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Ostfantasien

\"wachstumsmarktWo vor 15 Jahren Aufbruchstimmung herrschte, hat sich teilweise große Ernüchterung breit gemacht. Nicht für alle Unternehmen verlief das Ost-Abenteuer erfolgreich, dennoch entwickelte sich der CEE-Raum zum Wachstumsmotor für ganz Europa. Die Zukunft liegt jedoch in den BRIC-Staaten – und in der Türkei.

Anfang der 90er-Jahre war Österreich ein Dorf. Das Tor zur Welt, zumindest nach Europa, öffnete sich 1995 durch den EU-Beitritt. Dass die Mitgliedschaft in der europäischen Staatengemeinschaft noch heute die Emotionen an den Stammtischen zum Kochen bringt, ist eine geradezu typisch österreichische Abwehrreaktion. Die Unternehmen, allen voran Banken und Versicherungen, wussten aber längst, welche Chancen sich durch den Beitritt für Österreich ergeben würden – und zwar nicht vornehmlich in der »alten« EU, sondern in den erwachenden Reformstaaten Osteuropas, in die sie schon bald nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Fühler ausgestreckt hatten. Bis zur EU-Osterweiterung 2004 mauserten sich acht ehemals kommunistische Staaten zu reifen Mitgliedsländern, 2007 folgten Rumänien und Bulgarien. Jahrelang glänzte die Region mit zweistelligen Wachstumsraten, Deutschland und Österreich profitierten von dem scheinbar unstillbaren Aufholbedarf wie kein anderes europäisches Land. Schon 2006 verdiente Österreich jeden fünften Euro im Außenhandel in den Ländern Mittel- und Osteuropas. Seit 1990 hatte sich das Exportvolumen auf mehr als 27 Milliarden Euro verachtfacht – bis 2008.

Hätte der Bankencrash nicht auch Europa wie ein Keulenschlag getroffen, es wäre  noch lange so weitergegangen. Aushaftende Kredite in Milliardenhöhe trieben große Hoffnungsmärkte wie Ungarn oder Rumänien an den Rand des Ruins. Vor allem die Maschinenbauindustrie erlebte einen massiven Einbruch. Hatten heimische Unternehmen wie die Andritz-Gruppe oder die Binder+Co AG noch 2008 Maschinen im Wert von über zehn Millionen Euro in den Osten geliefert, waren es 2009 schlagartig um ein Drittel weniger. Die schleppende Konjunkturentwicklung in den westeuropäischen Staaten macht der exportorientierten CEE-Region bis heute zu schaffen. Einzig Musterschüler Polen trotzte der Rezession und schaffte 2009 als einziges EU-Land ein Wirtschaftswachstum von 1,7 Prozent. Insgesamt steht der Osten Europas trotz der Währungsturbulenzen stabiler da als so manches »alte« EU-Mitglied.

Schwaches Zugpferd

Heute liegt das Wachstum in der gesam­ten CEE-Region bereits wieder zwei Prozentpunkte über jenem des Westens. Gerade jetzt sei der richtige Zeitpunkt für Investitionen, meint Ostpionier Herbert Stepic, Chef der Raiffeisen Bank International. Doch trotz besserer Konjunktur stagniert die Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau. Jahrelang glänzte die Region mit zweistelligen Wachstumsraten, von denen Deutschland und Österreich wie kein anderes europäisches Land profitierten. Für unzählige heimische Klein- und Mittelbetriebe entwickelte sich der CEE-Raum zu einem wichtigen Absatzmarkt und Produktionsstandort. Der oberösterreichische Logistiker Hödlmayr gründete im Oktober 1990 als eines der ersten österreichischen Unternehmen eine Niederlassung in Ungarn. Heute ist das Logistikzentrum in Györ ein Vorzeigebetrieb innerhalb des Konzerns und fungiert als Drehscheibe zwischen West- und Osteuropa.

Im Vergleich mit anderen Schwellenländern haben China, Indien, Brasilien und teilweise auch Russland – neuerdings unter dem Kürzel BRIC-Staaten bekannt – Osteuropa den Rang als Wachstumsmotor längst abgelaufen. Große internationale Konzerne wie Coca-Cola, Kraft Foods oder Nokia zogen ihre Produktionen wieder teilweise aus den CEE-Staaten ab, zumal die Lohnkosten in einigen Ländern bereits westliches Niveau erreicht hatten. Autozulieferer verlegten die Herstellung arbeitsintensiver Teile wie Sitzbezüge oder Innenraumverkleidungen verstärkt nach Nordafrika. Österreich setzt so betrachtet auf das schwächste Zugpferd. Rückzug ist für die heimischen Unternehmen dennoch kein Thema, auch wenn die Goldgräberstimmung vorläufig passé ist. Aus gutem Grund: Am Aufholbedarf der Oststaaten hat sich im Grunde nichts geändert. Die Industrie harrt noch in vielen Bereichen einer notwendigen Modernisierung, das Begehren der Bevölkerung nach westlichen Konsumgütern ist ungebrochen. Die Bereiche Infrastruktur, Telekommunikation und Energie sind weiterhin stark gefragt. Großereignisse wie die Fußball­europameisterschaft 2012 in Polen und die Olympischen Winterspiele 2014 im russischen Sotschi bieten zusätzliche Chancen. Laut einer Erhebung der Unternehmensberatung TPA Horwath unter österreichischen Energie- und Finanzdienstleistern planen 78 Prozent der befragten Unternehmen, ihre Investitionen im Bereich Erneuerbare ­Energien massiv auszubauen. Klarer Favorit ist die Windenergie, die 71 Prozent forcieren wollen. 41 Prozent setzen auf Photovoltaik, jeweils 35 Prozent auf Wasserkraft und Bio­masse.

