"Der Ausgangspunkt ist eine banale Zahnbürste"
- Written by Martin Szelgrad
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Digitale Transformation der Industrie: Report Plus sprach mit Fraunhofer-Austria-Geschäftsführer Univ. Prof. Wilfried Sihn, Leiter des Instituts für Managementwissenschaften der TU Wien, über die Geschäftstätigkeit von Fraunhofer in Österreich und künftige Trends in der Wirtschaft.
(+) plus: Fraunhofer ist eine der großen internationalen Marken in der Forschung. Was charakterisiert Ihr Gebiet angewandte Forschung?
Wilfried Sihn: Im Gegensatz zu einer reinen Grundlagenforschung an Universitäten oder Max-Planck-Instituten betreiben wir ausschließlich angewandte Forschung. Damit befinden wir uns an einer Schnittstelle, Grundlagen und Ideen in markttaugliche Produkte und Prozesse umzusetzen.
Erfolgreichstes Produkt von Fraunhofer ist MP3 mit jährlichen Patenteinnahmen von rund 80 Millionen Euro über knapp 19 Jahre. Der Verschlüsselungsmechanismus für Musikdateien ohne wesentlichen Qualitätsverlust ist ein gutes Beispiel für das Zusammenspiel von Grundlagenforschung, Anwendungsorientierung und erfolgreiche Produkte: Für sich alleine hatte MP3 noch wenig Marktnutzen, wenn nicht Unternehmen gemeinsam mit uns konkrete Anwendungsmöglichkeiten wie zum Beispiel den mobilen CD-Player weiterentwickelt hätten. So entstehen Innovation und Fortschritt, damit werden Arbeitsplätze geschaffen und gesichert.
(+) plus: Wie sehen die thematischen Schwerpunkte von Fraunhofer in Österreich aus? Wie ist Ihr persönlicher Hintergrund?
Sihn: Auch wenn viele von dem einen »Fraunhofer Institut« sprechen – tatsächlich gibt es 68 davon, mit der Fraunhofer Gesellschaft als Dachorganisation. Jedes Institut hat einen bestimmten Fokus aus dem Bereich Natur oder Ingenieurswissenschaften. Den Begriff des Instituts gibt es allerdings nur in Deutschland, außerhalb sind es unterschiedliche Organisationsformen, im Falle Österreichs ist es eine GmbH.
Wir peilen dieses Jahr mit rund 100 Projekten rund fünf Millionen Euro Umsatz in Österreich an. Unsere Arbeiten werden zum Großteil mit kleinen und mittelständischen Unternehmen umgesetzt – von Bäckereien über Süßwarenproduzenten bis zum Speckproduzenten, von Elektronik- und Maschinenbauunternehmen und vielen weiteren vornehmlich industrienahen Betrieben.
Ich selbst war 23 Jahre am Institut für Produktionstechnik und Automatisierung bei Fraunhofer in Stuttgart tätig und kam vor 14 Jahren nach Österreich, um hier das Thema Produktions- und Logistikmanagement aufzubauen. Unsere Agenda ist, durch verschiedenste Methoden – Tools und Vorgehensweisen – dafür zu sorgen, dass produzierende Unternehmen auf dem Stand der Technik sind. Im Moment sind ja die Themen Industrie 4.0 und Digitalisierung in aller Munde.
Im Jahr 2006 ist dann unsere Grazer Dependance dazugekommen, damit hat Fraunhofer Österreich heute zwei Geschäftsbereiche. Mein Kollege Dieter Fellner leitet das Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung IGD in Darmstadt mit über 500 Mitarbeitern und hat einen Lehrstuhl an der TH Darmstadt. Er hat auch die Leitung des Standorts Graz mit dem Schwerpunkt Visual Computing inne.Gerade diese internationale Vernetzung ist ein großer Vorteil, den wir mit unseren Leistungen bieten können.
(+) plus: Wird es bei diesen beiden Standorten in Österreich bleiben?
