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Das Ende der Unternehmensgrenze

Das Ende der Unternehmensgrenze

Das Aufbrechen von Hierarchien, Einbeziehen von Startups und die Bereitschaft, über Abteilungen und Sektoren hinweg Geschäftsideen zu spinnen: Unternehmen aus der Technologie- und Energiewirtschaft wagen eine teils radikale Öffnung ihrer Organisationen.

Schauplatz Wien Liesing. Der 23. Gemeindebezirk hat auf dem ersten Blick wenig Charme. Wiens­ Gewerbezentrum, das nahtlos in das niederösterreichische Industrieviertel übergeht, hat die Kapazunder der hiesigen Wirtschaftswelt versammelt. Die Straßen sind für den LKW-Verkehr ausgelegt, das ins Kaffeehaus ausgelagerte Büro, wie es für Wien immer noch typisch ist, ist hier nicht zu finden. Dafür gibt es einfach keinen Bedarf – Platz für Geschäftstreffen und Besprechungsräume gibt es in den Büro- und Fabrikshallen ja genug.

Bild oben: »Bei uns im Haus können Startups nicht nur ihre Ideen entwickeln und Prototypen schaffen – bei uns kommen sie auch mit Spezialisten für die Serienfertigung ins Gespräch und können bei Bedarf sogar im Haus produzieren«, freut sich Tele-Haase-Geschäftsführer Markus Stelzmann.

Der Elektronikspezialisten Tele Haase schwört seit 1963 auf den Produktionsstandort Wien. Die aktuelle Geschäftsführung des eigentümergeführten Unternehmens hat den alten Hierarchien in der Organisation von Industrieunternehmen aber entsagt. In einem basisdemokratischen Modell wird weitgehend den Mitarbeitern die Unternehmensführung überantwortet. Regelmäßige Meetings und definierte Kompetenzbereiche rund um Kernprozesse wie Vertrieb, Marketing, Produktion oder HR sowie ein transparentes internes Informationssystem stellen die Abläufe im Geschäftsalltag und das Engagement der MitarbeiterInnen sicher. Die beiden »Regisseure« an der Spitze, Christoph Haase und Markus Stelzmann, halten sich dezent im Hintergrund. Sie konzentrieren sich auf in die Zukunft gerichtete Themen.

»Wir haben über die vergangenen vier Jahre eine komplett neue Organisation aufgebaut, die aktuell schon wieder umgestaltet wird«, berichtet Markus Stelzmann. Neue »schöpferische Kraft«, wie Stelzmann es nennt, wird seit September mit dem »Factory Hub Vienna« am Tele-Haase-Standort gewonnen. Der Elektronikspezialist stellt für Jungunternehmen Co-Working Space zur Verfügung und öffnet seine industrielle Infrastruktur für die Startups – von der mechanischen Werkstätte für den Prototypenbau über mietbare Prüfsysteme bis zur Serienproduktion. Zwar stehen den Untermietern eigene Räume zu Verfügung, die Gäste können sich allerdings frei in den Hallen bewegen. »Wir wollen auf Augenhöhe agieren und bieten unsere Expertise aus unseren Technologiebereichen«, erläutert der HUB-Verantwortliche Rafael Gattringer den Unterschied zu typischen Business Angels in der Gründerszene.

Der Co-Working-Space wird als Innovationswerkstätte von der FFG mitfinanziert. In einzelnen Fällen wie bei dem Startup Agrilution hat Tele Haase auch Minderheitsanteile übernommen (zu den Geschäftsmodellen der Startups siehe Infokästen auf diesen Seiten). Dass das Interesse an Kooperationen groß ist, zeigt auch der Verein IoT Austria, der seine monatliche »Makers Vienna Maker Point«-Veranstaltung im Factory Hub abhalten will. Ein heimischer Shooting-Star in der Robotik-Fertigung, Blue Danube Robotics, hat sich für Tele als Fertigungspartner entschieden. Die Wiener entwickeln eine taktil sensitive Haut für Maschinen in der Automatisierung.

Ziel der Öffnung der Unternehmensgrenzen sei es, neues Geschäft zu generieren, heißt es bei Tele. Dass dabei Flächen und Maschinen besser ausgelastet werden und die Organisation auch ständig von Dritten auf die Probe gestellt wird, sind weitere wertvolle Resultate. »Möglichkeiten schaffen und einfach einmal schauen – dann prägt sich schon Neues aus«, gibt sich Stelzmann ganz offen. Gattringer ist angetreten, um eine Community rund um dieses Konzept der Kooperation aufzubauen. »Heutzutage sind Unternehmen schon fast gezwungen, sich externe Partner zu suchen. Auch große Industrieunternehmen wie Automobilkonzerne in Deutschland holen sich Startups in die Entwicklungsabteilungen, die mitunter Probleme lösen, die die Konzerne selbst nicht schaffen«, berichtet er.

