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Aufbruch in die neue Wirklichkeit

Aufbruch  in die neue  Wirklichkeit Foto: iStock

Virtual und Augmented Reality sind längst viel mehr als eine lustige Computerspielerei. Ob Produktion, Bildung oder Seniorenheim – die Technologie hält Einzug in viele Bereiche unseres Alltags.

1968 entwickelte der Harvard-Student Ivan Sutherland das Headset »Sword of Damocles« – ein am Kopf getragenes visuelles Gerät, das am Rechner erzeugte Daten und Bilder auf dem integrierten Display einblenden konnte. Die Brille ist den heute üblichen VR-Geräten nicht unähnlich, auch am Prinzip hat sich wenig geändert. »Ich gab mir für die Lösung des Problems ein Jahr und ich konnte ja nicht wissen, wie kompliziert die Sache werden würde«, erzählte der VR-Pionier später in einem Interview. Obwohl er erst ein Jahr zuvor mit der Arbeit daran begonnen hatte, meisterte Sutherland mit seiner Erfindung gleich drei Herausforderungen: Er schuf das erste interaktive Computer-Grafikprogramm, eine nicht-prozedurale Programmiersprache und das erste objektorientierte Softwaresystem.

Die US-Raumfahrtbehörde NASA erkannte das Potenzial und verwendete das System in einer multi-sensorischen Workstation, in der Astronauten für Arbeiten im Weltall trainieren konnten. Doch während praktikable Lösungen für die Industrie aufgrund mangelnder Rechenleistung und Hardware noch auf sich warten ließen, nutzte die Unterhaltungsbranche rasch die vielfältigen Möglichkeiten der neuen Technologie. In den frühen 1990er-Jahren kamen mehrere Head-Mounted-Displays für Spielekonsolen auf den Markt, die Grafiken, Sound und Bewegungsimpulse mithilfe von Virtual Reality in Videospiele implementierten.

Zeitreise in die Vergangenheit

Der große Hype um VR und AR ist zwar inzwischen abgeebbt, doch die Technologie etabliert sich – gut 50 Jahre nach ihrer Erfindung – in vielen Bereichen unseres Lebens zum Standard. Mediziner reisen in die Körper ihrer Patienten, Piloten lassen sich durch Nebel und Gewitter leiten, Möbelhäuser und Immobilienmakler bieten virtuelle Rundgänge durch Räumlichkeiten und Touristen besichtigen Museen und Bauwerke in aller Welt, ohne tatsächlich vor Ort zu sein.

In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos fand knapp die Hälfte der Befragten die Vorstellung ansprechend, künftig Kleidungsstücke virtuell anzuprobieren. Via Mixed-Reality-Brille könnten KundInnen durch Showrooms flanieren und sich Zusatzinformationen über die Produkte einblenden lassen. Das Konsumerlebnis wird neu definiert.

Bei lauter Begeisterung für die Technologie gilt es aber die sozialen Bedürfnisse nicht aus den Augen zu verlieren. Weniger physischer Kontakt bedeutet in der Regel auch weniger direkte Kommunikation – die zwischenmenschliche Interaktion nimmt ab.

Virtual Reality kann jedoch auch genau das Gegenteil bewirken, wie das Projekt »Emotionale Zeitreise« des Kuratoriums Wiener Pensionisten-Wohnhäuser (KWP) anschaulich zeigt. In vier der Wiener »Häuser zum Leben« kamen im Sommer 2019 erstmals VR-Brillen bei demenzkranken Bewohnerinnen und Bewohnern zum Einsatz. Die Betroffenen leiden an fortschreitenden Gedächtnisstörungen und dem allmählichen Verlust ihres Denkvermögens. In der Betreuung und Pflege gewinnt daher die Erinnerungsarbeit immer mehr an Bedeutung, denn das aktuelle Erleben ist durch vergangene Erfahrungen geprägt.



Bild: Die VR-Brille ermöglicht durch spezielle, biografiebezogene virtuelle Realitäten den BewohnerInnen Teilhabe an ihrem sozialen Umfeld. 

Die VR-Brille ermöglicht den SeniorInnen, durch biografiebezogene virtuelle Realitäten an ihrem sozialen Umfeld wieder am Leben teilzuhaben. Vor allem in den ersten beiden Phasen der Erkrankung, wenn das Kurzzeitgedächtnis auffallend stark nachlässt, lassen sich damit Brücken zur Gegenwart schlagen. Für alle BewohnerInnen werden individuell 360-Grad-Bilder von früheren Wohnorten, Lieblingsplätzen oder Sehenswürdigkeiten aufgenommen, die positive Emotionen wecken und Vertrauen und Sicherheit schaffen.

