"Wer das schnell schafft, ist mit IoT-Lösungen erfolgreich"
- Written by Martin Szelgrad
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Wahre Innovationen, Automatisierung von Geschäftsprozessen und notwenige Veränderungen in Organisationen: Robert Kaup, Geschäftsführer des Technologie-Dienstleisters TietoEVRY, im Gespräch über Krisen und die Welt danach.
Report: Welche Auswirkungen der Corona-Krise sehen Sie auf die Digitalisierung von Unternehmen?
Robert Kaup: Ich erinnere mich an die Worte eines CIOs Ende März: Was in den letzten zwei Wochen in der Digitalisierung in Unternehmen vorangegangen ist, ist in den letzten zwei Jahren nicht passiert. Die Digitalisierung ist klar beschleunigt worden. Wir haben dazu eine Umfrage mit 500 Teilnehmern gemacht: 80 % erwarten und bestätigen diesen Trend.
Bei TietoEVRY hat im März die Umstellung auf Homeoffice in den Produktivbetrieb reibungslos funktioniert – auch wenn natürlich die Umstellung von zuvor wenigen tausend auf plötzlich 20.000 Homeoffice-Arbeitsplätze – bei insgesamt 24.000 Mitarbeitern in Europa – hinsichtlich der VPN-Leitungen eine Herausforderung war. Infrastruktur ist nun einmal auf eine bestimmte Belastung ausgelegt und ohne Zutun nicht beliebig skalierbar, was man auch bei den Callcentern gesehen hat.
Einen Schwerpunkt in den Veränderungen sehe ich vor allem bei dem Thema Customer Experience. Persönliche Interaktionen mit den Kunden wurden teilweise mit virtuellen Kontaktpunkten, auch wenn es nur das Telefon war, ersetzt. Wir liefern Software für den technischen Betrieb von Callcentern im Banken- und Finanzdienstleistungsbereich und sehen dort, dass der Bedarf in den letzten Monaten stark zugenommen haben. In der Branche wird bereits über die künftige Ausstattung der Contact-Center nachgedacht, die auch KI-Elemente umfassen könnte. Mit dieser technischen Hilfe ist dann aus früheren Touch Points und Interaktionen etwa ein „Predictive Net Promoter Score“ inklusive der Kundenzufriedenheit errechenbar. Für den Callcenter-Agent wird so ein optimaler Handlungsleitfaden für den Kundenservice abgestimmt.
Report: Wie weit ist hier eine Automatisierung möglich? Die Dokumentation von Kundeninteraktionen ist bislang weitläufig von manuellen Eingaben und dem persönlichen Engagement der Mitarbeiter abhängig gewesen.
Kaup: Dies geschieht aus dem Kontext und unterschiedlichen Quellen heraus, wie beispielsweise der Interaktionen in sozialen Medien und Callcenter-Gesprächen, die in Text umgewandelt werden. Die Komponente Speech-to-Text ist noch in einem Proof-of-Concept, also noch nicht flächendeckend im Einsatz. Aber man testet das bereits – mit vorheriger Zustimmung der Gesprächsteilnehmer natürlich. Als Integrator bieten wir auch die Anbindung und Nutzung der AI-Suite Einstein, die es bei Salesforce für alle Komponenten gibt. Der Verkäufer bekommt damit noch bessere Vorschläge für Kundenkontakte und Prognosen für Abschlüsse. Das Wesentliche bei allen diesen Möglichkeiten ist die tatsächliche Automatisierung der Prozesse, die manuelle Eingaben ersetzt.
Report: Auf welche Plattformen für Datenaggregation und Automation setzen Sie bevorzugt, wenn Sie die Wahl haben? Derzeit bieten wohl hunderte Plattformanbieter KI- und auch IoT-Lösungen für gewerbliche Kunden an?
Kaup: Man hatte vor ein paar Jahren diese große Zahl an unterschiedlichen Playern, wir fokussieren uns auf die großen Anbieter, allen voran auf Azure. Microsoft hat aus unserer Sicht ein attraktives Plattformangebot für Unternehmen. Die Herausforderung, die ich allerdings sehe – wenn wir uns bei unseren Kunden in der produzierenden Industrie befinden - ist die Vielfalt an Maschinen an den Standorten. Es gibt keinen standardisierten Layer, über den mit allen Maschinen kommuniziert werden kann. Die Maschinenparks in der produzierenden Industrie sind über viele Jahre gewachsen, es gibt unterschiedliche Systeme mit unterschiedlichen Anbindungen. Der Knackpunkt für das IoT-Thema ist, alle diese Prozesse und Anlagen an datenverarbeitende Systeme anzubinden. Wer das schnell schafft, ist mit IoT-Lösungen erfolgreich. Wir arbeiten bis zur Anbindung einzelner Maschinen, sorgen für die regelmäßige Übertragung der Daten, die aussagekräftige Visualisierung von Trends und direkte Anbindung an das ERP. So etwas dauert dann nicht drei Jahre, sondern wesentlich kürzer. Im besten Fall integriert Predictive Maintenance die Purchase Order der Ersatzteile in einem einzigen Prozess.