Bild oben: »Wien Energie hat seinen Innovationsprozess komplett neu aufgesetzt. Zum einen gibt es neben Technikern nun eigene Innovationsmanager, zum anderen werden neue Methoden wie Design Thinking in den Unternehmens­alltag integriert und externe Experten in den Prozess eingebunden«, erklärt Michael Strebl, Vorsitzender der Geschäftsführung bei Wien Energie.

Hand in Hand mit der österreichischen »Maker-Szene«, in Person etwa Sandra Stromberger von »Industry meets Makers«, soll nun die Produktion der Zukunft geschaffen werden. Die Kundenbeziehung in B2B, wie sie früher einsilbig verlief, ist in Liesing nun fast Geschichte. Der Plattformgedanke, das Netzwerk rund um die eigene Fabrik – das wird bei Tele Haase zum Geschäftsmodell. Die neue Rolle, die man einnehmen möchte, ist nicht rein Fertiger oder Entwickler von Elektronikkomponenten, sondern Teammitglied in Projekten aller Art zu sein. Wenn dies am Ende des Tages in eine Serienproduktion im eigenen Haus resultiert, ist das gut. Aber es ist nicht zwingend vorgesehen. »Für uns und unsere Partner ist das eine Win-win-Situation«, freuen sich Stelzmann und Gattringer über das fruchtbare Miteinander von Technologen und Industriearchitekten, das am Standort zu spüren ist. »Ich kenne europaweit kein anderes Unternehmen, das Bürogrenzen zwischen Unternehmen in dieser Weise auflöst. So radikal denkt das noch keiner«, ist Markus Stelzmann überzeugt.

Neues Innovationszentrum

Ortswechsel in die Wiener Innenstadt. Im November wurden die Tore einer der derzeit größten Startup-Drehscheiben Europas feierlich geöffnet. Das Innovationszentrum weXelerate möchte vom Design Tower am Donaukanal aus Großunternehmen mit Startups aus der ganzen Welt vernetzen. Das Ziel: gemeinsam Dienstleistungen zu entwickeln, neue Märkte zu erschließen sowie Multiplikatoren, Unterstützer und Investoren an einem Ort zu vereinen. Kernstück des weXelerate-Ökosystems bildet ein viermonatiges Accelerator-Programm, das Jungunternehmen offensteht. Dabei arbeiten etablierte Marktplayer mit den Neulingen strukturiert zusammen. Ein Unternehmen, das bereits von Anfang an auf diese Innovationspartnerschaften setzt, ist Wien Energie.

Der Energieversorger geht die Möglichkeiten zur Kooperation alles andere als halbherzig an. In wenigen Wochen wurden bereits gut 40 MitarbeiterInnen in Digitalisierungs- und Innovationsstrategien eingebunden, um rasch zu operativen Umsetzungen zu gelangen. In den ersten vier Monaten sollen nun über weXelerate interessante Startups und Ideen identifiziert und konkrete Projekte abgeleitet werden. Dafür hat ein eigenes Team einen dauerhaften Arbeitsplatz im Hub, kann die dortigen Ressourcen und das Netzwerk ideal nutzen. Dabei wird auch nicht auf das Kerngeschäft vergessen: Als Energiepartner bieten die Wiener Leistungen wie Strom, Wärme, Telekommunikation und E-Mobilität am Standort.

»Wir erwarten uns von Mitteleuropas größtem Innovationshub neue Projekte, die uns am Markt weiterbringen. Die Kooperation mit Startups öffnet uns neue Wege im Unternehmen. Startups punkten mit Schnelligkeit und kreativem Querdenken, wir mit Erfahrung, Ressourcen und Marktzugang. Das ist eine fruchtbare Kombination«, ist Michael Strebl, Vorsitzender der Wien-Energie-Geschäftsführung, überzeugt.

Chatbot, Augmented Reality und Drohnen

Dabei macht das EVU mit dieser Kooperation nur einen weiteren Schritt. Bei einer »Innovation Challenge« hatten sich mehr als 180 Startups aus der ganzen Welt, darunter Teilnehmer aus den USA, Russland oder Südafrika, beworben, um gemeinsam mit dem Gastgeber Lösungen bei E-Mobilität, Services, Facility-Management und Maintenance marktreif zu entwickeln. Die ersten Erfolge sind bereits zu sehen.