Zwei Welten

Osteuropa zerfällt heute in zwei Hälften. Während etwa Polen, Tschechien und die Slowakei wieder ihr enormes Potenzial ausschöpfen können, bleiben die baltischen und südosteuropäischen Staaten in der Entwicklung zurück.
Die Karawane wandert längst weiter – in Fernost bzw. Lateinamerika locken Wachstumsraten um die zehn Prozent. Für österreichische Klein- und Mittelbetriebe bleiben die Märkte vor der Haustür dennoch erste Wahl. »Österreichs Firmen gehen immer noch lieber nach Osteuropa als nach China oder Brasilien«, sagt Heinz Walter, Regionalmanager für die GUS-Staaten in der Wirtschaftskammer Österreich.

Wie die Strategieberatung Roland Berger analysierte, überstanden die meisten mittel- und osteuropäischen Unternehmen die Krise gut, ein Drittel konnte Umsatz und Ergebnis sogar steigern. Überdurchschnittlich gut reüssierten polnische, tschechische und österreichische Firmen. Sie konnten zwischen 2005 und 2009 ihren Umsatz jährlich um sieben Prozent steigern, während das BIP-Wachstum deutlich darunter lag. Das Erfolgsrezept der österreichischen Unternehmen sieht Rupert Petry, CEE-Experte bei Roland Berger, vor allem in der internationalen Verflechtung. Auffallend ist, dass der Abstand zwischen kleinen Betrieben (bis 50 Millionen Euro Umsatz) und größeren Mitbewerbern hinsichtlich Umsatz und Rentabilität immer größer wird. Petry führt dies auf Managementfehler zurück: Kleine Unternehmen hätten »relativ spät auf die Krise reagiert« und zudem kaum Möglichkeiten, die Kosten noch mehr zurückzuschrauben.

Geheimtipp Türkei

Ausländische Investoren zeigen sich insgesamt noch sehr zurückhaltend. Nach Berechnungen des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) verzeichneten Bulgarien, Estland, Ungarn, Polen und Rumänien sinkende Direktinvestitionen (FDI), während diese auf den CEE-Raum bezogen um 9 Prozent stiegen. Durch die Krise hatten sich die Direkt­investitionen von 112 Milliarden Euro auf knapp 55 Milliarden Euro halbiert. WIIW-Ökonom Gabor Hunya erwartet beim derzeitigen Wachstum ein Erreichen des Vorkrisenniveaus in der gesamten Region erst für 2017.

Osteuropa braucht ausländisches Kapital wie einen Bissen Brot. Alle Hoffnungen liegen deshalb auf dem aufstrebenden Riesen Russland, wo die Infrastruktur vieler Provinzstädte noch stark an sowjetische Verhältnisse erinnert. Um Transport- und Investitionskosten möglichst niedrig zu halten, könnte Zentral- und Osteuropa als Standort für Unternehmen der Eurozone noch länger attraktiv sein.

Noch fast unbemerkt wächst in Europa jedoch ein neuer Hoffnungsmarkt heran: die Türkei. 2010 wuchs die türkische Wirtschaft um beachtliche 8,2 Prozent. Mit mehr als 73 Millionen Einwohnern bietet das Land einen großen, vielfältigen Binnenmarkt, der sich auch als Sprungbrett in den Nahen Osten und Afrika eignet. Besonderes Potenzial zeigt der Bankensektor – rund 9 Prozent der türkischen Bevölkerung verfügen über kein eigenes Konto. Dennoch ist hier bislang nur die UniCredit aktiv. Im Energiesektor sind OMV und Verbund schon stark präsent, Potenzial gibt es noch im Bereich Erneuerbare Energien und Recycling. Gute Chancen können sich auch Automobilzulieferer ausrechnen: Schon jetzt werden in der Türkei rund eine Million Fahrzeuge pro Jahr gefertigt, bis 2015 soll dieser Wert auf 1,6 Millionen ansteigen. Der Consulter Roland Berger sieht außerdem Möglichkeiten für Bauunternehmen und Maschinen- und Anlagenhersteller. Das Zeitfenster für einen Einstieg in den türkischen Markt sei klein – aber eine attraktive Alternative zu Asien.

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