Im Lügennetz
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Die staatliche Vorratsdatenspeicherung ist Geschichte – angesichts der weiterhin schockierenden Totalüberwachung durch westliche Geheimdienste ein schwacher Trost.
Totalüberwachung der digitalen Kommunikation, das Abhören ganzer Staaten, Spionage gegen alle und jeden, auch und besonders gegen Verbündete: Die achselzuckende Resignation der bürgerlichen Gesellschaften angesichts einer derart Orwell’schen Maschinerie verblüfft fast noch mehr als deren Ausmaße. Das Erdbeben, das die Enthüllungen von Edward Snowden seit mehr als einem Jahr auslösen sollten, ist großteils unterirdisch geblieben und schüttelt vor allem jene, die sich die Ungeheuerlichkeit der aufgedeckten Praktiken so richtig bewusst machen können. Das Ausbleiben eines gesamtgesellschaftlichen Aufschreis oder zumindest staatlichen Protests wird weniger mysteriös, wenn man sich vor Augen hält, dass die Staaten, deren Bürger per Generalverdacht von NSA und britischem GCHQ en gros abgehört werden, offen und verdeckt mit diesen Diensten kooperiert haben. Und nicht nur das: Die Totalüberwachung der Telekommunikation erscheint manchem heimischen Law-and-Order-Politiker als halb so wild – und vor allem praktisch, um vom Terrorismusverdacht abwärts den Bürger im Auge behalten zu können. Dass der Europäische Gerichtshof vor kurzem die jahrelang diskutierte und schließlich europaweit im Gefolge von 9/11 eingeführte Vorratsdatenspeicherung überraschend deutlich als »exzessiv« und nicht mit den bürgerlichen Grundrechten vereinbar aufgehoben hat, wollten auch hierzulande die Hardliner in Innen- und Justizministerium anfangs nicht so recht akzeptieren. Terrorismus, Kinderpornos, Mord – zur Rechtfertigung der Totalüberwachung aller Bürger werden immer die ganz großen Kaliber ausgepackt. Tatsächlich wurde in Österreich das Instrument bei über 350 Einsätzen im Vorjahr nur dreimal bei Mord zum Einsatz gebracht – das Gros der Vorratsdatenabfragen betraf Diebstahl, Drogendelikte, Raub und Stalking.
Fälschen und verfolgen
Die britische Regierung, mit dem Geheimdienst GCHQ bis zum Hals in die von Snowden aufgedeckten Praktiken verstrickt, bemüht hingegen sogar den Ausnahmezustand, um das liebgewonnene Instrument VDS nicht aufgeben zu müssen: Im Eilverfahren, das eigentlich für Kriegszeiten vorgesehen ist, peitscht dieser Tage die Regierung Cameron per Notstandsverordnung ein Maßnahmenpaket zur sogar noch großflächigeren Ausweitung der Vorratsdatenspeicherung ohne Diskussion durchs Parlament. Die anlasslose und flächendeckende Speicherung aller Verkehrsdaten aus Telefonnetzen und dem Internet soll die Zugriffsbefugnisse für Polizeibehörden erneut ausweiten und indirekt auch im Nachhinein eine legale Basis für die Aktivitäten des Militärgeheimdienstes GCHQ schaffen. Just zur selben Zeit stellt ein weiterer veröffentlichter Teil aus Edward Snowdens Unterlagen das Werkzeugkästchen ebendieses Geheimdienstes ins Licht der Öffentlichkeit. Manipulation von Webseiten und Online-Umfragen, Sabotage, kompletter Skype-Zugriff, die Manipulation von Pageviews und YouTube-Zugriffszahlen, die Fähigkeit, beliebige Emailadressen zu fälschen und so im Namen ahnungsloser Opfer zu kommunizieren, und, und, und: Es braucht wenig Fantasie, um zu erkennen, dass dieses Toolset in Verbindung mit der weiteren Stützung auf Vorratsdaten schwer problematisch ist. Ein Regierungsdienst, der die Fähigkeit hat, fast die gesamte elektronische Kommunikation seiner Zielpersonen willkürlich zu fälschen, und eine Regierung, die just diese elektronischen Daten wider die Erkenntnisse europäischer Höchstrichter verstärkt zur Überwachung verwenden will: Die Möglichkeiten für den Missbrauch dieser Kombination sind schier atemberaubend. Umso wichtiger, dass mit dem klaren Urteil des Europäischen Gerichtshofs und der nationalen Höchstrichter wenigstens im Rest Europas dem offiziell sanktionierten Überwachungswahnsinn ein Riegel vorgeschoben wurde. Die totale Kontrolle jeder elektronischen Kommunikation durch ausländische Geheimdienste mag, wenn überhaupt, nur langsam und Stück für Stück zurück in die Schranken gewiesen werden können; dass sich unsere Gesellschaften aber zumindest in den ihr verbliebenen legalen Handlungsräumen gegen den Orwell’schen Überwachungsterror positionieren, ist zumindest ein Lichtblick.