der Anerkennung von Ausbildungen. »Wenn Sie krank sind, gehen Sie zum nächsten Taxistandplatz«, lautet deshalb ein in den kanadischen Großstädten kursierender Scherz mit wahrem Kern. Doch die Regierung ist sich der Situation immerhin bewusst – die Anstoß zur BCG-Studie kam vom kanadischen Arbeits- und Wirtschaftsminister.

Auch China startete bereits eine »Thousand Talent Initiative«, um Fachkräfte mit finanziellen Anreizen, erstklassiger medizinischer Versorgung und Pensionsvorsorge ins Land zu locken. Durch die restriktive Ein-Kind-Politik hat das Reich der Mitte einen eklatanten Arbeitskräftemangel, der zunehmend die prosperierende Wirtschaft gefährdet. In Europa hat als einziges Land Frankreich bisher strategische Maßnahmen ergriffen. Andere Staaten setzen punktuelle Reize: Dänemark lockte vor kurzem in großen Stelleninseraten österreichische Mediziner – als Zuckerl winken Festanstellung,  Facharztausbildung und ein Intensivsprachkurs. Die Schweiz wirbt mit einer überdurchschnittlich hohen Bezahlung um Lehrkräfte.

Von der globalen Entwicklung weichen in den meisten Sparten vorerst nur die nordischen Länder sowie Indien positiv ab. Eine Verschärfung der Situation ist laut Studie dennoch bereits in Sicht: »Der Planungsengpass wird nicht mehr durch die betrieblichen Finanzmittel entstehen, sondern durch die fehlenden Top-Arbeitskräfte im Unternehmen«, sagt BCG-Senior Partnerin Mei-Pochtler.

Versorgungslücken

Das Angebot an Spitzenkräften ist nämlich begrenzt. »Besonders gefragt sind Leute mit zwei Studienabschlüssen oder MBA – nur eine kleine Gruppe entspricht diesen Anforderungen«, erklärt Mei-Pochtler. In Kanada stammen zehn Prozent der Akademiker ursprünglich aus dem Ausland. In Australien sind es acht Prozent, in den USA immerhin noch 4,5 Prozent. In Europa liegt dieser Wert bei nur zwei Prozent. Ändert sich nichts an der derzeitigen Situation, wird in Deutschland in zehn Jahren jede zehnte Stelle für Fachkräfte und Spezialisten unbesetzt bleiben, so die BCG-Experten.
Die südliche Hemisphäre verzeichnet zwar vergleichsweise geringe Rückgänge, aber von einem Überangebot an qualifizierten Arbeitskräften kann auch in den sich entwickelnden Ländern keine Rede sein. Die größten Versorgungslücken zeigen sich schon jetzt weltweit bei gut ausgebildeten Fachkräften, Technikern und Führungskräften, und zwar vor allem in der Bauwirtschaft, im Transportwesen und im Handel. Bedingt durch den zunehmend höheren Lebensstandard mangelt es gerade in den Schwellenländern wie den BRIC-Staaten an geeigneten Managern. Selbst in Brasilien, das in Bezug auf das Arbeitskräftepotenzial sonst recht gut aufgestellt ist, besteht großer Bedarf an technischem Servicepersonal.

Im Grunde verläuft aber der Fachkräftemangel quer durch alle Branchen. Die Produktentwicklung wird zunehmend komplexer, auch der Gesundheits- sowie der Bildungssektor gewinnen an Bedeutung. Gleichzeitig sinkt der Bedarf an ungelernten Hilfskräften jährlich um zwei bis vier Prozent. Rund ein Viertel der in Österreich beschäftigten Ausländer arbeitet aber als Hilfskraft, nur knapp 13 Prozent in technischen oder gleichrangigen Berufen und neun Prozent in der Wissenschaft.

Bildungsdefizite

Handlungsbedarf sieht BCG für Politik und Wirtschaft gleichermaßen. Basierend auf den Ergebnissen der Studie erstellten die Experten einen Maßnahmenplan (siehe Kasten), mit dem Regierung und Unternehmen der Entwicklung entgegensteuern können. »Die Unternehmen müssen sich klar über ihre Bedürfnisse sein und die Regierungen die Bildungsmaßnahmen darauf ausrichten«, umreißt Mei-Pochtler die künftigen Anforderungen. Um Lücken zwischen Arbeitskräfteangebot und -nachfrage frühzeitig zu erkennen, sei zunächst eine strategische Personalplanung vonnöten.
Viel zu tun gibt es im Ausbildungsbereich. »Die Basisbildungsangebote sind in Österreich nicht ausreichend, das Ausbildungsniveau wird durch den akuten Lehrermangel – vor allem in Mathematik und Physik – immer schlechter«, konstatiert die Unternehmensberaterin. Tatsächlich springen viele Studierenden inzwischen bereits lange vor Abschluss ihres Lehramtsstudiums ein, um die Engpässe an den Schulen notdürftig einzudämmen. Zwei Drittel der Studenten, die im Endstadium des Englisch-Studiums stehen, helfen mit teilweise hohen Lehrverpflichtungen aus. Im Fach Physik unterrichten ab dem vierten der neun Lehramtssemester nahezu alle Studierenden. Die Lehrergewerkschaft rechnet 2013, wenn aufgrund der auslaufenden Hacklerregelung die nächste große Pensionierungswelle ansteht, mit einem »Krisenjahr«.