Gerade die Umstellung in der heimischen SAP-Landschaft auf S4/HANA wird auch neue Werte schaffen – vorausgesetzt, dass es nicht nur als klassisches IT-Projekt, sondern als Transformation von Unternehmensmodellen gesehen wird. Ein produzierendes Unternehmen mit mehreren Werken kann mit der Konsolidierung auf S4 zu einer integrierten Organisation mit gemeinsamem Vertrieb und Logistik werden – mit einer einheitlichen Supply-Chain, gemeinsamen Finanzkennzahlen und Steuerung. Dann können auch Unternehmensfunktionen, die es früher an einem Standort gab, in der gesamten Organisation genutzt werden.
Report: Wie positionieren Sie sich im Umfeld der IT-Dienstleister? Was macht TietoEVRY aus?
Kaup: Ich gebe Ihnen ein Beispiel, das unser breites Tätigungsfeld und Portfolio vereinfacht beschreibt. Stellen Sie sich vor, Sie kaufen ein Motorrad – nehmen wir ein Fahrzeug eines namhaften, österreichischen Herstellers, wie beispielsweise KTM. Sie informieren sich auf der Website des Herstellers, konfigurieren Ihr Wunschmodell und handeln für die Finanzierung einen Kredit im Callcenter der Bawag aus. Die Kreditunterlagen, auf nachhaltigem Papier, bekommen Sie zur Unterschrift zugeschickt. Mit dem Kauf des Motorrads erhalten Sie zudem eine digitale Vignette, die Sie zuvor im Vignetten-Portal bestellt haben. In all diesen Fällen werden Sie eine Lösung von TietoEVRY verwendet haben. Und mit einer Wahrscheinlichkeit von 80 % wurde auch das nachhaltig produzierte Papier mit Hilfe unserer Lösungen geplant oder hergestellt.
Was TietoEVRY noch ausmacht? Wir stellen den Menschen in den Mittelpunkt der digitalen Transformation. Genau diesen Ansatz leben wir als Team in Österreich. Im Detail unterstützen wir in den Branchen öffentliche Organisationen, Energiewirtschaft, Industrie, Holz, Papier, Verpackung, Telekom sowie Versicherungs- und Finanzdienstleistungen. Es sind die Pioniere in diesen Bereichen, die wir auch zu jenen der digitalen Transformation machen.
Report: Einer Ihrer Schwerpunkte ist auch Augmented Reality. In welchen Bereichen werden dazu Lösungen zum Einsatz gebracht?
Kaup: Wir arbeiten seit Jahren mit der Augmented-Reality-Brille HoloLens und haben letztes Jahr die HoloLens 2.0 gemeinsam mit Microsoft nach Österreich gebracht. Ein konkreter Einsatzfall ist bei Greiner Packaging, wo mit der HoloLens Lehrlinge ausgebildet werden. Der Hersteller für Schaumstoffe hat Maschinen mit komplexen Prozessen, deren Führung sowohl virtuell also auch im Mixed-Reality-Modus geschult wird. Die Lehrlinge stehen im tatsächlichen Betrieb an den Maschinen und bekommen zusätzliche Informationen in der Brille eingeblendet.
Wir setzen Mixed Reality generell auch beim "Digital Twin" von Maschinen ein – und das nicht nur in der laufenden Betriebsführung, sondern auch für Vorschläge für Wartungstätigkeiten mittels Predictive Maintenance. Projekte wie bei Greiner gehen bereits weit über Piloten hinaus und sind Teil des Alltags in den Betrieben.
Report: Erwarten Sie, dass durch die vielerorts enorm gestiegene Akzeptanz von Homeoffice Büroflächen langfristig verkleinert werden?
Kaup: Wir wachsen stark und stellen uns diese Frage auch für unsere eigene Organisation. Vor den Corona-Maßnahmen haben wir überlegt, Büroflächen in einem weiteren Stockwerk anzumieten. Nun geht es vielmehr um die langfristige Ausweitung der Homeoffice-Möglichkeiten. Der Großteil unserer Mitarbeiter sieht zumindest keine technische Notwendigkeit, ständig im Büro zu arbeiten. Wenn, dann ist es die soziale Interaktion, die von vielen gerade auch zu Hause nachgefragt wird. Das wurde in diesen Wochen deshalb auch intensiv begleitet – mit virtuellen Kaffeegesprächen, Chats und regelmäßigen Team-Updates. Wir werden in Zukunft unsere Mitarbeiter noch stärker unterstützen, damit sie auch im Homeoffice arbeiten können. So haben wir allen ermöglicht, auch Büroequipment wie Laptops, Maus und Tastatur bis zum Bürostuhl mitzunehmen.
Report: Das ist bei der Größe Ihrer Organisation ein eher untypischer Zug.
