Einkaufen heute und morgen
- Written by Redaktion
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Komplexität und Veränderungsdynamik von Kaufentscheidungen nehmen zu. Der Handel sucht nach neuen Ansätzen, um das Einkaufsverhalten der KonsumentInnen rascher und besser einschätzen zu können.
Der Kunde ist König – und der Handel unternimmt vieles, um ihn bei Laune zu halten. Das fällt aber immer schwerer, denn Konsumentinnen und Konsumenten sind wankelmütig und aufgeklärt: Sie informieren sich aktiv und umfassend und kaufen nach einem komplexen Entscheidungsprozess. Zumindest in Österreich gerät dabei der stationäre Handel nicht ins Hintertreffen. Recherchiert wird im Internet, gekauft im Geschäft, weil Kunden das Produkt real sehen und sofort mitnehmen wollen. Für die Hälfte aller Käufe werden Marken und Preise im Netz verglichen. Das Internet fungiert somit als »Showroom« für den Einzelhandel – deutlich seltener umgekehrt. Nur 11 % der Online-Käufer lassen sich vorab im Geschäft beraten, um dann im Internet zu bestellen, während dreimal so viele Kunden online recherchieren und dann gut informiert im Geschäft kaufen, wie eine im Vorjahr von Marketagent.com durchgeführte Studie für den Handelsverband Österreich, Österreichische Post und Google Austria ergab.
KonsumentInnen auf der Reise
Ist der Kaufwunsch erst einmal erwacht, beginnt der komplexe Prozess der Informationssuche. Dieser dauert bei großen Anschaffungen wie einer Küche oder einem Neuwagen etwa 90 Tage, bei Laptop und Smartphone immerhin noch 30 Tage. Nur bei Artikeln des täglichen Bedarfs wie Schokolade, Gesichtspflege oder T-Shirt erfolgt der Kauf recht spontan.
Die Informationssuche erfolgt umfassend – auf Websites von Händlern und Marken, über Suchmaschinen und Werbeeinschaltungen. 65 % werten gezielt Flugblätter oder Prospekte aus, sehen Kataloge durch (40 %) oder achten auf Zeitungsinserate (27 %). Online wie offline präsent zu sein, lohne sich auf jeden Fall, meint Studienleiter Thomas Schwabl, Geschäftsführer von Marketagent.com: Über alle Produktgruppen hinweg vertraut mehr als ein Fünftel der befragten Kunden zusätzlich zur Internetrecherche auf persönliche Beratung im Geschäft. Beim Kauf eines Neuwagens sind es sogar 77 %.
Bild oben: Rainer Will, Handelsverband: »Jeder zweite Kunde spricht über seinen Kauf mit anderen Personen und jeder achte bewertet das Produkt im Internet.«
Die Kernkompetenzen des stationären Handels – Sortiment, Beratung, Verfügbarkeit, gedruckte Werbung – haben nach wie vor ihre Berechtigung. Digitale Präsenz ist jedoch unverzichtbar, um wahrgenommen zu werden und potenzielle Kunden entlang ihrer »Customer Journey« nicht zu verlieren. Serviceleistungen und Treueprogramme sind mitunter entscheidend für den Kauf und Weiterempfehlungen gegenüber Freunden – eine wichtige Komponente, wie Handelsverbandschef Will weiß: »Jeder zweite Kunde spricht über seinen Kauf mit anderen Personen und durchschnittlich jeder 13., bei größeren Anschaffungen sogar jeder achte Kunde, bewertet das Produkt im Netz oder berichtet über den Kauf in Social Media, stellt also unmittelbar und mit höchster Reichweite ein Zeugnis aus.«
Mehrwert, der sich rechnet
Als wichtigste Waffe der Unternehmen im Kampf um Marktanteile und Umsätze bleibt allerdings immer öfter nur noch der Preis. Winterschluss- und Sommerschlussverkauf sind mittlerweile omnipräsent, dazu kommen regelmäßig weitere Rabatte, Billigangebote und »Nimm drei, zahl zwei«-Aktionen. Als Konsument hat man sich an diese verkaufsfördernden Maßnahmen gewöhnt. Rabattierungen von zehn Prozent locken Kunden inzwischen nicht mehr ins Geschäft.