Zuwanderer der zweiten und dritten Generation sind zudem von höheren Bildungsebenen meist abgeschnitten; ein deutliches Zeichen, dass die Integration nicht funktioniert. Laut einer Erhebung der KMU-Forschung Austria sind Jugendliche mit Migrationshintergrund unter den in Wien gemeldeten Arbeitslosen zwischen 15 und 21 Jahren stark überrepräsentiert. Trotz abgeschlossener Haupt­schule sprechen diese »Sorgenkinder« des Arbeitsmarktservice, wiewohl längst österreichische Staatsbürger oder sogar hier geboren, mitunter ein fehlerhaftes Deutsch. Ist das Bildungsniveau der Eltern niedrig, haben es die Kinder umso schwerer: Viele Migranten kommen über Generationen über die Pflichtschule nicht hinaus. Die Ergebnisse haben sich gegenüber der letzten Untersuchung von 2007 »nicht verbessert«, so die Studienautoren.

Grundsätzlich zu überdenken wäre deshalb die Migrationspolitik per se. Die neue Rot-Weiß-Rot-Card, die die Zuwanderung künftig nach einem Punktesystem regelt, sei »ein richtiger Schritt«, so Rainer Reich, CEO der Boston Consulting Group, folge aber der falschen Logik. Im internationalen Wettbewerb um die besten Talente stelle sich nämlich nicht mehr die Frage: »Wen wollen wir hereinlassen?«, sondern: »Wer will überhaupt noch nach Österreich kommen?«.

 

>> Sieben Maßnahmen:

1. Strategische Personalplanung: »Skill Cluster« für jede Berufsgruppe definieren und unter Berücksichtigung natürlicher Abgänge durch Pensionierungen etc. die zu erwartende Spanne zwischen Angebot und Nachfrage an Arbeitskräften hochrechnen.

2. Migrationsmöglichkeiten stärken: Nicht nur die Schleusen für den Arbeitsmarkt öffnen, sondern auch Integration fördern. Bildung ist die wichtigste Verbindungsklammer.

3. Länderübergreifender Wissenstransfer: Starke Mobilität in den obersten Ausbildungsstufen sicherstellen, Vernetzung mit Fachleuten im Ausland, Anerkennung von Qualifikationen und Abschlüssen.

4. Talente fördern: Möglichkeiten schaffen, die den Aufstieg nach oben, aber auch die Weiterentwicklung auf einer Ebene gewährleisten.

5. Mobilität anregen: Kontakte zum Ausland über Videokonferenzen und andere Kommunikationstechnologien pflegen.

6. Erweiterung des Talentepools: Frauen und ältere Arbeitnehmer stärker einbinden. Frauen sind überdurchschnittlich in den oberen Ausbildungsebenen vertreten, ihr Potenzial wird aber kaum genutzt. Durch zusätzliche Unterstützung während und nach der Babypause bleiben sie eher am Arbeitsmarkt aktiv.

7. Einsatzmöglichkeiten verbessern: Bildungsangebote schaffen, die das Eintauchen in Spezialgebiete ermöglichen.

 

>> Ostöffnung:

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit kommt spät. Ab 1. Mai dürfen Arbeitskräfte aus Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien, der Slowakei und der baltischen Staaten in Österreich uneingeschränkt beschäftigt werden. Der Ansturm dürfte sich aber in Grenzen halten: Das Sozialministerium rechnet mit 20.000 Arbeitnehmern aus den betreffenden Ländern, 69.000 Personen mit besonders gefragten Berufen wie Schweißer oder Köche arbeiten bereits jetzt in Österreich.

Im Gegensatz zu den anderen »alten« EU-Mitgliedstaaten haben Österreich und Deutschland die Übergangsfristen für Arbeitskräfte aus den neuen Beitrittsländern voll ausgeschöpft. »Es wird keine größere Völkerwanderung geben«, sagt Hermann Mairhofer, Vertriebsvorstand der Zeitarbeitsfirma Trenkwalder. Die mobilen Arbeitskräfte sind längst nach Großbritannien oder die Niederlande, die intensiv um Fachkräfte werben, abgewandert. Zudem trachten aufstrebende Oststaaten wie etwa Polen danach, ihre gut qualifizierten Leute im Land zu halten bzw. sie zurück in die Heimat zu holen. Von einem Fehler, in Österreich zu lange an der Freizügigkeit festgehalten zu haben, will Mairhofer dennoch nicht sprechen: »Wir sollten nicht nach Fehlern suchen, sondern die Chancen der Zukunft sehen.«

Die österreichischen Unternehmen benötigen die Fachkräfte aus dem Osten dringend. Laut einer im Auftrag von Trenkwalder erstellten Studie rechnen zwei Drittel der befragten Betriebe damit, von der Öffnung des Arbeitsmarktes profitieren zu können. 41 Prozent beschäftigen bereits Mitarbeiter aus den acht Ländern. 38 Prozent überlegen, entsprechende Bewerber anzustellen, sechs Prozent sind fest dazu entschlossen. Ein möglicher Kostenvorteil ist dabei nur für 14 Prozent der Unternehmen das Hauptmotiv: 31 Prozent möchten sich die Sprachkenntnisse der Mitarbeiter zunutze machen.

Einsparungen können sich aufgrund der rechtlichen Rahmenbedingungen nur bei den Lohnnebenkosten ergeben. Für Ausländer, die in Österreich beschäftigt werden, gilt der jeweilige österreichische Kollektivvertrag samt Sonderzahlungen, auch wenn der Firmensitz im Ausland liegt. Kontrollen sowie das neue Lohn- und Sozialdumpinggesetz sollen sicherstellen, dass diese Bestimmungen nicht unterlaufen werden. Bleiben die bürokratischen Hürden: Fachkräfte müssen erst um die Anerkennung ihrer Ausbildung ansuchen, bevor sie entsprechend ihrer Qualifikation in Österreich arbeiten dürfen. Lediglich mit Ungarn (sowie Deutschland und Südtirol) besteht ein Abkommen über die gegenseitige Anerkennung bestimmter Berufe.

 

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