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Die Suche nach der »OMline«

Foto: »Gute Digitalisierung ist ganzheitlich: Sie handelt von der  Herstellung eines Kunden- und  Prozess-Nutzens,  von dem alle einen echten Vorteil  haben. Sie handelt von Zugang, Nutzen und Sinn.« Foto: »Gute Digitalisierung ist ganzheitlich: Sie handelt von der Herstellung eines Kunden- und Prozess-Nutzens, von dem alle einen echten Vorteil haben. Sie handelt von Zugang, Nutzen und Sinn.«

Im Interview mit Report(+)PLUS erklärt Zukunftsforscher Matthias Horx, in welchem Stadium der Digitalisierung wir uns aktuell befinden, wie sich Arbeit verändern wird und warum viele Digitalisierungsstrategien defensiv-getrieben sind.

(+) plus: Seit Jahren wird von der Digitalisierung als einem der großen Megatrends unserer Zeit gesprochen. In welchem Stadium der Wandlung befinden wir uns Ihrer Ansicht nach aktuell: am Beginn, mittendrin oder geht es schon dem Ende zu?

Matthias Horx: Digitalisierung ist ein historischer Querschnitts-Prozess, der lange dauert und unsere gesamte Kultur betrifft. Letztlich geht es um die »Verflüssigung« von Kommunikations-, Produktions- und Wahrnehmungsprozessen. Allerdings befinden sich viele Blasen und Übertreibungen in diesem Prozess, die nach und nach platzen. Manche Plattformen wie Facebook sind so mächtig geworden, dass sie ihren Zenit überschritten haben und sich viele Menschen bereits wieder abwenden. Wir werden noch lange brauchen, um mit Informations- und Kommunikations-Überschwemmung umzugehen. Wir nennen das auch »die Suche nach der OMline«, also der digitalen Ausgeglichenheit. 

(+) plus: Welche Branchen zählen zu den Vorreitern in Sachen Digitalisierung, wo gibt es den größten Nachholbedarf?

Horx: Es gibt in allen Branchen digitale Pioniere und digitale Verweigerer. Oft sind die Traditionsbranchen, die mit der Digitalisierung wenig zu tun zu haben glaubten, diejenigen, die dann am hektischsten nachzuholen versuchen, was sie versäumten – Beispiel Lebensmittelhandel – und dabei gern übers Ziel hinausschießen. Da träumt man dann von volldigitalen Wertschöpfungsketten, wahren Gelddruckmaschinen, in denen man sich mit Kommunikationsrobotern läs­tige Kunden vom Leib zu halten versucht. Das geht dann richtig schief, weil es die Kundenbeziehung im Kern beschädigt. 

(+) plus: Nicht wenige Ökonomen, darunter einflussreiche Vertreter wie Jeremy Rifkin, sehen durch die Digitalisierung das »Ende der Arbeit« auf uns zukommen. Wird uns die Arbeit wirklich ausgehen und ein neues »Armenheer« geschaffen?

Horx: Wahrscheinlich haben sich schon unsere Vorfahren in der Höhle davor gefürchtet, dass die Einführung des Steinkeils die Arbeit mit den Fingernägeln überflüssig macht… Das ist ein Missverständnis. Arbeit erhebt sich von den Plätzen, von der klassischen »lebenslangen« Karriere wird nicht mehr viel übrigbleiben. Aber das »System Arbeit« erfindet immer neue Formen, Farben und Varianten. Allein in den letzten zwei Jahrzehnten sind tausende von Berufen, die wir früher nicht kannten, entstanden, vor allem im kreativen Bereich. Die Evolution der Arbeit führt von der Routine, dem Immergleichen, zur Differenzierung. In diesem Sinne ist die Digitalisierung eine Freisetzung. Tendenziell schafft sie mehr Arbeit, als sie vernichtet. Das wird auch in Zukunft so sein. Nur andere Arbeit, in der es mehr auf Selbstständigkeit, Kreativität und Eigenverantwortung ankommt. Davor fürchten wir uns gerne öffentlich.

(+) plus: Welche gesamtgesellschaftlichen Folgen wird die Digitalisierung und zunehmende Vernetzung sämtlicher Lebensbereiche nach sich ziehen?

Horx: Kevin Kelly, der amerikanische Zukunftsforscher, hat das in seinem neuen Buch »The Uninevitable« mit 12 »ing«-Wörtern ausgedrückt, die es auf den Punkt bringen: becoming, cognifying, flowing, screening, accessing, sharing, filtering, remixing, interacting, tracking, questioning und beginning. Alle diese Prozesse verändern unseren Alltag und lassen uns in ein lebendigeres, prozesshafteres Verhältnis zu unserer Umwelt eintreten. Viele Menschen sehen darin immer nur einen Verlust, aber es ist im Grunde die Fortsetzung dessen, was eine moderne Gesellschaft immer schon versprochen hat.

(+) plus: Bewegen wir uns auf eine Diktatur des Algorithmus zu?

Horx: Das ist auch eine der klassischen beliebten Vereinfachungen. Es werden vielleicht verschiedene Algorithmen gegeneinander konkurrieren, wie auch heute schon, aber die Algorithmen selbst müssen ja auch immer komplexer werden und sich weiterentwickeln. Ich glaube auch nicht, dass sie immer so sehr ein Bedürfnis nach »Diktatur« haben, das ist eher ein Anthromorphismus, eine menschliche Projektion. 

(+) plus: Viele verbinden mit der Digitalisierung die Chance auf neue Geschäftsmodelle. Sie haben in einem Artikel im Handelsblatt geschrieben, dass »die meisten Digitalstrategien angstgetrieben und defensiv sind«. Wie kommen Sie zu diesem negativen Schluss?

Horx: Ich erlebe immer wieder, wie reduziert und im Grunde defensiv Digitalisierungsstrategien geplant werden. Da geht es ganz oft nur um »Wir müssen Kosten senken und dafür die EDV ausbauen«. Und dann wird davon geredet, dass man die Mitarbeiter »mitnehmen« muss. Aber die Mitarbeiter wissen ganz genau, dass sie selbst es sind, die wegrationalisiert werden sollen, und deshalb blockieren sie, so gut es geht. Gute, das heißt »erleuchtete« Digitalisierung ist ganzheitlich: Sie handelt von der Herstellung eines Kunden- und Prozess-Nutzens, von dem alle einen echten Vorteil haben.

Sie handelt von Zugang, Nutzen und Sinn. Eigentlich geht es um Beziehungsarbeit: Informationen, Kunden und Nutzungsformen werden miteinander verknüpft. Ich zum Beispiel habe vier Abonnements für Bio-Jeans der Marke MUD. Ich zahle sieben Euro im Monat, und wenn die Jeans abgetragen ist, schicke ich sie zurück und es wird eine neue daraus gemacht. Das ist eine sinnvolle digitale Anwendung.


Buchtipp:

Die Studie »Digitale Erleuchtung – alles wird gut« (Hg. Christian Schuldt) ist beim Zukunftsinstitut (www.zukunftsinstitut.de) erhältlich.

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