Ich möchte im folgenden detaillierter auf einen zentralen Punkt im Fiskalpakt eingehen, gewissermaßen die Wurzel allen Übels. Der Fiskalpakt legt ein Defizitkriterium fest, das die Scheidelinie zwischen Sparen und Nicht-Sparen des Staates zieht: Jeder Vertragsstaat darf ein strukturelles (konjunkturbereinigtes) Defizit von nicht mehr als 0,5% des BIP aufweisen. Das Gesamtdefizit darf 3% nicht übersteigen.
Das strukturelle Defizit ergibt sich durch Subtraktion des konjunkturell bedingten Defizits vom Gesamtdefizit. Als konjunkturell bedingtes Defizit gilt die Hälfte der „Outputlücke“, der Differenz zwischen tatsächlichem und potentiellem BIP (Produktionsvolumen bei Vollauslastung aller Kapazitäten).
Das Stichwort „potentielles BIP“ weist schon darauf hin: Der „Potentialoutput“ kann nur geschätzt werden, indem vermutet wird, was eine Volkswirtschaft produzieren könnte, wenn die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital (Maschinen usw.) voll ausgelastet sind. Das ist bei der Kapitalseite, Maschinen, Anlagen usw. relativ gut möglich – jedes Unternehmen weiß, wie viele Einheiten in der gegebenen Fabrik produziert werden können und wie die Kapazität zu einem gegebenen Zeitpunkt ausgelastet ist.
Auf der Arbeitsseite gibt es zwar Arbeitslosenstatistiken. Aber hier spielt ein seinerzeit von Milton Friedman geprägter Begriff hinein, die sogenannte „natürliche Arbeitslosenquote“. Das dieser entsprechende BIP repräsentiert den Potentialoutput. „Natürlich“ legt zwar nahe, dass das entsprechende Niveau von Arbeitslosigkeit förmlich auf der Hand liegt, aber dem ist nicht so. Und so ist der Potentialoutput eine Schätzaufgabe mit großem Spielraum.
Das Konzept der “natürlichen” Arbeitslosigkeit diente und dient neoliberalen Ökonomen als zentrales Argument gegen den Keynesianismus. Wenn nämlich versucht wird, die Arbeitslosigkeit unter dieses „natürliche“ Niveau zu drücken, entsteht zunehmende Inflation, heißt es. Keynes hatte vorgeschlagen, zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit mit zusätzlicher Staatsverschuldung finanzierte „Konjunkturprogramme“ aufzulegen.
Je nach gewähltem Schätzverfahren, kommt man zu sehr unterschiedlichen, um nicht zu sagen, beliebigen Ergebnissen. Das zeigen folgende Beispiele.
Auf Grund des Defizitkriteriums muss Spanien nach Vorgabe der EU das Defizit von 8,5% auf 3% des BIP senken. Die EU-Kommission schätzt die Outputlücke auf nur 4,1%. Die strukturelle Verschuldung kommt somit auf rund 6,5% – das ist mehr als das zulässige Gesamtdefizit von 3%, also muss Spanien sparen. Bei bereits schrumpfender Wirtschaft beschleunigt sich die Talfahrt, das nominale BIP sinkt innerhalb von zwei bis drei Jahren um weitere (geschätzte) 10%. Dann schätzt die EU-Kommission die Outputlücke auf angenommene 6%, das konjunkturbedingte Defizit somit auf 3%. Bei einem Gesamtdefizit von 3% käme der strukturelle Saldo auf 0% (also unter 0,5%). Ziel erreicht, Heilung erfolgt, Patient tot!
Bei Spanien würde man angesichts der hohen Arbeitslosigkeit von 25% erwarten, dass die Outputlücke viel größer ist. Wenn sie nur so niedrig angesetzt wird, hat das zwei Konsequenzen: Erstens ist damit ein Großteil des spanischen Defizits strukturell und deswegen muss der Staat auch in der Rezession sparen, zweitens kann das nur bedeuten, dass die spanische Arbeitskraft viel zu teuer eingeschätzt wird.
Nach OECD beträgt die Outputlücke der spanischen Wirtschaft 6,1%, die strukturelle Verschuldung kommt danach nur auf rund 5,5%. Bei Griechenland schätzt die OECD die Lücke aktuell sogar auf 18,2%, es gäbe damit bereits jetzt einen strukturellen Budgetüberschuss von 2,0%. Die EU-Kommission sieht die Outputlücke jedoch bei 9,5% und damit das strukturelle Defizit bei 2,6%, das Defizitkriterium ist demnach also nicht erfüllt – es muss weiter gespart werden.