»Viele BewohnerInnen, die wir mit unserer gewohnten Aktivierungsarbeit nicht mehr aus der Apathie holen konnten, leben auf einmal wieder auf. Die Krankheit wird für einen Moment vergessen«, berichtet Amila Crnalic, Direktorin des Hauses Döbling. Wegen der positiven Resonanz soll das Pilotprojekt 2020 auf alle 30 Pensionisten-Wohnhäuser ausgeweitet werden, erklärt IKT-Teamleiterin Nicole Jagodic: »Mit der neuen Technologie holen wir die Welt zu unseren BewohnerInnen direkt ins Haus. Menschen, die nicht mehr mobil sind, bringen wir mittels der VR-Brille an Orte, die für sie sonst nicht mehr erreichbar wären.«

Lücke schließen

Im Zuge von Big Data sind zunehmend Lösungen gefragt, die die Suche von Informationen erleichtern und Zeit sparen. In der Logistik hat sich der Einsatz von VR-Brillen längst bewährt. Bei der Kommissionierung muss der Mitarbeiter bzw. die Mitarbeiterin die Waren nicht mehr manuell verbuchen – der in die Brillen eingebaute Barcode-Scanner erfasst automatisch den Code und sendet ihn direkt an das MES-System.



Bild: Microsoft HoloLens-Brille bei Greiner im Einsatz

Virtual und Augmented Reality schließen die Lücke zwischen Darstellung und Sensorik. Indem Simulationsverfahren und 3D-Modelle durch den Faktor Interaktion bereichert werden, erschließen sich komplexe Anwendungen auch für Laien leichter. Für den Bildungsbereich eröffnet dieses unmittelbare Erleben, ergänzt durch eine spielerische Komponente, neue Perspektiven in der Wissensvermittlung.

Der Digitalisierungsspezialist TietoEVRY Austria unterstützte den oberösterreichischen Kunststoffhersteller Greiner bei der Ausstattung des neuen Ausbildungszentrums mit einer innovativen Mixed-Reality-Anwendung. Lehrlinge können sich mit einer Microsoft HoloLens auf einen virtuellen Maschinenrundgang begeben. In die Datenbrille werden interaktive 3D-Hologramme mit zu den Maschinen passenden Inhalten eingeblendet, z.B. Videos, Texte oder Animationen. Im Modus für die Projektion einer komplett virtuellen Maschine als 3D-Modell lernen die Auszubildenden den Umgang mit Maschinen, was zur Reduzierung der Fehlerquoten beiträgt.

Das neue Tool erfreut sich bei den Lehrlingen großer Beliebtheit »und macht das Näherbringen von komplexen Inhalten um vieles leichter«, bestätigt Bruno Klampferer, Leiter des Greiner Ausbildungszentrums. »Die Nachfrage nach Augmented- und Mixed Reality-Lösungen ist ungebrochen und wird von Industrieunternehmen auch in Zukunft immer stärker nachgefragt werden«, ist Helmut Krämer, Senior Software Architect bei Tieto Austria, überzeugt.

Zwei Welten

Die Grazer Softwareschmiede CodeFlügel verleiht Industrieunternehmen mithilfe von Augmented Reality virtuelle »Flügel«. Für das Safety-Projekt der Siemens AG entwickelte das Unternehmen eine Kombination aus HoloLens und 3D-Kamera – in erster Linie zur Schulung von MitarbeiterInnen, um Unfälle und Maschinenstillstände zu vermeiden. 

Für CodeFlügel-Gründer Claus Degendorfer ist Augmented Reality »gekommen, um zu bleiben«. Um das Sicherheitsprogramm auf Messen zu veranschaulichen, setzten es die Tüftler von CodeFlügel in eine XR-Anwendung um. In drei verschiedenen Szenarien kann der HoloLens-Träger selbst erfahren, welche Auswirkungen das Eintreten in den Sicherheitsradius der Maschine hat. Den Auftraggeber überzeugten nicht nur die eingesparten Transportkosten: »Das XR-Sicherheitsprojekt war ein Besuchermagnet für den Siemens-Messestand auf der Hannover Messe 2019. Wir konnten auf das Ausstellen der Maschinen verzichten und generierten nachweislich um 28 % mehr Leads.«

