"Gott ist kein Lückenbüßer"
- Written by Mag. Angela Heissenberger
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Michael Landau studierte Biochemie, ließ sich mit 20 taufen und trat schließlich ins Priesterseminar ein. Als Caritas-Präsident mahnt er unbeirrt in sozialen Fragen die Verantwortung der Politik und der Gesellschaft ein. Über Glaubenszweifel, eine verbeulte Kirche und »die schönste Aufgabe, die man haben kann«, erzählt er im Report-Interview.
Report: Sie hatten zunächst einen ganz anderen Berufsweg gewählt. Warum entschieden Sie sich letztlich anders?
Michael Landau: Ich habe sehr gerne Biochemie studiert, das Fach hat mich immer interessiert. Zugleich ist aber der Gedanke in mir gewachsen, ob Priester zu werden für mich der richtige Lebensweg sein könnte. Ich hatte kein besonderes Erlebnis oder eine Erscheinung. Eigentlich begann ich das Theologie-Studium mit dem Vorurteil des Naturwissenschafters, dass Theologie keine Wissenschaft, sondern vermutlich ungeheuer langweilig ist. Wider Erwarten war es interessant. So bin ich nach Abschluss meiner Dissertation in Biochemie in das Wiener Priesterseminar eingetreten. Mein Doktorvater war sehr überrascht, er hatte mir bereits in einem Forschungslabor eine Stelle vermittelt. Und mein Vater sagte: »Du hast doch schon etwas Anständiges gelernt!« Diesen Satz verwende ich heute noch gerne, wenn ich mich bei Vorträgen einem Publikum vorstellen muss.
Report: Wie haben Sie die Differenzen zwischen den Naturwissenschaften und der Theologie für sich persönlich gelöst?
Landau: Naturwissenschaften und Glauben passen sehr gut zusammen. Gott hat uns den Verstand gegeben, damit wir ihn benützen. Während sich die Naturwissenschaften eher mit dem »Wie« beschäftigen, geht es beim Glauben eher um das »Woher« und »Wohin« unseres Lebens. Gott ist kein Lückenbüßer für Fragen, die wir noch nicht beantworten können. Zum Glauben gehört für mich auch, für nichts und niemand in dieser Welt das Knie zu beugen, sondern den eigenen Weg zu gehen, zu dem Gott uns ruft.
Report: Hatten Sie nie Zweifel?
Landau: Natürlich gibt es immer wieder Phasen, in denen sich jeder Mensch mit dem Glauben schwer tut. Nach dem Tod meiner Mutter konnte ich eine ganze Weile nicht das Vaterunser beten. »Dein Wille geschehe« heißt es da – und selbstverständlich wollte ich nicht, dass meine Mutter stirbt. Das fand ich hochgradig unfair. Natürlich beschäftigt die Frage nach dem Leid in der Welt Christen häufig. Ich habe darauf selbst keine Antwort. Aber wenn gefragt wird »Wo war Gott?«, muss man auch anmerken: »Und wo war der Mensch?« Darin steckt der Anspruch, selbst einen Beitrag zu leisten, um die Not zu lindern.
Report: Viele Katholiken haben sich enttäuscht von der Kirche abgewandt. Kann der Glaube die Sehnsucht nach Spiritualität und Geborgenheit nicht mehr erfüllen?
Landau: Ich glaube, dass diese Sehnsucht und dieses Wissen zu jedem Menschen gehören. Die Kirche hat lange auf Fragen geantwortet, die ihr niemand mehr gestellt hat, und keine Antwort auf Fragen gegeben, die ihr gestellt wurden. Ich bin froh, dass Papst Franziskus einen anderen Weg einschlägt. Er wirbt für eine Kirche, die hinausgeht zu den Menschen, auch auf die Gefahr hin, sich Beulen zu holen und sich die Hände schmutzig zu machen. Ihm ist eine verbeulte Kirche lieber als eine Kirche, die nur um sich selbst kreist.