Verkaufsexperte Roman Kmenta sieht diese Entwicklung durchaus kritisch: »Aus Sicht der Konsumenten ist die Rolle der Schnäppchenjäger ja keine negative, kurbelt es zudem durch die hohe Kaufkraft die Wirtschaft an. Das trifft auch zu, kurzfristig. Auf lange Sicht jedoch wirkt sich diese Strategie negativ auf die Wirtschaft und uns alle aus.« Die Unternehmen würden Deckungsbeiträge verlieren und müssten, um Umsätze zu halten, sogar Verluste in Kauf nehmen, so Kmenta. Auch die Kunden profitieren nur auf den ersten Blick von den Preisnachlässen: Um trotzdem auf ihre Rechnung zu kommen, sparen die Unternehmen an anderer Stelle – bei der Qualität der Produkte und bei Serviceleistungen.
Handel und Markenhersteller müssen sich also mehr als die x-te Preisreduktion einfallen lassen, um Kunden anzulocken. Unternehmen, die wertvoller als ihre Mitbewerber sein wollen, fördern Weiterentwicklungen und Innovationen. »Kaufentscheidungen sind emotional. Umso reizvoller ist es für Konsumenten, sich für Produkte entscheiden zu können, die qualitativ hochwertig und innovativ sind und das noch bei kompetenter Beratung und gepflegtem Kundenservice«, ist Roman Kmenta vom Mehrwert durch Qualität und Kompetenz überzeugt.
Individuell oder anonym
Moderne Konsumenten sind »Empowered Customers«, die sich der Fülle an Auswahlmöglichkeiten und ihrer starken Position am Markt durchaus bewusst sind. Die tatsächliche Kaufentscheidung hängt oft am seidenen Faden: Fühlt sich ein Kunde schlecht behandelt oder muss sich gar ärgern, wird die schon sichere Kaufabsicht unmittelbar revidiert – im Geschäft wie im Online-Shop.
Bild oben: Theresa Schleicher, Zukunftsinstitut: »Shopping-Center werden zu Lifestyle-Hubs, Einkaufen ist dort Nebensache.«
Gerade im Online-Bereich ist das individuelle Eingehen auf den einzelnen Kunden eine Herausforderung, die noch nicht zufriedenstellend gelingt. Angaben der Händlerplattform versacommerce zufolge brechen bis zu 70 % der Besucher ihren Kauf kurz vor dem Abschluss ab, obwohl sie bereits einige Zeit im Online-Shop verbracht und mehrere Artikel in den Warenkorb gelegt haben. Das Dilemma: Persönliche Ansprache und das Berücksichtigen individueller Bedürfnisse ist nur bei Identifikation und Bekanntgabe qualifizierter Daten möglich. Genau davor schrecken Kunden häufig zurück; viele Interessenten wollen ihre Bestellung unverbindlich als Gast tätigen, ohne ein Benutzerkonto mit Passwort anzulegen und in Folge mit Newslettern oder Spam überschwemmt zu werden. Je weniger man über die Kunden und ihre Konsumlaunen weiß, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, sie durch irrelevante und irritierende Werbung zu verärgern. Im stationären Handel ist die Fülle an Daten, die über Kundenkarten gesammelt werden, teilweise riesig – ob sie effektiv genutzt werden, hängt maßgeblich vom Einsatz hochentwickelter Algorithmen und anderer Technologien ab.
