Die Energiewende – droht ein Desaster?
- Written by Redaktion
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Die 20-20-20-Ziele der Europäischen Union erfordern eine weitreichende Umstellung der Energieversorgung. Um diese Ziele zu erreichen, wird viel Wert auf den Technikeinsatz und die Vernetzung gelegt. Kritische Auseinandersetzungen damit sind in der Öffentlichkeit kaum anzutreffen.
Von Herbert SauruggDie Notwendigkeit der Energiewende von der Nutzung vorwiegend fossiler hin zu erneuerbaren Energieträgern ist unumstritten und aus heutiger Sicht unausweichlich. Auch wenn neue Funde von Schiefergasstätten oder Ölsanden die Hoffnung aufkeimen lassen, dass das fossile Zeitalter noch länger dauern könnte – es ist wohl kaum davon auszugehen, dass diese weiterhin in billiger Form zur Verfügung stehen werden. Derzeit werden lediglich 20 % der Primärenergie für die Stromerzeugung aufgewendet – bei der Energieversorgung der Zukunft wird der Stromanteil deutlich ansteigen.
Die Stromversorgung stellt neben der Primärenergieversorgung eine fast noch wichtigere Basis für unser Gemeinwohl dar. Unser gesamtes gesellschaftliches Leben und nahezu alle Infrastrukturen sind von der permanenten Verfügbarkeit von Strom abhängig. Aufgrund der hervorragenden Arbeit der Energiewirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten ist das zur Selbstverständlichkeit geworden und uns kaum richtig bewusst. Daher ist es umso erschreckender, wie leichtfertig und kurzsichtig seit einigen Jahren in unsere wichtigste Infrastruktur eingegriffen wird. Es gibt keinen anderen Bereich, in dem es nur ein einziges europäisches Verbundsystem gibt und wo gleichzeitig alle anderen Infrastrukturbereiche von dessen permanenter Verfügbarkeit abhängen. Begonnen haben diese Eingriffe im vergangenen Jahrzehnt mit der Marktliberalisierung und dem Unbundling der europäischen Stromversorgung. Dadurch sollten der Wettbewerb gefördert und die Strompreise für die Kunden gesenkt werden. Gleichzeitig sind marktwirtschaftlich agierende Unternehmen dazu angehalten, möglichst viel Gewinn zu generieren und zu wachsen. Das ist häufig nur noch durch die Reduktion der Substanz und der Reserven möglich.
Gefahr des Versagens
Die Aufsplittung der Versorgungskette führte in eine Vielzahl an Akteuren und zur Erhöhung des Kommunikations- und Koordinierungsaufwandes. Dieser Aspekt führte unter anderem 2006 zum größten Stromausfall in der jüngsten Geschichte der europäischen Stromversorgung. Es zeigte sich, dass die Erhöhung der Zahl der Akteure und somit der Vernetzung die Komplexität steigert. Die Komplexitätssteigerung durch die massive Erhöhung der dezentralen Stromerzeugung durch eine nicht nachhaltige Förderpolitik wird sich in nächster Zukunft weitaus gravierender auf das europäische Verbundnetz auswirken. Das europäische Stromversorgungssystem wurde für relativ einfach berechenbare Großkraftwerke errichtet und erfolgreich betrieben. Der einseitige Umbau der Erzeugerlandschaft bringt das System immer häufiger an die Belastungsgrenzen, wie auch im aktuellen Monitoringbericht der deutschen Bundesnetzagentur nachzulesen ist. Dazu kommt, dass durch die kurzfristige Abschaltung von Atomkraftwerken in Deutschland und das Fehlen von flexiblen Reservekraftwerken die Stabilisierung des Stromnetzes immer schwieriger wird. So berichtet der deutsche Netzbetreiber Tennet, dass 2003 nur zwei Eingriffe zur Erhaltung der Netzstabilität erforderlich gewesen waren. 2011 waren es bereits 998 Eingriffe, oder dreimal so viele wie noch 2010. Daher stellt ein Systemversagen derzeit wohl die größte Gefahr für das europäische Stromnetz dar. Es ist davon auszugehen, dass als Auslöser nicht ein Einzelereignis ausreichen wird, sondern dass sich mehrere kleine, an und für sich beherrschbare Ereignisse kumulieren, wie dies etwa beim Megablackout im Sommer 2012 in Indien oder beim Blackout 2011 in den USA passiert ist. Ein Stromnetz, das immer häufiger an der Belastungsgrenze betrieben werden muss, wird anfälliger gegenüber kleineren Störungen. Damit steigt automatisch die Ausfallswahrscheinlichkeit. Das europäische Stromversorgungssystem ist ein Verbundsystem und erfordert daher eine koordinierte Vorgangsweise bei der Energiewende. Davon ist bisher wenig zu bemerken.