Report: Gab es in der Kirche eine Persönlichkeit, die Sie ähnlich inspiriert hat?
Landau: Die Begegnungen mit Kardinal Franz König werde ich nie vergessen: die innere Weite und Freiheit, die er ausgestrahlt hat, aber auch sein großes Interesse für Gott und die Welt – alles, was Menschen beschäftigt. Genau dieser weite Horizont ist notwendig, wenn Kirche lebendig sein will.
Report: Gegenwärtig polarisiert der Islam die Öffentlichkeit sehr stark. Wäre auch hier etwas mehr Toleranz angebracht?
Landau: Zunächst stellt sich die Frage: Hören wir nur die lauten Stimmen, die polarisieren? Oder sind wir auch bereit, die leisen Stimmen der Vernunft zu hören und zu stärken? Am Dialog führt kein Weg vorbei. Ich verstehe, dass Menschen Sorge haben, wenn eine Religion zur Ideologie wird. Hier muss man zwischen Islam und Islamismus unterscheiden. Das Problem sind aber nicht Moscheen und Minarette. Manche sagen, Europa läuft Gefahr, seine Werte zu verlieren, wenn es sich für Menschen aus diesen Ländern öffnet. Ich glaube, Europa würde seine Werte aufgeben, wenn es jenen, die Schutz brauchen, keinen Schutz mehr gewährt. Dieser Einsatz ist eines der wesentlichen Fundamente unseres Kontinents.
Report: Die Bereitschaft, Schutz zu gewähren, war vor einem Jahr noch sehr stark. Ist die positive Einstellung tatsächlich gekippt oder sind die Stimmen der Vernunft, wie Sie sagen, einfach nur zu leise?
Landau: Im Vorjahr hat Österreich Geschichte geschrieben. Allein bei der Caritas haben sich 15.000 freiwillige Helferinnen und Helfer gemeldet. Ich halte die Rede von einer gespaltenen Gesellschaft für gefährlich – und sie ist auch nicht richtig. Jeder von uns nimmt wahrscheinlich ein Stück Spaltung in sich selbst wahr, gleichzeitig erlebe ich eine große Hilfsbereitschaft. Viele Menschen sind bis heute aktiv und unterstützen in Sprachkursen oder bei Behördenwegen. Die Studie des Gemeindebundes legt schwarz auf weiß dar, dass die Bevölkerung in jenen Gemeinden, die Menschen auf der Flucht aufgenommen haben, inzwischen unaufgeregter und deutlich positiver reagieren. Wo Begegnung gelingt, legen sich die Ängste. Den vielen engagierten Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern kommt hier eine Schlüsselrolle zu. Vielleicht war die Euphorie im Herbst 2015 ein Stück kleiner, als sich das manche gewünscht hätten. Aber ich glaube, dass auch die Sorgen und Ängste heute ein ganzes Stück kleiner sind, als manche sagen.
Report: Kann Europa das Flüchtlingsproblem lösen?
Landau: Wir haben in Europa keine Flüchtlingskrise, sondern eine Solidaritätskrise. Mit der gleichen Energie, die in die Erstellung von Notstandsverordnungen gesteckt wird, sollte an einer Solidaritätsverordnung gearbeitet werden. Die großen anstehenden Aufgaben – Klimawandel, Armut, Menschen auf der Flucht – erfordern globale Lösungen. Die Angst mag die Versuchung mitbringen, Zäune zu errichten, in der Hoffnung, die Not wäre dann draußen. Angst ist aber immer ein schlechter Ratgeber. Europa ist durch jede Krise gewachsen. Ja, wir sind in einer fordernden Situation. Aber ich bin überzeugt, wir werden den Weg bewältigen, auch wenn er steiler wird.
Report: Merken Sie die Zunahme an hilfsbedürftigen Menschen in der täglichen Arbeit?
