\"Eine Nische in der Nische“
- Written by Redaktion_Report
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Dies änderte sich erst zu Beginn des 20. Jahrhundert. Der erste Weltkrieg mit knapp 20 Millionen Verwundeten schaffte einen enormen Bedarf an Prothesen. Im Jahr 1916 gelang dem deutschen Chirurgen Ferdinand Sauerbrauch mit einer nach ihm benannten Prothese ein großer Wurf: Beim Sauerbruch-Arm wurde im verbliebenen Armstumpf ein Kanal gelegt, durch den ein Elfenbeinstift geschoben wurde. Dieser Stift konnte Muskelkontraktionen an die Prothese weitergeleitet und die Hand schloss sich zu einem Griff.
Qualitativ war das ein Fortschritt, das Problem war die Quantität. Der Sauerbruch-Arm war teuer und nur einer äußerst betuchten Klientel zugänglich. Das Problem waren aber die unzähligen gemeinen Frontsoldaten, die im Krieg Arme oder Beine verloren hatten. Das Angebot konnte mit der Nachfrage nicht mithalten. Die moderne Prothetik steckte immer noch in den Kinderschuhen, mit den traditionell handwerklichen Methoden war der Bedarf nicht zu decken. Eingebettet in dieses historische Umfeld hatte der deutsche Orthopädiemeister Otto Bock die Idee, Prothesenpassteile in Serienproduktion zu fertigen und direkt an die Orthopädiemechaniker vor Ort zu liefern.
Bald nach der Gründung zog das junge Unternehmen nach Königsee in Thüringen, der Heimat von Otto Bock. Nach Ende des zweiten Weltkriegs wurden Privatvermögen und Fabrik enteignet. Das Unternehmen konnte aber im niedersächsischen Duderstadt überleben, wo Bocks Schwiegersohn Max Näder seit 1946 eine neue Fertigungsstätte aufgebaut hatte.
Im Laufe der Zeit
Seit den Anfangsjahren von Otto Bock hat sich einiges verändert. Das lange Zeit vorherrschende Pappelholz wurde durch Kunststoff und neuerdings auch Carbon ersetzt. Die ästhetik spielt eine immer wichtigere Rolle und die Funktionalität und Alltagstauglichkeit wurden in den Vordergrund gestellt. In großen Maßen unverändert ist die Produktionsweise. Auch heute noch werden in erster Linie Prothesenbauteile gefertigt. Individuell auf den Patienten zugeschnitten wird die Prothese vom Orthopädietechniker.
Standort Wien
Mit seinen zahlreichen internationalen Niederlassungen, darunter etwa die Otto Bock USA in Minneapolis, ist Otto Bock heute einer der wenigen echten Global Player in der Orthopädietechnik. Seit 1969 gibt es auch eine Niederlassung in österreich. Was als reine Vertriebsgesellschaft begonnen hat, wurde 1972 um einen Produktionsstandort zur industriellen Herstellung orthopädischer Artikel erweitert. Heute arbeiten am Wiener Standort 290 Mitarbeiter, die einen Umsatz von 53,5 Millionen Euro erwirtschaften. Der Schwerpunkt in Wien: Forschung und Entwicklung. \"Ein Viertel der Mitarbeiter und 20 Prozent des Umsatzes werden in Wien in Forschung und Entwicklung gesteckt“, erklärt Gerald Haslinger, Unternehmenssprecher Otto Bock Healthcare Products GmbH. Konzernintern genießt die Wiener Niederlassung hohes Ansehen, liegt doch hier die Marktführerschaft für mechatronische Elemente. Etwa das myelektrische Handsystem \"SensorHand Speed“, das ein schnelles und sicheres Zugreifen ermöglicht und dank Griffstabilisierungssystem verhindert, dass Gegenstände aus der Hand rutschen oder fallen gelassen werden. Oder der DynamicArm, ein elektronisch gesteuertes und elektromotorisch angetriebenes Ellbogen-Gelenk. Auch der C-Leg, ein mikroprozessorgesteuertes Kniegelenk, hat seinen Ursprung in Wien. Eine Leistung, die 1999 mit dem österreichischen Innovationspreis honoriert wurde. \"Es ist kein Zufall, dass Otto Bock den Forschungsschwerpunkt nach Wien verlagert hat“, sagt Haslinger. \"Hier findet das Unternehmen ein sehr gut ausgebildetes Personal vor und eine gute Vernetzung mit universitären Instituten.“ Der hohe Stellenwert Wiens innerhalb des Konzerns zeigt sich auch daran, dass Wien das Headquarter für Westeuropa ist - und nicht wie man vielleicht meinen möchte für Osteuropa.
