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Planen für die Geisterstadt

\"InStadtentwicklung wird traditionell mit Wachstum verbunden. Wenn aber Wirtschafts- und Bevölkerungszahlen sinken, schrumpfen auch die Städte. Über ein internationales, hierzulande noch unterschätztes Phänomen.

Von Reinhard Seiß


Wer heute vom Land »in die Stadt« zieht, siedelt sich oft nicht mehr in der Kernstadt an, sondern gleich im suburbanen Umland einer Stadt, in der Hoffnung, dass dort die liebgewonnenen Annehmlichkeiten des Wohnens am Land – der eigene Garten, nachbarschaftliche Kontakte, ein reges Vereinsleben – weiter bestehen. Und wer aus der Stadt hinaus ins Grüne flüchtet, lässt sich ebenso oft knapp hinter der Stadtgrenze nieder, um von dort aus weiter alle Angebote des Zentrums – von den Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten bis hin zu den hochrangigen sozialen und kulturellen Einrichtungen – bequem in Anspruch nehmen zu können. Zumal die restriktive Zuwanderungspolitik der meisten EU-Staaten den Zuzug vieler Menschen, die bereitwillig in die Zentren strömen würden, unterbindet, fehlt immer mehr europäischen Städten jener Zuzug, der ihnen seit jeher zu Wachstum, Prosperität und Modernisierung verhalf.

Menetekel Eisenerz

Umso ausgeprägter stellt sich diese Problematik in wirtschaftlich schwachen Regionen dar. In Österreich trifft dies am augenfälligsten auf die obersteirische Bergwerkstadt Eisenerz zu. Bis in die 1950er-Jahre schlug hier das montanistische Herz Österreichs, lieferte der nahe Erzberg doch den Rohstoff für die heimische Eisen- und Stahlindustrie. Der europaweite Niedergang dieser Branche stürzte die Stadt mit ihren einst 13.000 Bürgern indes in eine Krise, deren Ende noch nicht erreicht scheint. Angesichts des dramatischen Bevölkerungsrückgangs auf heute 4.800 Einwohner wurde es für die Kommune eine untragbare Belastung, die längst überdimensionierte technische und soziale Infrastruktur weiter aufrechtzuerhalten. Die Wohnungsgenossenschaften wiederum verzeichneten einen Leerstand von zuletzt rund 700 Wohnungen und damit sinkende Mieteinnahmen, was die Erhaltung und Erneuerung der Bauten quasi verunmöglichte.
Seit 2003 arbeiten das Rathaus und die Wohnbauträger daher nun am konzertierten Rückbau der Stadt. Dafür werden die Bewohner aus entlegenen und etwa durch mangelnde Sonneneinstrahlung benachteiligten Stadtteilen sowie aus schlechter ausgestatteten Wohnquartieren abgesiedelt und in besseren Lagen konzentriert. Dies ermöglicht die Stärkung der Altstadt und zentrumsnaher Siedlungsgebiete, die Bündelung der Finanzmittel für die Wohnhaussanierung sowie Stilllegung und Abbruch überflüssig gewordener Strukturen. Damit ist Eisenerz allerdings die bislang einzige Kommune Österreichs, die der hundertfach bestehenden Situation des irreversiblen Schrumpfens von Siedlungsräumen progressiv begegnet. Das Land Niederösterreich etwa gewährte bis vor kurzem noch ihren 100 am stärksten von Abwanderung betroffenen Städten und Gemeinden eine erhöhte Wohnbauförderung – und hielt damit die Bautätigkeit in vielen Kommunen künstlich am Leben, die auf Dauer nicht im heutigen Umfang zu erhalten sein werden.

Was in Österreich noch mehrheitlich verdrängt wird, sorgt in Deutschland schon seit Jahren für öffentliche Diskussionen und fachliche Auseinandersetzung. Demografen prognostizieren unserem Nachbarland bis Mitte des Jahrhunderts einen Verlust von rund 20 Millionen Einwohnern – sollte sich an der Migrationspolitik nichts Entscheidendes ändern. Besonders in den Neuen Bundesländern sind mit der Wende die Geburtenzahlen dramatisch eingebrochen, da es die kostenlose Kinderbetreuung, den sicheren Job und die günstige Wohnung aus kommunistischen Zeiten nicht mehr gab. Durch die 1989 auch im Osten einsetzende Suburbanisierung sowie die Abwanderung von Arbeitskräften nach Westdeutschland stehen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR bereits heute rund eine Million Wohnungen leer – und bis 2030 wird sich diese Zahl noch verdoppeln.

Umstrukturierungsgebiet Leipzig

Leipzig etwa – nach Ostberlin die einst größte Stadt im sozialistischen Deutschland – hat in den ersten zehn Jahren nach der Wende 100.000 Bürger verloren. Rund 60.000 Wohnungen sind unbewohnt – sowohl in den Plattenbausiedlungen am Stadtrand als auch in den unter der SED-Ägide verwahrlosten Gründerzeitquartieren im Zentrum. 26 % der Wohnviertel definiert die Leipziger Stadtplanung als »Umstrukturierungsgebiete« – was nichts anderes heißt, als dass hier schon bald keine Wohnhäuser mehr stehen könnten. Denn die Altbausubstanz ohne konkrete Nachfrage zu renovieren, wäre nicht finanzierbar – und die teils desolaten Häuser unsaniert zu belassen, ist allein schon aus Sicherheitsgründen unmöglich. Zudem strahlen heruntergekommene Baublöcke negativ auf noch bewohnte Häuser im Umfeld aus und können ein ganzes Viertel – wie es heißt – runterziehen.

