Der steile Weg über die Anden
- Written by Martin Szelgrad
- font size decrease font size increase font size
Mit einem gewaltigen Logistikaufwand beliefert und erweitert Siemens unter österreichischer Projektleitung aktuell drei Kraftwerke in Bolivien.
Logistikwege auf drei Kontinenten über den halben Erdball. Mehr als 400 Schwertransporte auf 1.800 Kilometern Landweg. Höhenunterschiede von mehreren tausend Metern zwischen Gebirgspässen und Tiefebene – ein aktuelles Kraftwerksprojekt von Siemens Österreich in Bolivien mutet wie Werner Herzogs Abenteuerfilm »Fitzcarraldo« an. Während aber in dem Kinostreifen der Exzentriker Klaus Kinski mit aller Anstrengung versucht, ein Opernhaus im Dschungel zu errichten, geht es in dem Projekt der Österreicher wesentlich zivilisierter zu. Im Mittelpunkt stehen Wärmekraftwerke des staatlichen bolivianischen Energieversorgers ENDE Andina SAM, die modernisiert und zu industriellen Gas- und Dampfturbinen-Kraftwerken ausgebaut werden. Der Gesamtwirkungsgrad der Anlagen an den drei verschiedenen Standorten wird, je nach Höhenlage, von derzeit rund 38 % deutlich auf rund 54 % verbessert. Die Stromerzeugungsleistung der GuD-Kraftwerke »Termoelectrica del Sur«, »Termoelectrica de Warnes« und »Termoelectrica Entre Rios« wird durch die Erweiterung bis Ende 2019 um mehr als ein Gigawatt erhöht werden. Damit erweitert Bolivien seine Stromerzeugungskapazität um gut zwei Drittel.
Foto: Schwerlastlogistik unter schwierigsten Bedingungen: Die größten Transporte haben ein Gesamtgewicht von 227 Tonnen bei 37 Metern Länge, fünf Metern Breite und fünf Metern Höhe.
»Mit diesem massiven Update der elektrischen Leistung werden sowohl die Versorgung der Bevölkerung als auch die Infrastruktur für Industriebetriebe verbessert«, stellt Thomas Grestenberger, Leitung Einkauf Industrial Power Plant Solutions bei Siemens, das Projekt im Rahmen eines Infotages in Wien vor (siehe Kasten unten).
Mit dem Ausbau entsteht für das Land, das über große Erdgasvorkommen verfügt, auch eine neue Einnahmequelle. Die Lage Boliviens im Zentrum des Kontinents eröffnet vielversprechende Chancen für den Export von überschüssigem Strom in die Nachbarländer Argentinien, Brasilien, Peru, Paraguay und Chile. Bolivien will so zur Energiedrehscheibe Südamerikas werden. »Durch die Erweiterung und Modernisierung erhöhen wir den Wirkungsgrad und somit die Effizienz der bestehenden Kraftwerke. Davon profitiert auch die Umwelt«, ergänzt Grestenberger.
Logistisches Megaprojekt
Die Projektabwicklung inklusive Projektmanagement, Logistik und Engineering erfolgt durch die Einheit Industrial Power Plant Solutions bei Siemens Österreich. Die Verschiffung der ersten beiden industriellen Gasturbinen aus dem Siemens-Werk im schwedischen Finspång markierte Anfang Juni den Startpunkt für das logistische Megaprojekt. Die 87 Tonnen schweren Turbinen sind rund 40 Tage über den Atlantik unterwegs, bis sie den Panamakanal durchqueren. Weitere zehn Tage später werden sie im Hafen von Arica in Chile auf Spezialtransporter geladen.
»Die große logistische Herausforderung ist das Zusammenspiel vieler Komponenten – die Anzahl der Schwertransporte, das Passieren der Anden, die klimatischen Bedingungen, Straßenbedingungen, die nicht mit den unseren verglichen werden können, der weite Weg auf die Baustellen, sowie die limitierte Anzahl von verfügbarem Equipment«, erklärt Marcus Körber, Leitung Transport & Logistik Industrial Power Plant Solutions bei Siemens.
Foto: Die Siemens-Manager Marcus Körber und Thomas Grestenberger berichteten von den technischen und menschlichen Herausforderungen in Südamerika.