Bei personalisierten Produkten ist die Bereitschaft, persönliche Daten preiszugeben, ungleich größer. Laut »Zukunftsstudie Handel 2036« des digitalen Handelsunternehmens QVC Deutschland kann sich jeder dritte Befragte vorstellen, etwa Körpermaße für perfekt sitzende Jeans weiterzuleiten. Männer sind mit 49 % noch deutlich freigiebiger. »Individualisierung ist einer der wichtigsten Megatrends«, sagt Studienleiter Peter Wippermann. »Übermorgen bestimmen persönliche Daten die Produktion. Aus Konsumenten werden Prosumenten. Sie steuern mit ihren Wünschen die Herstellung.«
Unter Beobachtung
Es scheint fast, als bringe Big Data mehr Verunsicherung als Sicherheit. Branchenprognosen werden schwieriger, da Marktveränderungen mitunter rascher verlaufen, als Erhebungen publiziert werden. Im Rahmen ihrer diesjährigen Marken-Roadshow präsentierten Serviceplan und das Marktforschungsinstitut GfK deshalb ein neues Tool, das Entwicklungen rasch und treffsicher abbildet. »Die verunsicherte Markenführung braucht einen neuen Planungsansatz, der nicht mehr auf die ungewisse Zukunft setzt, sondern die Gegenwart richtig bewertet, um in Echtzeit reagieren zu können«, erklärt Serviceplan-Gründer Peter Haller.
Veränderungsprozesse verlaufen in zwei Geschwindigkeiten: Zum einen gibt es langsam und still verlaufende Marktveränderungen wie sinkende Markenloyalität und individuelleres Kaufverhalten oder die wachsende kaufstarke Zielgruppe der älteren Erwerbstätigen. Gleichzeitig zeigen sich rasche und spektakuläre Marktveränderungen durch die Digitalisierung, künstliche Intelligenz, mobiles Internet und Robotik.
Plan.Net Business Intelligence entwickelte auf Grundlage eines wertebasierten Zielgruppenansatzes und der Werbewirkung der einzelnen Medien einen Algorithmus, der den Wirkungsbeitrag und den Einfluss der verschiedenen Vertriebsformen (Omnichannel, stationärer Handel, e-commerce) messbar macht. Dieser »Brand Investor« lässt sich zu einem Echtzeit-Monitoring-System ausbauen. Interessiert sich ein Unternehmen für die Gründe des dreiprozentigen Umsatzrückgangs am Vortag, zeigt die Analyse etwa an, ob es am Wetter, an den Konkurrenzpreisen, der Zahl der Kassenbons, an der Kampagne etc. lag. Auf dieser Basis könnten fundierte Entscheidungen getroffen werden.
Die Vorreiter des modernen Shoppings finden sich jedoch in China. In den BingoBox-Supermärkten werden KI-Technologie zur Gesichts- und Objekterkennung sowie Selfservice-Kassen für bargeldlose Bezahlung eingesetzt. Personal gibt es keines. Der Container öffnet sich für Kunden mittels QR-Code, die Kassa scannt die Waren selbst, die Zahlung bestätigt man via Smartphone – fertig. Kameras in den Regalen sammeln während des Kaufs jede Menge Informationen: Welchen Waren schenken Konsumenten die größte Aufmerksamkeit? Welche Waren werden am häufigsten zurückgestellt? Welche Kommentare geben sie dazu ab?
Über Displays können die Preise laufend geändert und Werbebotschaften an die Kunden übermittelt werden. Im Schnitt sind Produkte in der BingoBox um 20 bis 30 %
günstiger als in Geschäften mit Personal. Die neue Art des Einkaufens verbreitet sich rasant: Seit Mitte 2017 wurden in 29 chinesischen Städten bereits mehr als 200 Läden eröffnet.
Ein ähnliches Konzept verfolgt Amazon mit den »Amazon Go«-Läden, die allerdings über eine deutlich größere Verkaufsfläche und ein breiteres Sortiment verfügen. Nach erheblichen technischen Problemen während der vierjährigen Erprobungsphase eröffnete der erste Store für reguläre Kunden im Jänner 2018 in Seattle. Ungeachtet der Schwierigkeiten – bei ähnlichen Produkten kam es zu Verwechslungen, bei mehr als 20 Kunden versagte das System – ist der Konzern bereits auf der Suche nach geeigneten Standorten in den USA und Europa.
