Wir haben ein System der Reparaturmedizin
- Written by Mag. Angela Heissenberger
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Österreich hat eines der besten Gesundheitssysteme Europas, trotzdem kommen präventive Maßnahmen und extramurale Versorgung zu kurz. Es krankt an der Verteilung, meint Gesundheitsexperte Armin Fidler.
(+) plus: Die Gesundheitskompetenz ist in Österreich besonders niedrig ausgeprägt. Worin zeigt sich das?
Armin Fidler: Im Vorjahr gab es dazu drei voneinander unabhängige Erhebungen – von der OECD, der WHO und der Europäischen Union. Alle drei haben Öster-
reich kein gutes Zeugnis ausgestellt.
Nr. 1 waren in fast allen Studien die Niederlande. Wenn Sie dort in einen Kindergarten oder in eine Schule gehen, sehen Sie sofort, dass Gesundheit dort ein zentrales Thema ist. Bei uns fehlt das völlig im Lehrplan. Es gibt in unseren Schulen auch keine richtige Erfassung von Gesundheitsdaten, die dann österreichweit wissenschaftlich analysiert werden. Das verschwindet alles in der Schublade. Unsere Schulärzte sind zudem völlig falsch eingesetzt. Meist sind es praktische Ärzte oder Betriebsärzte, die das sehr ungern machen, weil es schlecht bezahlt ist. Da wird nur geschaut, ob jemand Plattfüße hat und damit ist die Sache erledigt. Dafür braucht es gar keinen Arzt, eine gut ausgebildete Krankenschwester könnte das – wie in anderen Ländern üblich – auch und vermutlich viel besser. Das ganze System stammt aus dem vorvorigen Jahrhundert und ist nicht mehr zeitgemäß.
(+) plus: Liegt es nur an der Struktur?
Fidler: Wir haben noch immer ein gutes Gesundheitssystem. Diesen uneingeschränkten Zugang zu Spitzenmedizin muss man europaweit suchen. Eine freie Wahl der Ärzte und Krankenhäuser gibt es fast nirgends. Aber: Wir haben ein System der Reparaturmedizin – das ist tief in der Bevölkerung verankert, aber ebenso in der Versorgung. Wenn ich krank werde, gehe ich zum Arzt oder ins Krankenhaus und lasse mich reparieren, um danach genauso weiterzuleben wie vorher. Das ist unser Problem: Die Lebenserwartung steigt. Die schlechte Nachricht ist: Sie steigt in Krankheit. Die Lebensqualität dieser Extra-Jahre ist bei vielen Menschen nicht gut.
(+) plus: Welche Rolle spielt der Bildungslevel?
Fidler: Je höher der Bildungsgrad, umso höher sind der Gesundheitsstatus und die Lebenserwartung. Aber in gewissen Bereichen gibt es diesen linearen Zusammenhang nicht. Eine meiner Master-Studentinnen hat eine Studie zu Bildungsgrad und Impf-Akzeptanz verfasst und herausgefunden, dass die mittlere Bildungsschicht besonders skeptisch und fehlinformiert ist. Während Akademiker und Menschen mit niedrigem Bildungsgrad Impfungen befürworten, zeigen vor allem Menschen mit Maturaniveau einen starken Hang zu konspirativen Gerüchten und lassen ihre Kinder nicht impfen.
(+) plus: In Österreich liegt man öfter und länger im Spital als in anderen Ländern. Sind wir tatsächlich so viel kränker als andere Nationen?
Fidler: Ein Grund ist das aus dem vorigen Jahrhundert datierende Hausarztsystem. Die Praxen sind meist nur ein paar Tage pro Woche offen und da oft nur stundenweise. Als Alternative gibt es die Ambulanz. Von dort ist der Weg zur stationären Aufnahme sehr kurz, man ist ja schließlich schon im Krankenhaus.
Wünschenswert wären deshalb Polykliniken – aber dieses »böse« Wort darf man bei uns ja gar nicht aussprechen, das wird sofort mit Kommunismus assoziiert. Es geht um multifunktionale Gesundheitszentren, die rund um die Uhr geöffnet sind und mit Ärzten, Pflegern, Ernährungsberatung, Physiotherapie, Hebammen usw. alles abdecken, was nicht stationär behandelt werden muss. In Österreich gibt es erst drei solcher Zentren. Wenn wir mit dieser Geschwindigkeit weitermachen, wird es noch sehr lange dauern, bis wir eine flächendeckende Versorgung haben. Mit dem Landarzt als Einzelkämpfer und den niedergelassenen Ärzten in der Stadt kann man die Bevölkerung nicht mehr qualitativ hochwertig und mit günstigem Kosten-Nutzen-Verhältnis versorgen.
(+) plus: Warum wird die Vorsorge in Österreich so wenig forciert?
Fidler: Weltweit gibt es wunderbare Erfahrungen mit Disease-Management-Programmen für chronische Erkrankungen, wie zum Beispiel Diabetes. Es braucht eine Vereinbarung zwischen Arzt, Versicherung und Patient, gemeinsam die Krankheit extramural zu managen. So wird die beste präventive Versorgung sichergestellt.
Ganz berühmt ist das integrierte Gesundheitsmodell »Gesundes Kinzigtal« im Schwarzwald, das von der Universität Freiburg evaluiert wurde und sich seit zehn Jahren bewährt. Es hilft Menschen, möglichst lange nicht ins Krankenhaus zu müssen, weil sie gemeinsam mit dem Hausarzt oder dem Gesundheitszentrum ihre chronische Erkrankung gut im Griff haben.
(+) plus: Wie bekommt man die Leute aus den Notfallambulanzen hinaus?
Fidler: Ich halte eine Ambulanzgebühr für absolut sinnvoll. Wenn man 20 oder 50 Euro verlangen würde, wäre das für alle, die sich – wie es häufig der Fall ist – ohne Notfall selbst einweisen, eine Überlegung wert. Es besteht ja keinerlei Anreiz, zum niedergelassenen Arzt zu gehen, weil die Ambulanz jederzeit offen steht.
(+) plus: Sind finanzielle Anreize auch für Präventionsmaßnahmen sinnvoll?
Fidler: Wenn man dadurch etwa zu rauchen aufhört, macht das absolut Sinn. Rauchen führt nachweislich zu schwerwiegenden, teuren Gesundheitsproblemen. Jährliche Vorsorgeuntersuchungen bei jungen Menschen sind aber fragwürdig. Meistens erwischt man nur Leute, die ohnehin gesundheitsbewusst leben. Aber jene Menschen, die es nötig hätten, gehen wieder nicht hin. Es trifft also meist die Falschen.
Zur Person
Der Mediziner Armin Fidler studierte Gesundheitsökonomie und Public Health in Harvard und war vier Jahre bei der WHO sowie über 20 Jahre bei der Weltbank, zuletzt als Chefberater für Gesundheitspolitik und Strategie, tätig. Derzeit lehrt er am Management Center Innsbruck.