Der Chatbot »BotTina« ergänzt den Kundenservice mit automatisierter Kommunikation, Augmented-Reality-Brillen sollen die Wartung von Maschinen und Anlagen revolutionieren und mit smarten Drohnen inspizieren Techniker Windräder auf mögliche Schäden. »Wien Energie hat seinen Innovationsprozess komplett neu aufgesetzt. Zum einen gibt es neben Technikern nun eigene Innovationsmanager, die das kreative und unternehmerische Potenzial der Mitarbeiter fördern. Zum anderen werden neue Methoden wie Design Thinking in den Unternehmensalltag integriert und externe Experten in den Prozess eingebunden«, bekräftigt Strebl.

Green Energy Lab

Auch andere Vertreter der Energiewirtschaft setzen auf Kooperation anstatt Ausgrenzung. Über ein derzeit im Aufbau befindliches »Green Energy Lab« sollen Entwicklungen grüner Energietechnologien am Weg zu 100 % erneuerbarem Strom und Wärme in Österreich umgesetzt werden. Das Projekt des Klima- und Energiefonds wird in Form einer über vier Bundesländer reichenden Region über 100 Unternehmens- und Forschungspartner in 31 Teilprojekten im Wert von 150 Millionen Euro umfassen. Das Green Energy Lab wird von Energie Burgenland, Energie Steiermark, EVN und Wien Energie getragen sowie von der Energie- und Umweltagentur Niederösterreich und dem steirischen Green Tech Cluster unterstützt.

Dabei werden Stadtquartiere mit 100 % erneuerbarer Energie in Graz und Korneuburg demonstriert und neuartige Sorptionswärmespeicher in virtuellen Heizwerken umgesetzt. Es werden Strom- und Wärmenetze mit Hochtemperatur-Wärmepumpen verbunden sowie flexible Stromabnahme von Industrie und Haushalten, solare Wärmeerzeugung und Speicherung im Großformat, inklusive einer smarten Anbindung der NutzerInnen umgesetzt. Neue Technologien wie netzdienlichere Wasserkraft, eine Blockchain-Plattform für Energieaustausch von NutzerInnen, intelligente Plug-and-Play-Stromspeicher für PV, solarthermische Großanlagen und Smart-Grid-Boxen für Strom und Wärme sollen weiterentwickelt werden.

Der voraussichtliche operative Start des Green Energy Labs und seiner Projekte ist für Sommer 2018 geplant. Es ist die Zeit für Veränderungen, und das auch in der Energiewirtschaft – oder, wie Strebl sagt: »Der Energiemarkt ist in Bewegung, die Digitalisierung schreitet voran.«


Factory Hub Vienna

Der Andrang auf einen Platz im Factory Hub Vienna ist jetzt schon groß, heißt es bei Tele Haase. Aktuell sind die Startups 3F Solar, Microgreen, Usepat/Sonic catch eingezogen. Zusätzlich kooperiert Tele mit Agrilution und der Gründungs-Plattform INiTS.

Licht und Wärme

3F Solar kombiniertam Standort von Tele Haase erneuerbare Energiequellen und legt Energiesysteme optimal für Gebäude und Anlagen aus. So hat das Unternehmen beispielsweise den Solar One Hybridkollektor entwickelt, der gleichzeitig Strom durch das Licht und Warmwasser durch die Wärme der Sonne erzeugen kann.

Vernetztes Beet

 

MicroGreen ist ein Hochbeet mit Social-Media-Interface. Über ein integriertes Heizsystem – via Solarkollektor mit Warmwasserreservoir – schafft es ein optimales Mikroklima für die Pflanzen und schützt diese in der kalten Jahreszeit vor Frost. Sensoren überwachen permanent das Mikroklima und informieren den Benutzer per SMS, E-Mail oder WhatsApp, wenn Parameter kritische Werte erreichen.

Sensor für Teilchenverdichter

 

Usepat macht bestehende Sensoren und Messsysteme effizienter, um genauere und stabilere Messergebnisse zu gewinnen. Das Unternehmen bietet zwei Ultraschall-basierte Geräte, die als Add-on zur jeweiligen „betrieblichen Process Analytical Technology“ (PAT) eingesetzt werden können. Auf diese Weise können Teilchen in Flüssigkeiten an bestimmten Stellen verdichtet oder Stellen von Teilchen freigehalten werden.

Gewächshaus

Agrilution entwickelt das vernetzte Plug-and-play-Mini-Bio-Gewächshaus Plantcube, das mit optimierter Klimasteuerung und integrierter Bewässerung Vertical-Farming-System im Küchenschrank ermöglicht. TELE steuert in diesem Projekt die Entwicklung des Software-gestützten Steuerungsmoduls bei. Einmal programmiert, sorgt die Steuerung dafür, dass es den Pflanzen im Cube an nichts mangelt und dass sie mit Wasser, Licht und Nährstoffen versorgt werden.

Last modified onMittwoch, 10 Januar 2018 12:33
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