Landau: In Österreich hat man manchmal den Eindruck, in der Regierung sitzen 16 AsylexpertInnen. Ich halte Integration für eine zentrale Aufgabe, aber es gibt noch eine ganze Reihe anderer Themen. Ich verstehe Menschen, die sagen: Wer kümmert sich eigentlich um meine Not? Der Druck an den Rändern der Gesellschaft steigt. 1,2 Millionen Menschen sind akut arm oder armutsgefährdet und 220.000 Menschen leben in Wohnungen, die sie nicht angemessen warm halten können. Österreich hat die Wirtschaftskrise deutlich besser bewältigt als andere Länder, weil unser Sozialsystem tragfähig ist. Die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und die Qualität der sozialen Sicherheit sind zwei Pfeiler ein und derselben Brücke. Mit einer Neiddebatte kommen wir nicht weiter – weder am oberen Rand der Gesellschaft noch am unteren.
Report: Kürzlich hatten Sie einige Regierungsmitglieder im Caritas-Betreuungszentrum Gruft zu Gast. Sahen die PolitikerInnen darin mehr als einen medienwirksamen Termin?
Landau: Ich glaube schon, dass diese Begegnungen bei den politisch Verantwortlichen Nachdenklichkeit ausgelöst haben – vor allem durch das persönliche Gespräch mit Betroffenen, das ohne Medien stattfand. Beim Thema Mindestsicherung wäre es gut, endlich weg von Mythen und Ideologien zu einer faktenbasierten Lösung zu kommen, die der humanitären Tradition unseres Landes entspricht. In Wahlkampfzeiten bleibt leider die Diskussionskultur immer ein wenig auf der Strecke. Wenn wir an die Armut in Österreich erinnern, ist der Applaus meist überschaubar. Aber wenn die Kirche nicht mehr mahnt, wer soll es dann noch tun? Das ist nicht immer gemütlich, aber permanente Gemütlichkeit ist auch nicht Gegenstand der biblischen Verheißung.
Report: Ich habe gelesen, Sie seien das »humanistische Gewissen Österreichs«. Sehen Sie sich auch so?
Landau: Organisationen wie die Caritas können einen Beitrag für den Zusammenhalt einer Gesellschaft leisten. Dass dieser Beitrag möglichst wirkungsvoll ausfällt, darum bemühe ich mich. Ob das schon für ein »humanistisches Gewissen« reicht? Wir können die Welt verändern und sie schöner, heller, fröhlicher und menschenfreundlicher gestalten. Dabei kommt es auf jede und jeden von uns an. Das ist wahrscheinlich die schönste Aufgabe, die man in der Kirche haben kann.
Zur Person und Organisation
Michael Landau wurde 1960 als Sohn einer katholischen Mutter und eines jüdischen Vaters, der 1947 aus der Emigration aus Shanghai zurückkehrte, in Wien geboren. Als Schüler gewann er zweimal die Chemie-Olympiade. Nach der Matura studierte er Biochemie und schloss 1988 mit dem Doktorat ab. Parallel dazu begann Landau das Studium der Katholischen Theologie, ließ sich als 20-Jähriger taufen und trat 1988 in das Priesterseminar ein. 1992 wurde er in Rom zum Priester geweiht und übernahm im Dezember 1995 die Leitung der Caritas Wien. Seit 2013 ist er auch Präsident der Caritas Österreich und wurde kürzlich in seinem Amt bestätigt. In dieser Funktion meldet er sich regelmäßig zu sozialpolitischen Themen wie Pflege, Obdachlosigkeit, Armut und Asyl zu Wort. Im September erschien sein Buch »Solidarität – Anstiftung zur Menschlichkeit« im Brandstätter Verlag.
Die Caritas betreibt in Österreich u.a. 48 Pflegehäuser, 35 Obdachloseneinrichtungen, zehn Mutter-Kind-Häuser, 36 Sozialberatungsstellen, 43 Lerncafés, eine Reihe von Häusern für AsylwerberInnen und das magdas Hotel. 2015 wurden insgesamt 79,9 Mio. Euro an Spenden gesammelt. Zahlreiche Unternehmen beteiligen sich durch Kooperationen an Projekten.