Shopping im Erlebnispark
Bild oben: Amazon go. Nach mehrjähriger Testphase und erheblichen technischen Problemen öffnete im Jänner 2018 der erste vollautomatische Store in Seattle.
Die Tage der riesigen Shopping-Malls als Konsumtempel sieht das Zukunftsinstitut im »Retail Report 2018« längst gezählt. »Künftig werden Shopping-Center zu Lifestyle-Hubs: Orte, wo man sich mit Freunden und Kollegen trifft, wo man arbeitet, wo man sich zu Hause fühlt, wo man seinen Gesundheitsberater besucht, wo man lebt, isst und einkauft – kurz gesagt: Orte, an denen man seinen Alltag verbringt. Einkaufen wird an diesen Lifestyle-Hubs zur Nebensache«, skizziert Marken- und Werbespezialistin Theresa Schleicher ein mögliches Bild.
Die Berater von A.T. Kearney entwerfen ein ähnliches Szenario. »Die Einkaufszentren der Zukunft haben mit dem klassischen Einkauf nicht mehr viel zu tun. Sie werden so unterschiedlich sein, dass sie kaum unter einen einheitlichen Begriff passen. Und sie werden die heutigen Händler und Betreiber von Einkaufszentren gezwungen haben, Altbewährtes hinter sich zu lassen und mit viel Fantasie Neues zu entwickeln«, meint Mirko Warschun, Partner bei A.T. Kearney.
Statt austauschbarer Konzepte und »noch mehr vom Gleichen« brauche es ein Alleinstellungsmerkmal, erklärt auch Zukunftsforscherin Schleicher: »Manch einer erinnert sich noch an den Einzelhändler im Laden um die Ecke, der seine Produkte perfekt kannte, gastfreundlich war, eine Geschichte zu erzählen hatte – und meist auch den neuesten Tratsch und Klatsch. Inzwischen nutzen auch global agierende Marken die Stärken der individuellen Geschichtenerzähler, um mehr Emotionalität und Authentizität zu erzielen.«
Glossar: Customer Journey
Die folgenden sechs Phasen treten nicht bei allen KundInnen in dieser Reihenfolge oder gleicher Länge auf, einzelne Phasen können auch übersprungen werden. In B2B-Prozessen durchlaufen häufig mehrere Personen gemeinsam die Customer Journey und treffen in unterschiedlichen Phasen Entscheidungen.
1. Erfahren (Discover): Noch keine konkrete Kaufabsicht, Informationen über Produkte und Marken werden beiläufig durch Erzählungen, Erfahrungen oder Beobachtungen gesammelt.
2. Überlegen (Consider): Der Kunde stellt einen Bedarf fest und wird aufmerksamer gegenüber etwaigen Alternativen und sammelt passiv Informationen.
3. Erkunden (Explore): Der Kunde hat endgültig eine Kaufabsicht entwickelt und beginnt, aktiv Alternativen zu vergleichen und gegen eigene Präferenzen zu prüfen.
4. Entscheiden (Decide): Die Entscheidung geht mit einem Kauf, einem Vertragsabschluss oder der Inanspruchnahme eines Services einher. Der Kunde zeigt die Bereitschaft, auch eine festere Beziehung zu dem Unternehmen einzugehen.
5. Erleben (Experience): Der Kunde möchte überprüfen, ob seine Entscheidung auch die richtige war. In den meisten Fällen geschieht dieser Abgleich in Form der Produkt- oder Servicenutzung.
6. Austauschen (Engage): Während die Erfahrung eher passiv erfolgt, wird der Kunde in der letzten Phase der Customer Journey wieder aktiver. Er interagiert mit dem Unternehmen oder anderen Kunden aufgrund seiner positiven oder negativen Erlebnisse.
Quelle: point of origin