Der Moment der Wahrheit
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Für Europa wird es eng – aber vielleicht ist gerade das die Chance, aus eingefahrenen Denkmustern auszubrechen und sich neu zu erfinden.
Ein Kommentar von Alfons FlatscherManche werden mich als hoffnungslosen Optimisten bezeichnen, wenn ich jetzt behaupte, dass sich für Europa gerade eine Jahrhundertchance auftut. Eine Brüsseler Krisensitzung jagt die andere, die Auguren wetteifern um die düstersten Prognosen zum Fall Europas und seines Abstiegs hin zu einem Riesenfreiluftmuseum, das den neuen Herren der Weltwirtschaft nur mehr als abschreckendes Beispiel dient und daran erinnert, wie gnadenlos der Zug der Zeit über einen Kontinent hinwegfegen kann.
Internationale Konzerne ziehen Gelder ab und sehen die Rückkehr der Armut auf breiter Front in die Metropolen des alten Kontinents. Das Aus für den Euro droht und die EU steht vor einer Zerreißprobe, die mit einem Rückfall in nationalistische, provinzielle Politik enden kann, wie Mahner nicht müde werden zu betonen.
>> Nachdenken, analysieren, erneuern <<
Die Chance inmitten des finsteren Umfeldes liegt darin, dass sie einen Moment der Wahrheit eröffnet und damit die Chance, mit neuen Einsichten alte Zöpfe abzuschneiden. Das hat etwas mit Lernen zu tun und das funktioniert bekanntlich nur, wenn man sieht, worin die Fehler liegen, die in die Sackgasse geführt haben. Die Voraussetzung dafür ist, frei nachzudenken, nüchtern zu analysieren und dann neu aufzubauen.
Dass sich hier vieles, zwar langsam, aber immerhin, bewegt, zeigt sich an der Debatte um den Euro, der noch vor kurzem als alleiniger Heilsbringer dargestellt wurde. Zwischenzeitlich sind die heimischen Politeliten dort angelangt, dass sie darauf verzichten, den Euro als Erfolgsgeschichte zu preisen, die ihnen ohnehin keiner mehr glauben würde. Jetzt ist das von der Nationalbank mitgetragene Argument zu hören, dass mit dem Euro zwar nicht alles gut, aber ohne ihn die Sache noch katastrophaler sei. Das ist zwar nicht die ganze Wahrheit, aber ein Schritt dorthin, und das belegt, dass Denkblockaden aufgehoben werden und in Alternativen gedacht wird: »Was wäre, wenn wir eine andere Währung hätten?«, lautet nun die Fragestellung, die freilich noch negativ beantwortet wird: »Die Rückkehr zum Schilling wäre ein Wahnsinn.« Aber jede Wette, dass sich in kurzer Zeit auch hier die Erkenntnis durchsetzt, dass nicht die Währung eine erfolgreiche Wirtschaft macht, sondern umgekehrt – wie Dänemark und Schweden belegen, die mit ihren Kronen gut gefahren sind und mehr als respektable Exporterfolge erzielen.
Der Euro macht nicht Europa. Die Union bestand lange vor der gemeinsamen Währung und sie wird sie überdauern. Und wenn sich die Erkenntnis durchsetzt und die Brüsseler Eliten endlich aufhören, sich selbst eine Grube zu graben, indem sie die Zukunft des gemeinsamen Geldes mit der Zukunft eines politischen Friedensprojektes gleichsetzen, dann ist ein Schritt getan und man kann sich endlich den wirklichen Problemen widmen. Die liegen nicht in der Währung, sie liegen in den Strukturen.
>> Der falsch verstandene Keynes <<
Europa ist so angelegt, dass, egal wie gut die Wirtschaft läuft, am Ende ein fettes Defizit in der Staatsbilanz steht. Das ist mittlerweile in die DNA eingebrannt. In guten Zeiten spielt die Politik Weihnachtsmann und erfindet laufend neue Segnungen, und in schlechten Zeiten beruft sie sich auf John Maynard Keynes und sein Deficit Spending. Gute Zeiten, schlechte Zeiten: Mehr Ausgeben als Einnehmen ist die einzige Konstante und das begründet, warum Keynes wohl der meistmissbrauchte Ökonom der Geschichte ist. Keynes, von dem Friedrich Hayek behauptete, dass er mehr intuitiver Pragmatiker als stringenter Wissenschafter gewesen sei, wurde in den 20er- und 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu einem vermögenden Mann, weil er bei seinen Börsengeschäften genau das tat, was er später als Patentrezept für Finanzminister postulierte: Er kaufte Aktien, wenn alle anderen verkauften, und er verkaufte sie, wenn alle anderen kauften. Mit dieser alten mazedonischen Kaufmannsweisheit wurde er ein reicher Mann und jene, die ihn zum Säulenheiligen stilisieren, vergessen: Das wirkliche Geheimnis liegt im Antizyklischen. Was nicht heißen soll, dass das Problem Europas darin liegt, dass Keynes falsch interpretiert wird.
Seit sieben Jahrzehnten folgt Europa dem Modell Keynes und jetzt erlebt es seine fundamentale Krise, was nahelegt, dass mit dem Modell etwas nicht stimmt. Mittlerweile ahnen viele, was es ist: Die Differenzierungsarbeit bei Leitzinssätzen, Geldmengen, Investitionszielen, Inflationsraten liegt in der Hand erlauchter Planwirtschafter, die den Gral der Weisen zu besitzen glauben, aber sich in Wirklichkeit permanent selbst überschätzen – und das führt früher oder später zum griechischen Extrem.
>> Schmerzloser Abgang <<
Die Politik ist am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt. Hohe Steuern, exorbitante Schulden – das ist der Status quo. An der Steuerschraube ist trotz aller fantasievollen Versuche nicht mehr zu drehen, und die Kreditgeber sind nicht mehr bereit, ihr Kapital zu niedrigsten Zinsen an Pleitekandidaten zu verborgen. Bleibt nur mehr ein Mittel, um das Ableben eines Systems ein wenig hinauszuzögern: das Gelddrucken. Das macht die Europäische Zentralbank jetzt, aber sie weiß im Kern, dass sie agiert wie ein Arzt, der einem Krebspatienten im finalen Stadium Morphium verschreibt. Es geht gar nicht mehr darum, das Leben zu retten – es soll der Abgang nur nicht ganz so schmerzvoll werden.
Wer je mit Morphiumpatienten zu tun hatte, weiß, dass mit der trügerischen Schmerzfreiheit auch der Verlust des Realitätsbezuges kommt. Es setzt die Illusion ein, der Krebs sei überwindbar, nur weil man seine tödliche Kraft nicht mehr spürt.
Dabei braucht Europa gerade jetzt einen Moment der Wahrheit, der für den alten Kontinent eine Chance eröffnet – seine letzte vielleicht.n