Der 1.800 Kilometer lange Landweg vom Hafen bis zu den Baustellen in Bolivien entspricht in etwa der Strecke Wien-Barcelona. Besondere Herausforderungen bringen die Überquerung der Atacama-Wüste, eines der trockensten Gebiete, und der Anden, eine der größten Bergketten der Welt. Die Klimaextreme ringen Mensch und Maschine einiges ab. In den Anden verlaufen die Transporte über einen Pass auf 4.700 Metern Seehöhe, was sich auch auf Motoren und Getriebe auswirkt. Würde der Transportweg in Europa verlaufen, würden vergleichsweise die Fahrten den schnee- und eisbedeckten Gipfel des Mont Blanc, Europas höchsten Berg, passieren.
Bypässe erforderlich
Der Siemens-Lieferumfang für die drei Kraftwerksprojekte umfasst unter anderem 14 industrielle Gasturbinen, elf Dampfturbinen, 22 Abhitze-Dampfkessel, 25 Generatoren, 25 Transformatoren, drei Kondensatoren sowie die Leittechnik. Die Planung und der Transport der Kraftwerksausrüstung muss innerhalb von nur einem Jahr durchgeführt werden. Tausende Tonnen Material gilt es über Wege, Brücken und Tunnels zu schaffen, die naturgemäß nicht auf Einzeltransporte mit einem Gesamtgewicht von bis zu 227 Tonnen und 37 Meter Länge, fünf Meter Breite und fünf Meter Höhe ausgelegt sind. Straßen müssen gesperrt werden, Wege ausgebaut und Brücken – sofern sie nicht verstärkt werden können – großräumig umfahren werden. Mehr als 50 sogenannte Bypässe werden benötigt. Teilweise werden diese extra angelegt beziehungsweise müssen existierende ausgebaut oder erneuert werden. Verantwortlich für die Bauarbeiten, die Nebenanlagen, die Lieferung der Hochspannungsschaltanlagen sowie die mechanische und elektrische Montage ist die spanische Firma TSK.
Kraftwerkslösungen aus Wien
Laut Siemens zeichnet sich am Markt für GuD-Kraftwerke in der Industrie, bei Kommunen, aber auch bei klassischen Kraftwerksbetreibern ein kontinuierlicher Trend in Richtung dezentraler Energieversorgung mittels kleiner Einheiten ab – so auch bei den drei Kraftwerken in Bolivien. Das Leistungsspektrum umfasst Engineering, Lieferung, Montage und Inbetriebsetzung von Kraftwerken mit Industriegasturbinen zwischen 20 und 60 MW.
Ein Happy End der gewaltigen Aufgabe naht nun nicht nur in Bolivien: Weitere Industriekraftwerksprojekte wickelt Siemens derzeit auch auf Malta und in Israel ab.
Branchentreff »The Future of Energy«
Unter dem Motto »Agility in Energy« präsentierte Siemens am 8. Juni vor mehr als 300 Gästen zukunftsweisende Technologien und Lösungen für die Energiebranche. Am Podium in der Wiener Unternehmenszentrale sprachen neben Siemens-Experten unter anderem E-Control-Vorstand Andreas Eigenbauer, Smatrics-Geschäftsführer Michael-Viktor Fischer, Roland Gersch, CTO und Mitgründer Caterva, Amos Lasker, Vorsitzender MicroGrid Israel, Karl Schoaß von KNG-Kärnten Netz GmbH, PwC-Manager Michael Sponring, Energienetze-Steiermark-Geschäftsführer Franz Strempfl und Franz Winterauer von Omnetric.
Das gut besuchte Vortrags- und Diskussionsprogramm wurde von einer umfangreichen Leistungsschau begleitet. Vorgestellte Themen umfassten etwa Blockchain, Virtual-Reality-Anwendungen, Smart-Grid-Forschungsprojekte, Gas- und Dampfturbinen-Kraftwerke und Wasserstoffspeicherung als Schlüsseltechnologie für die Energiezukunft. Christine Theiss, Profi-Weltmeisterin im Vollkontakt-Kickboxen, Doktorin der Medizin und TV-Moderatorin, sprach in ihrer Keynote darüber, woher sie die Energie für ihre Herausforderungen nimmt.
Foto: Diskutierten technische Umsetzungen und Rahmenbedingungen für den Umbau des Energiesystems: Siemens-Manager Alexander Peschl, Regulator Andreas Eigenbauer und Michael Schneider, Leitung Power Technologies, Siemens.