Stadtumbau Ost

Die deutsche Bundesregierung versucht der Verödung ganzer Stadtteile mit dem Sonderprogramm »Stadtumbau Ost« zu begegnen. Schrumpfende Städte sollen geordnet rückgebaut und aufgelockert werden, anstatt unkontrolliert zu verfallen. In Leipzig macht man sich daran, mitten in der Stadt großzügige Freiflächen zu schaffen, wodurch nicht nur die störenden Ruinen verschwinden, sondern auch die verbleibenden Bauten durch neue Grünflächen aufgewertet werden sollen. Der Stadtumbau bedeutet jedenfalls das Ende der Idealvorstellung einer urbanen Dichte. Mehrgeschoßige Plattenbauten werden in verschiedenen ostdeutschen Städten zu Reihenhäusern rückgebaut, innerstädtische Blockrandbebauung durch aufgelockerte Wohnformen mit Garten durchmischt. Großflächige Handelseinrichtungen müssten sich fortan nicht mehr an der Peripherie ansiedeln – sie fänden problemlos in der Stadt Platz. Der Ikea ums Eck und der Baustoffmarkt mit Straßenbahnanschluss könnten in schrumpfenden Städten Realität werden.

Die Profiteure des Umbaus

Allerdings gibt es auch Kritik am Programm »Stadtumbau Ost«. Denn der großangelegte, staatlich finanzierte Abriss von Häusern kommt nicht zuletzt jenen zugute, deren Renditen durch die leerstandsbedingte Krise von Mietpreismarkt und Neubausektor litten – den großen Wohnungsgesellschaften, den Bausparkassen sowie der Bauwirtschaft. Alternative Konzepte schlagen vor, statt der Vernichtung von Wohnungen deren Zusammenlegung zu fördern, solange Menschen immer noch auf zu engem Raum leben. Die Wohnfläche pro Kopf beträgt in Ostdeutschland 31 Quadratmeter, in Westdeutschland sind es 42. Eine Angleichung der Wohnfläche von 16 Millionen ostdeutschen Bürgern an den westdeutschen Standard würde rein rechnerisch die Nutzung des gesamten brachliegenden Wohnraums ermöglichen – und darüber hinaus sogar noch Neubaubedarf auslösen.

Abriss und Neubau

Doch mittlerweile ist selbst in Westdeutschland von Stadtumbau die Rede, um dem zunehmenden Wohnungsleerstand zu begegnen – sei es in Hannover, sei es in Bremen. Der Vorwurf besteht auch hier, dass ungenutzter Wohnraum abgebaut wird, nur um den Immobilienmarkt zu »bereinigen« – sprich eine künstliche Wohnungsknappheit zu schaffen. Die Erhaltung leerstehenden Wohnraums kostet Geld – am geförderten Abriss und am ebenfalls geförderten Neubau von Wohnungen lässt sich hingegen verdienen. Zwei Milliarden Euro an öffentlichen Mitteln flossen und fließen in Deutschland in den Rückbau von bis zu 400.000 Wohnungen. Auch außerhalb Europas wächst nicht jede Stadt zur Megacity an – in Nordamerika etwa sind seit langem schon Schrumpfungsprozesse zu beobachten. Memphis, Tennessee, gilt dabei als Paradebeispiel, sowohl für die völlige Verödung einer Stadt als auch für den gescheiterten Versuch ihrer Revitalisierung. Seit den 1960er-Jahren hatte sich Memphis zu einer »Donut City« entwickelt – zu einer Stadt mit einem Loch in der Mitte, mit leerstehenden oder gerade noch von den untersten sozialen Schichten bewohnten Häusern, mit geschlossenen Läden und nahezu ausgestorbenen Straßen.

1,2 Milliarden Dollar an öffentlichen und privaten Investitionen flossen in den 1990er-Jahren in die Aufwertung der Downtown: in den Gebäudeabriss, in die Gebäudesanierung, in eine behübschte Fußgängerzone samt historisierter Tramway – und vor allem in neue Großprojekte: für Shopping und Entertainment samt großzügigen Parkplätzen, adressiert an die Bewohner der Suburbs. Amerikanische Urbanisten bewerten dies nicht als Erneuerung, sondern als Neuerfindung der Innenstadt. Denn trotz der sogenannten Revitalisierung ist das Zentrum von Memphis nach wie vor relativ unbelebt. Man fährt mit einer fast leeren Straßenbahn durch eine fast leere Hauptstraße an zahlreichen leerstehenden Häusern vorbei.

Alternative Geisterstadt

In Russland werden Städte, die sich nicht mehr rechnen, schlicht und einfach aufgegeben. In den 1960er- und 70er-Jahren entstanden in Sibirien zahlreiche Ansiedlungen zur Ausbeutung der reichen Bodenschätze. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verloren diese Städte schlagartig an Bedeutung, und ihre Versorgung mit Lebensmitteln und Sozialleistungen wurde zu einem finanziellen Problem. Vor allem in entlegenen Regionen forderte die Regierung die Bürger auf, ihre Städte zu verlassen. Jenen, die trotzdem blieben, drehte man Strom und Gas ab. So finden sich heute – lediglich vier, fünf Jahrzehnte nach ihrer Gründung – Dutzende Geisterstädte mit verrotteten Häusern und überwucherten Straßen.r

 

>> Zur Person:

Dr. Reinhard Seiß ist Raumplaner, Filmemacher und Fachpublizist in Wien und Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung.




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