Sihn: Vor gut einem Jahr haben wir eine weitere Aktivität in Tirol begonnen. Ziel ist, in drei bis fünf Jahren einen eigenen, dritten Geschäftsbereich unter dem Titel »Digitale Transformation der Industrie« zu etablieren. Ich bin gerade dabei, mit der Universität in Innsbruck einen entsprechenden Leiter zu finden. Es ist ein Teil unseres Erfolgsmodells, dass die Leiter der Standorte gleichzeitig auch einen Lehrstuhl an einer Universität haben. Gut drei Viertel meiner Mitarbeiter waren einmal meine Studenten. Unsere Studenten erhalten schon während des Studiums die Chance, bei Fraunhofer zu arbeiten.
(+) plus: Was wird die technologische Entwicklung der Industrie in Europa in künftigen Jahren prägen?
Sihn: Wir denken bereits über die Digitalisierung hinaus und sehen parallel dazu als nächsten Schritt eine »Biologisierung« der Produktion. Dabei werden die technologischen Möglichkeiten der Digitalisierung für Anknüpfungen an die Erfolgsstrategien in der biologischen Welt genutzt. Teilweise gibt es ja bereits Entwicklungen wie Haifischhaut bei Flugzeugen, Schwarmintelligenz und den Perl-Effekt auf Oberflächen von Produkten. Das kann man aber noch deutlich verstärken: Begriffe wie Flexibilität, Wandlungsfähigkeit und Agilität sind unmittelbar mit der Natur verbunden.
Wenn Sie einen Hortensienstock in die pralle Sonne stellen oder zu wenig gießen, reagiert er augenblicklich. Mit dieser Schnelligkeit werden auch Unternehmensorganisationen – die heute noch starr und unbeweglich sind – zukünftig auf Veränderungen reagieren müssen.
Als zweites großes Thema sehen wir in Zukunft eine Ressourcenneutralität in der Wirtschaft. Dies betrifft Nachhaltigkeit auf allen Ebenen, nicht nur bei Energie. Am Strommarkt ist es heute bereits üblich, »grünen« Strom und – wenn das nicht möglich ist – CO2-Zertifikate zu handeln. Diese Marktmechanismen werden auf allen Ebenen der Wertschöpfungsketten und über das Thema Energieeffizienz hinaus in Richtung Ressourcenneutralität zu finden sein.
Nun gilt es, den Blumenstrauß an Technologiemöglichkeiten, den wir heute bereits haben, entlang den Themen Digitalisierung und Biologisierung umzusetzen. Nur so werden wir das Thema Nachhaltigkeit mit dem Klimawandel im Hintergrund in den Griff bekommen.
(+) plus: Was ist für Sie der wesentlichste Punkt der Digitalisierung? Lässt sich das verallgemeinern?
Sihn: Die Digitalisierung hat viel mit Daten zu tun. Diese werden heute schon in großen Mengen produziert, aber zu 99 Prozent nicht genutzt. In der Masse sind die Daten nutzlos, wenn sie nicht entsprechend transformiert werden. Die Zauberformel der Zukunft, »Transformation of Big Data into Smart Information«, beschreibt den Themenblock Data Analytics und Data Science. Und natürlich wird das Datenwachstum weitergehen und Produkte und Prozesse betreffen, die heute noch kaum digitalisiert sind.
Ich nehme als Beispiel eine elektrische Zahnbürste: Mit Sensoren ausgestattet und drahtloser Datenübertragung könnte ich mein Zahnputzverhalten nicht nur auf einer App visualisieren, sondern vielleicht auch der Krankenkasse für bessere Versicherungskonditionen zu Verfügung stellen. Wenn ich das Ganze dann auch noch mit einer Anwendung für meine Kinder kopple und die Info zum wöchentlichen Putzverhalten aufbereite, werden sie extra motiviert, zu putzen. Und ich denke noch einen Schritt weiter: Ein Mensch verlässt statistisch gesehen durchschnittlich 17,5 Minuten, nachdem er die Zähne geputzt hat, das Haus. Damit kann ich diese Daten auch an Transportdienstleister verkaufen, die damit ihre Services optimieren können. Ausgangspunkt für all diese Dienstleistungen und Prozesse ist die eigentlich banale Zahnbürste.
Es ist ein Paradebeispiel, wie man mit einem eigentlich dummen Objekt Geld verdienen kann. Es müssen dazu natürlich völlig neue Kanäle geschaffen werden, die man sich heute noch gar nicht vorstellen kann.