Kaup: Wir haben schon vor der Corona-Krise unseren Mitarbeitern Flexibilität geboten. In gemeinsamer Abstimmung mit ihren Projektteams haben sie beispielsweise selbst darüber freie Hand, wo gearbeitet wird. Hier kommt die nordische Denkweise durch, die überall im Konzern gelebt wird. Arbeit wird nicht durch Präsenzzeiten definiert, sondern über Ergebnisse. Sicherlich tun wir uns da mit unserer Organisation in Österreich auch administrativ leichter als an Standorten in größeren Ländern. Aktuell sind gut 30 % unserer Mitarbeiter wieder im Office. Ich glaube, dass dieser Schnitt weiter bleiben wird – solange es keine drastischen Veränderungen bezüglich Corona gibt.
Langfristig lässt sich aber nicht sagen, ob überall Homeoffice stärker als vor der Krise genutzt werden wird. Was ich sehr wohl erwarte, ist die Fortsetzung des Trends zu mehr Agilität. Immer mehr Kunden bewegen sich in diese Richtung. Wir beraten nicht nur in bei agilen Projekten nach dem Scrum-Modell, sondern zunehmend auch zu agilen Organisationen. Und wir leben das auch selbst. So haben wir uns in Österreich selbst vor zwei Jahren als agile Organisation nach dem Spotify-Modell aufgestellt.
Report: Was macht das Spotify-Modell für Unternehmen in Österreich attraktiv?
Kaup: Vertrauen und Eigenverantwortung stehen im Vordergrund. Entscheidungen fallen dort, wo die detaillierten Informationen dazu vorhanden sind. Die Mitarbeiter arbeiten in Teams und in sogenannten „Chapters“, in denen Kompetenzen zusammenfasst sind. Im SAP-Bereich etwa haben wir verschiedene Arten der Beratungsleistungen konzentriert. Das Team entscheidet selbst über Weiterbildungsmaßnahmen der Mitarbeiter. Im Spotify-Modell werden Kundenprojekte mit so genannten „Squads“ abgewickelt – Projektteams, mit ihren Kompetenzen aus den unterschiedlichen Chapters zusammengestellt werden. Wenn jemand keine Erfahrungen bislang damit hatte, trainieren wir unsere Kunden auch zu Modellen wie Scrum und SAFe. Wir spielen Methoden und Handlungsweisen durch und erstellen ein Backlog. Das ist allgemein wichtig, damit auch alle vom Gleichen reden. Rund die Hälfte unserer Mitarbeiter in Österreich ist Scrum-Master ausgebildet. Damit hat jeder Kunde, der nicht nach dem Wasserfall-Modell Projekte entwickeln will, die Möglichkeit dazu.
Report: Ist eine agile Organisation etwa auch mit dem Betrieb von kritischer Infrastruktur vereinbar?
Kaup: In einer regulierten Branche tätig zu sein, ist keine Einschränkung für agile Organisationen. Das gilt quer über alle Branchen – von Banken- und Finanzdienstleistern, die bereits einiges dazu versuchen, bis zu Unternehmen in der Industrie, die nicht nur ihre IT, sondern alle Business-Organisationen noch agiler machen möchten. Der Faktor, der über den Erfolg von agilen Methoden entscheidet, ist die Ausprägung von Hierarchie in einer Organisation. Es geht nie um Begrifflichkeiten oder Einzelmaßnahmen, sondern um die Kultur, wie Tag für Tag gearbeitet wird. Man darf dabei nicht vergessen, dass die typischen „Macher“ in Unternehmen ein Problem mit einer agilen Organisation haben können, da diese auf Team-Entscheidungen basiert. Führt man die klassischen Rollenmodelle einfach unter neuen Begriffen fort, wird das auf Dauer nicht funktionieren.
Report: Gibt es für Macher gar keinen Platz mehr?
Kaup: Es gibt ihn schon, aber es ist auch wichtig, Änderungen zu erreichen. Diese Personen brauchen ein Bewusstsein, in welchen Situationen sie als Coach agieren und Fragen stellen müssen – und wann sie direktiv agieren.
TietoEVRY ist in Österreich in den vergangenen vier Jahren von 80 auf über 200 Mitarbeiter gewachsen. Wir sind vor der Entscheidung gestanden, für die größere Organisation entweder eine weitere Managementebene einzuziehen oder einen alternativen Weg zu gehen. Unsere agile Organisation ermöglicht uns heute, mit 200 Mitarbeitern genauso schnell wie mit 80 zu agieren. Nicht Einzelne entscheiden über den Erfolg von Unternehmen, sondern eine wendige, eigenverantwortliche Organisation.
Über das Unternehmen
Das IT-Service- und Softwareunternehmen Tieto firmiert seit Ende 2019 durch den Zusammenschluss mit dem norwegischen Unternehmen EVRY unter dem Namen TietoEVRY. Mit mehr als 24.000 Mitarbeiter und einem Jahresumsatz von rund drei Milliarden Euro ist der IT-Konzern in mehr als 90 Ländern vertreten. Das Österreich-Team umfasst rund 200 Mitarbeiter an den Standorten Wien, Graz und Linz.