Seit der Einführung von Microsoft HoloLens im Jahr 2016 hat die Mixed-Reality-Technologie die Arbeitsweise vieler Branchen verändert, indem sie die physische Welt mit der virtuellen Realität verbindet. Die zweite Generation des Geräts, seit November 2019 auf dem Markt, besticht durch ein mehr als doppelt so großes Sichtfeld und deutlich verbesserten Tragekomfort und erlaubt eine intuitivere Interaktion mit Hologrammen. Das Sammeln und Verarbeiten von Informationen ist auch ohne Internetverbindung über die Cloud möglich – quasi unabhängig von Raum und Zeit.

Für morgen gerüstet

Die Wiener Linien holen sich Expertise vom Wiener Startup 3D-Macher, um mittels Augmented Reality künftig Wartungsarbeiten zu erleichtern. Die AR-Brille zeigt dem Monteur über eine eigens dafür entwickelte App eine Schritt-für-Schritt-Anleitung samt aller für den Vorgang notwendigen Informationen an. »Somit hat der Benutzer die Hände frei zum Arbeiten«, erklärt Michael Seidl, Geschäftsführer von 3D-Macher.



Bild: Montage eines Erdungskontaktes am Drehgestell der U6 mit Hilfe von Augmented Reality bei den Wiener Linien.

Die erste Anwendung betrifft die Montage eines Erdungskontaktes an U-Bahn-Drehgestellen und soll vorerst nur für Schulungen verwendet werden. Der Prototyp wurde auf Open-Source-Basis erstellt und ist für alle Devices nutzbar. Weitere Anwendungsfälle sind bereits in Planung – neben den Bereichen Kalibrierung und Qualitätssicherung ist für die Wiener Linien auch der Einsatz im Marketing und Recruiting eine Option.

»Wir sind noch ganz Anfang der Reise. Mixed Reality birgt für uns viele unterschiedliche Anwendungsgebiete. Wir sind gerade dabei auszuloten, wohin die Reise gehen soll«, erklärt Wiener Linien-Geschäftsführer Günter Steinbauer mit vorausschauendem Blick auf zukünftige Herausforderungen: »Jugendliche wachsen mit diesen Technologien auf. So müssen auch wir Maßnahmen ergreifen, damit wir ein attraktiver Arbeitgeber für zukünftige Talente sind.«


Glossar

1. Virtual Reality: ist die Echtzeit-Darstellung einer interaktiven, virtuellen Welt durch ein Computerprogramm. Bekannt wurde diese Technologie zunächst durch Videospiele: Gamer tauchen komplett in eine neue Spielewelt ein. Aber auch in der Arbeitswelt kommt VR zunehmend zum Einsatz. In der Bedienungssimulation z.B. von Flugzeugen oder Baukranen können MitarbeiterInnen den Umgang mit den Maschinen risikofrei trainieren. ÄrztInnen erproben neue Operationsmethoden. Im F&E-Bereich bietet sich die kostengünstige Erprobung von Prototypen an. ImmobilienmaklerInnen und Kaufhäuser können ihre KundInnen virtuell durch die Räumlichkeiten schlendern lassen.

2. Augmented Reality: bedeutet erweiterte Realität – anders als in einer rein virtuellen Welt nehmen NutzerInnen die physische Welt trotzdem wahr und bekommen über eine App, eine Brille oder ein Holografie-System zusätzliche Informationen eingeblendet. Mögliche Anwendungsfelder sind die Einrichtungsplanung, Reparatur- und Montageanleitungen sowie Lager- und Distributionssysteme.

3. Mixed Reality: koppelt die natürliche Wahrnehmung der NutzerInnen mit künstlichen, computererzeugten 2D- und 3D-Objekten. Um in dieser »vermischten Realität« interagieren zu können, sind spezielle Brillen wie die Microsoft HoloLens erforderlich. Sensoren erfassen die Umwelt und die genaue Positionierung, wodurch eine Interaktion zwischen virtuellen und realen Objekten möglich wird. Die Steuerung erfolgt durch Spracherkennung und Gestenerkennung mittels eines integrierten Kamerasystems. Primär ist die Technologie für die Wartung oder in Showrooms gedacht, aber auch auf der internationalen Raumstation ISS kommt sie bereits zum Einsatz.

Last modified onMontag, 06 Juli 2020 10:18
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