Evidenzbasierte Politik
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Vom restlichen Europa weitgehend unbemerkt hat die britische Regierung eine bemerkenswerte Initiative ins Leben gerufen. Im Rahmen einer groß angelegten Verwaltungsreform erhält das neu geschaffene »What Works Network« die Aufgabe, »robuste, umfassende Evidenz zur Verfügung zu stellen, um die Entscheidungsfindung betreffend der £200 Milliarden an öffentlichen Ausgaben zu lenken«. Damit könnte Pragmatik stärker an die Stelle von Ideologie treten. Ein Gastbeitrag von Josef Lentsch.
Die Initiative »What Works Network« ist gleich in mehrerlei Hinsicht bedeutsam: Die regierende konservativ-liberale Koalition setzt ein Projekt um, das von Labour unter Tony Blair begonnen wurde. Dass es den Briten ernst ist, zeigt auch, dass das Projekt geführt wird von George Osbornes mächtigem Treasury Department. Tatsächlich könnte Großbritannien damit die weltweite Führung übernehmen in der »Evidenzbasierten Politik«.
>> Was zählt, ist, was wirkt <<
Evidenzbasierte Politik (EBP) beschäftigt sich an der Schnittstelle von Politik und Wissenschaft mit der Frage, wie Forschung für politische Entscheider leichter verfügbar und relevanter gemacht werden kann, um die Qualität der politischen Debatte und die »Treffsicherheit« der Politik zu erhöhen. Pragmatik (»Was wirkt?«) sticht Ideologie. Der Weg zum Ziel sind bessere Gesetze. Zentral ist dabei die Einbeziehung neuester Erkenntnisse aus Wissenschaften wie der Psychologie, Soziologie, Anthropologie, der Verhaltensökonomie etc. Statt der Meinung der Wähler wird ihr Verhalten erforscht – ein großer Schritt vorwärts, denn wie wir aus der Forschung wissen, hängen Einstellung und Verhalten nur wenig zusammen. Dass der Ansatz im deutschen Sprachraum gerade erst ankommt, zeigt eine einschlägige Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2008: Sie wurde ganze vier Mal zitiert.
Im angloamerikanischen Raum mit seiner starken pragmatischen Tradition hat EBP eine längere Geschichte. John Maynard Keynes kann als einer ihrer geistigen Gründerväter betrachtet werden. Über den Umweg der evidenzbasierten Medizin und evidenzbasierter internationalen Entwicklungspolitik sind in den letzten Jahren die heftig umstrittenen Felder Sozialpolitik und Bildung immer mehr in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Ein faszinierendes Beispiel ist das Opportunidades-Sozialprogramm der mexikanischen Regierung, das Geldtransfers an die vier Millionen teilnehmenden Haushalte an Indikatoren wie regelmäßigen Schulbesuch knüpft und damit erwiesen erfolgreich sowohl Bildung verbessert als auch Armut bekämpft.
Im Falle von Opportunidades kam der Goldstandard der angewandten Forschung zum Einsatz: randomisierte kontrollierte Studien. Diese liefern das am besten abgesicherte Wissen, sind aber aufwendig und damit teuer. Hohe Kosten sind auch einer der Hauptkritikpunkte an EBP. Tatsächlich kosten großflächige randomisierte Experimente oft hunderttausende Euro und mehr. Das Zauberwort hier ist aber Kosteneffektivität: Angesichts von wirkungslosen oder kontraproduktiven Gesetzen, deren Umsetzung Milliarden Euro kosten kann, kann man EBP getrost als gut investiertes Geld betrachten.
>> Milliardengrab Sozialpolitik <<
Dazu zwei aktuelle Beispiele aus dem ideologischen Minenfeld Familienpolitik: In Deutschland habe jahrelanges Herumdoktern mit Förderungen weder zu mehr Nachwuchs noch zu sonstigen erwünschten Effekten geführt, schrieb das Hamburger Abendblatt letzte Woche. Die investierten Milliarden seien einfach verpufft. Noch drastischer die Evidenz zum steuerlichen Ehegatten-Splitting: Es sei kontraproduktiv und ein großes Hemmnis bei der Erwerbsbeteiligung verheirateter Frauen, so das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung.
Derlei politische Maßnahmen vorab kontrollierten Experimenten zu unterziehen, würde viel Zeit und Geld sparen. Politik würde effizienter und damit glaubwürdiger werden. In Großbritannien wurde beispielsweise der Working Families Tax Credit, eine Maßnahme zur Erhöhung der Attraktivität zur Arbeitsaufnahme im Niedriglohnbereich, 1999 nach umfangreicher internationaler Vergleichsforschung und einer sechs Monate langen Simulationsphase eingeführt. Es war keinerlei Nachjustierung mehr notwendig.
Zudem braucht es nicht gleich für alles ein Experiment: Ein erster Schritt in Richtung mehr Berücksichtigung von Evidenz in der österreichischen Politik wäre etwa die Einrichtung eines parlamentarischen wissenschaftlichen Dienstes.
>> Wer wacht über die Wächter? <<
Neben der finanziellen Kritik werden oft noch zwei weitere Argumente gegen EBP ins Rennen geführt. Wenn wir nur noch von Evidenz regiert werden, wer braucht dann noch gewählte Politiker, und wer wacht über die Wächter? Die Letztentscheidung hat natürlich auch bei einer verstärkten »Lenkung« durch Evidenz wie in Großbritannien weiterhin bei den Volksvertretern zu liegen. Gleichzeitig kann EBP die Qualität der politischen Debatte erhöhen, indem zumindest ein komplettes Außer-Acht-Lassen von Evidenz verunmöglicht wird. Ein Beispiel dafür wäre die Erfordernis, bei Regelungen ab einer bestimmten Größenordnung im Vorhinein ein Mindestmaß an Wirkungsnachweis zu erbringen. Derlei Ideen werden in Kabinettskreisen in Großbritannien zumindest in Erwägung gezogen.
Die andere Kritik geht in die genau entgegengesetzte Richtung: EBP hätte in der Praxis keine Wirkung. Das läge an der Komplexität der politischen Prozesse, und je nach Interpretation an der Beratungsresistenz der Politiker oder der Beratungsunfähigkeit der Experten. Diese defätistische Kritik hört man besonders oft im deutschen Sprachraum, der derzeit noch durch eine Übermacht der traditionellen Parteien sowie ein weitgehendes Fehlen anwendungsorientierter zivilgesellschaftlicher Vermittler, etwa in der Form von unabhängigen Thinktanks, gekennzeichnet ist. Genau dies ist aber Teil des Problems: Für echte Innovation braucht es neue Politiker und Führungskräfte, die ohne ideologische Scheuklappen in komplexen Systemen denken und handeln können und die in der Lage sind, das qualitätssteigernde Potenzial von EBP zu nutzen. Solche Menschen und neuen Institutionen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik wird es brauchen, um im gemeinsamen Interesse evidenzbasierte Politik zu machen.
>> Zum Autor:
Josef Lentsch ist Director International der Royal Society for the Encouragement of Arts, Manufactures and Commerce (RSA) in London, und Vorstandsmitglied von NEOS – Das neue Österreich.