Nischenproblematik
\"Die Anzahl der produzierten Prothesen geht bei Otto Bock in die tausende, nicht aber zigtausende“, sagt Haslinger, der die Medizintechnik als kleine Nische im Gesundheitswesen betrachtet. Dass die Prothetik lediglich eine weitere Nische in dieser Nische ist, lässt sich mit Zahlenmaterial belegen. In österreich gibt es jährlich rund 1000 große Amputationen. \"Für die adäquate Versorgung dieses relativ kleinen Personenkreises braucht es ein Commitment aus Politik, Kostenträger und Mediziner“, ist Haslinger überzeugt. Es sei wichtig für diese kleine Gruppe von Personen, die nicht gut versorgt ist und die über keine nennenswerte Lobby verfügt, einzutreten. Noch in diesem Jahr soll ein Vorschlag an die Politik herangetragen werden, wie man die Versorgung dieser Menschen garantieren könnte. Die Hoffnung, dass der Vorschlag angenommen werden könnte, lebt zwar bei Otto Bock, allzu groß ist sie aber nicht. Schließlich werde überall im Gesundheitswesen eingespart, und damit auch im Bereich der Prothetik. \"Man kann aber das eine mit dem anderen nicht vergleichen“, so Haslinger. \"In der Prothetik geht es nur um eine ´Handvoll Personen´. Wenn hier bei der Versorgung eingespart wird, bleibt nichts mehr übrig.“ In der Pharmazie könne man auf Generika setzen, das sei aber in der Prothetik nicht möglich.
Dass in der Prothetik wie auch in der Medizintechnik allgemein der Rechenstift nicht immer oberstes Gebot ist, bestätigt auch Haslinger. \"In der Forschung gibt es einige Themen, die isoliert betrachtet unwirtschaftlich sind, weil sie nur einer ganz kleinen Zielgruppe dienen.“ Dennoch wolle Otto Bock auch diesen Bereich nicht vernachlässigen. Zum einen gebe es da eine gewisse moralische Verpflichtung und zum anderen könnten die Erkenntnisse aus diesen Bereichen auch anderweitig eingesetzt werden. Diese Vorgehensweise entspricht einer der zentralen überlegung in der Prothetik, bereits bestehende Technologien für die Prothetik nutzbar zu machen.
In- und Outsourcing
Während bei vielen anderen Unternehmen Outsourcing im Zentrum des Interesses steht, geht man bei Otto Bock den umgekehrten Weg - zumindest was kritische Bauteile und technologische Verfahren anbelangt. Schon jetzt werden die meisten Komponenten im Haus produziert, schließlich ist es schwierig, für so geringe Mengen Lieferanten zu finden. Aber auch weniger problematische Bereiche wie das Design sollen schon demnächst wieder \"ingesourct“ werden. Einzig die Grundlagenforschung wird auch in Zukunft nicht ausschließlich intern erledigt. Hier gibt es und wird es weiterhin sehr enge Kooperationen mit Universitäten geben.
Auch wenn der Forschungsaufwand in einem hoch spezialisierten Bereich wie der Prothetik enorm ist, kennt man bei Otto Bock keine Angst vor Plagiaten. Nicht einmal Plagiats-Primus China kann Haslinger beunruhigen \"Unser Vorteil ist es, dass wir etwa auf dem Gebiet der Handprothetik weltweit absolut führend sind“, sagt Haslinger stolz. \"Ein potenzieller Konkurrent wird es sich daher genau überlegen, ob es für ihn Sinn macht, in diesen Bereich einzusteigen und viel Geld zu investieren.“
Ausblick Die Zukunft der Handprothetik liegt laut Gerald Haslinger eindeutig in der intuitiven Steuerung. Mit der heutigen Technologie sind für die Bewegung zwei Elektroden verantwortlich. Durch die Kontraktion der an den Sensoren angeschlossenen Muskeln werden Bewegungen durchgeführt. Derzeit wird bei Otto Bock an einer Steuerung geforscht, die neben der intuitiven Steuerung auch mehrere Befehlen ausführen und mehr Freiheitsgrade beherrschen soll. Mit einer praktischen Umsetzung vor 2015 ist allerdings nicht zu rechnen. |