Komplexe Systeme
Komplexe Systeme verhalten sich nicht wie Maschinen – sie sind nicht-lineare Systeme, in denen es zu langen Ursachen-Wirkungsketten beziehungsweise zu indirekten Wirkungen kommen kann. Kleine Ursachen können zu großen Wirkungen führen, oder auch zu exponentiellen Veränderungen. Es sind Aspekte, die wir aus Bereichen wie etwa dem Umweltschutz oder der Entwicklungshilfe bereits kennen. Im Zusammenhang mit technischen Lösungen betreten wir aber weitgehend Neuland, da die technische Vernetzung erst seit etwas mehr als einem Jahrzehnt massiv zugenommen hat. Was zeitverzögerte Wirkungen bedeuten, vor allem im Sicherheitsbereich, konnte in den letzten Jahren eindrucksvoll in der IKT-Welt mitverfolgt werden. Komplexe Systeme erfordern daher ein neues Systemdesign. Hier können wir von der Natur lernen, da es dort nur komplexe Systeme gibt. In wenigen Worten lässt sich das auf die Reduktion des Energiebedarfs, die Erhöhung der Fehlertoleranz sowie eine dezentrale Steuerung und bessere Regelung zusammenfassen. Dadurch könnten die Abhängigkeiten deutlich reduziert und die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) des Systems erhöht werden. Kein Fehler im System darf sich auf das gesamte System negativ auswirken können. Zellulare Strukturen und Regelkreise sind gefragt, wie sie etwa bereits in der Automatisierungstechnik zum Einsatz kommen. Viele Konzepte derzeit, wie die massive Erhöhung der Vernetzung (Stichwort »smart«), widersprechen diesem Ansatz und führen zu einer unkalkulierbaren Erhöhung der Verwundbarkeit. Ganz abgesehen davon, dass die derzeitigen Kostenschätzungen für den geplanten IKT-Einsatz wahrscheinlich unbezahlbar sind, wenn Risikoaufschläge ebenso hinzugerechnet werden müssen. Darüber hinaus werden Szenarien, wie etwa im November in Frankfurt am Main passiert – wegen eines Computerfehlers bei der Beleuchtungssteuerung war ein Neustart des Systems erforderlich –, in der Stromversorgung wohl nicht akzeptiert werden.
Maßnahmen durch Menschen
Die Energiewende ist alternativlos. Der Weg dorthin weist aber noch viele Sackgassen und Schlaglöcher auf. Die Änderungen in der Stromversorgung erfolgen dabei im Realbetrieb am »offenen Herzen«. Leichtfertige und unsystematische Eingriffe können dabei viel aufs Spiel setzen. Dessen sollten sich Verantwortungsträger bewusst sein, wenn sie einseitige Maßnahmen forcieren und zum Teil auch physikalische Grenzen missachten. Damit die Energiewende insgesamt erfolgreich sein kann, müssen vor allem die Menschen abgeholt und mitgenommen werden. Denn eine Wende wird nur durch eine Verhaltens- und Gewohnheitsveränderung zu bewerkstelligen sein. Dieser Schritt fehlt bisher weitgehend. Darüber hinaus sollte die technische Leichtgläubigkeit kritischer hinterfragt werden. Wie sich gerade beim Thema intelligente Stromzähler abzeichnet, könnte durch eine persönliche Beratung und Betreuung mit einem Bruchteil des Aufwandes und Risikos das Verhalten der Menschen verändert und der Stromverbrauch tatsächlich gesenkt werden. Denn wie bei einem Arzt wird es nicht ausreichen, nur den Blutdruck zu messen, um den Patienten zu heilen.
Die derzeitigen einseitigen Eingriffe in das europäische Stromversorgungssystem machen einen Systemkollaps immer wahrscheinlicher. Unsere Gesellschaft ist in keiner Weise auf ein solches Szenario vorbereitet. Ein Blackout durch ein Systemversagen ist kein Schicksalsszenario. Wir alle – von der Politik, Wirtschaft, den Behörden bis hin zur Bevölkerung – können uns mit einfachen Maßnahmen darauf vorbereiten und damit diesem Szenario den Schrecken nehmen.
Auch wenn die Warnungen der Netzbetreiber nicht immer ganz uneigennützig sein mögen, sollten sie trotzdem ernst genommen werden. Das Sicherheitsforschungsprojekt BlackÖ.1 errechnete für die ersten 24 Stunden bei einem österreichweiten Blackout einen volkswirtschaftlichen Schaden von rund 900 Millionen Euro. Je weniger eine Gesellschaft darauf vorbereitet ist, desto härter wird sie getroffen.
>> Zum Autor:
Herbert Saurugg war 15 Jahre Berufsoffizier beim Österreichischen Bundesheer und hat Funktionen im Bereich der Führungsunterstützung und IKT-Sicherheit durchlaufen. Er ist akademischer Sicherheitsexperte für IKT an der FH-Hagenberg, Krisen- und Notfallmanager (BdSI) und hat das Masterstudium Unternehmensentwicklung mit Vertiefungsgebiet Sicherheitsforschung an der Hochschule für Management Budapest abgeschlossen. Saurugg ist Gründungsmitglied von Cyber Security Austria, des gemeinnützigen »Vereins zur Förderung der Sicherheit Österreichs strategischer Infrastruktur«.