Zurück zu Spanien: Wenn das Land dann schließlich das Defizitkriterium erfüllt hat, kommt das Schuldenkriterium (60% des BIP) zum Zuge. Mit schrumpfender Wirtschaft und sinkenden Staatsausgaben ist die Staatsschuldenquote beispielsweise von 70 auf 90% angestiegen. Nach dem Schuldenkriterium muss der spanische Staat nun 20 Jahre lang 1,5% des BIP einsparen.
Mit dem Fiskalpakt sind Konjunkturprogramme nur noch sehr eingeschränkt möglich. Wenn in Krisen das BIP sinkt, wird auch der Potentialoutput niedriger eingeschätzt. Dadurch wird ein Teil des gestiegenen Defizits „strukturell“, das mit Sparen beantwortet werden muss. Letztlich läuft dann wieder der Kreislauf an, der über sinkenden Konsum zu weiterer Wachstumsschwäche führt.
Es ist prinzipiell richtig, dass der Potentialoutput in einer Krise sinkt. Das liegt u.a. daran, dass auch ungenutzte Produktionsmittel verschleißen. Zudem veralten sie, weil die technische Entwicklung in einer Krise weitergeht. Allerdings wirken diese Effekte mit zeitlicher Verzögerung und es ist schwer, sie genau zu bestimmen.
Stephan Schulmeister, Wirtschaftsforscher in Wien, weist zu Recht auf die Konsequenzen hin: „Es braucht nur genügend häufig Finanzkrisen geben und der Sozialstaat wird in Etappen abgebaut.“ Dabei geht es im Grunde nicht um den Abbau von sozialen Errungenschaften, sondern um die Umverteilung von Vermögen.
Immer wieder ist aus Brüssel das Argument zu hören, man müsse die „Märkte“ beruhigen, nur durch Spardisziplin könne man sich dem Zinsdiktat der „Märkte“ entziehen. Der in einer Demokratie eigentlich vorherrschende Primat der Politik, sprich des kollektiven Willens der Bürger, wird damit an den Nagel gehängt. Die Politik entmündigt sich, vor allem aber den Bürger, den Souverän. Das führt letztlich zu dem, worum das neoliberale Denken kreist, dem Markt in einer möglichst ungezügelten Form. Wirtschaftspolitik wird auf ein paar Regeln reduziert, die man auch von einem Computer abarbeiten lassen kann.
Ein Wirtschaftssystem ist aber dazu da, die Bedürfnisse der Bürger zu befriedigen, nicht die der Banken. Wirtschaft besteht zur Hälfte aus ökonomischen Gesetzen, zur anderen Hälfte aus Menschen. Diese Hälfte sollte die Wirtschaft aktiv gestalten, nicht umgekehrt. Wenn man Auto fährt, nimmt man die Hände ja auch nicht vom Lenkrad.
Natürlich sind die erreichten Schuldenstände unhaltbar. Sie sind unhaltbar geworden, weil das neoliberale Denken die Köpfe in Brüssel und anderswo schon lange befallen hat. Jetzt wollen dieselben Köpfe, die diesen Schlamassel herbeigeführt haben (u.a. durch Bruch der Maastrichter Schuldenkriterien und systematische “Deregulierung”) wissen, wie es richtig geht?
Als die Staaten 2008 auch noch begonnen haben, Banken zu retten, wurde der Grundstein für die heutige Staatssolvenzkrise gelegt. Aber die Bankenrettungen gehen munter weiter – demnächst auch noch via ESM. Genau hier sollte man mal endlich sparen. Man darf gespannt sein, wie die Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen ESM und Fiskalpakt weitergehen.
EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia gibt schon mal einen kleinen Ausblick auf das, was mit der nächsten Bankenrettung auf uns zukommt (h/t Eurointelligence): Er schätzt die totalen Kosten aller EU-weiten Bankenrettungen auf 4 bis 5 % des EU-BIP. Die Summe der Garantien werde auf etwa 10% des BIP-27 kommen (2011: 12,64 Bill. Euro; Eurozonen-BIP (17 Länder) 9,4 Bill. Euro). Da nach den neuen EU-Beschlüssen Banken vom ESM direkt gerettet werden können sollen: Das alleine entspricht dem anfänglich angesetzten Kapital des ESM voll. Und dann sollen auch noch PIIGS gerettet werden…
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