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…und irgendwann wird digital dann doch immer analog

…und irgendwann wird digital dann doch immer analog Foto: Thinkstock

Der Bassenatratsch ist nicht tot. Im Gegenteil! Es gibt zwar kaum mehr irgendwo eine öffentliche Wasserstelle am Gang eines alten Mietshauses, dafür gibt es jetzt Facebook, Twitter und Co. Es wird »geposted«, »geliked«, »geshared« – nur eben nicht lokal, sondern gleich global. Ein Gastkommentar von Herbert Strobl.

Sich über Banalitäten auszutauschen, Meinungs- und Gefühlsallianzen zu schließen, manchmal auch über andere herzuziehen, um sich selbst besser zu fühlen, sind wohl tief verankerte soziale Grundbedürfnisse. Und im Schutze eines anonymen Mediums geht dies ja auch noch leichter als früher. Da sind Grenzüberschreitungen viel niederschwelliger als im direkten Kontakt mit einem physischen Gegenüber.
Medikamente enthalten nicht umsonst einen Beipackzettel, der auf unerwünschte Nebenwirkungen aufmerksam macht. Das Internet hat jedoch keinen Beipackzettel und vergisst so gut wie nie. Das merken viele spätestens, wenn sie sich um einen Job bewerben.

Ähnlich wie bei einer Safari, bei der man die meisten Tiere jeweils an den Wasserstellen vorfindet, wissen Personalisten auch genau, wo sie sich ex ante über Kandidaten informieren können. Online-Bewerbung geht heute Hand in Hand mit einem summarischen Online-Screening. Alles schnell, einfach, jederzeit – dieser digitale Takt wird sich wohl bei der Jobsuche zum neuen Standard entwickeln. Das spricht primär jene an, die in der Lage sind, im Zeitalter von Industrie 4.0 & Co das Tempo der digitalisierten Arbeitswelt nicht nur mitzuhalten, sondern den Weg dorthin auch noch aktiv mitzugestalten.

Trotzdem ist all dies bestenfalls die halbe Miete. Für die Identifikation der Toptalente wird immer noch das gute alte Gespräch die Hauptrolle spielen müssen. Jeder digitale Balzruf braucht irgendwann eine echte Begegnung, um festzustellen, ob die »berufliche Ehe« Sinn machen kann. Nur im Gespräch lässt sich ansatzweise die Passung zwischen Mensch und Organisation feststellen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt sollte sich die Geschwindigkeit im Recruiting verlangsamen und dafür die Gründlichkeit beim gegenseitigen Begutachten steigern. Es geht um nichts Geringeres als den »cultural fit«: Passen die Werte, Motive und Ziele eines Mitarbeiters mit denen der Organisation zusammen? Das ist der entscheidende Punkt dafür, wie gut die längerfristige Zusammenarbeit funktionieren kann. Leider haben Unternehmen oft viel zu wenig Ahnung von ihrer eigenen, gelebten Kultur. »Der Fisch im Wasser weiß gar nicht mehr, was nass eigentlich bedeutet«, könnte man hier wohl bemerken. Viele Organisationen sehen ihre eigene Kulturdefinition primär auch unter einem Marketingaspekt, um nach außen hin ein bestimmtes Image zu zeigen. Mit all den negativen Konsequenzen für den »cultural fit«, wenn das ursprünglich glänzende »Hui« sich dann binnen kurzer Zeit in ein gefühltes »Pfui« wandelt.

Erwartungshaltungen sind bekanntlich nichts anderes als einseitige Verträge, von deren Existenz der andere gar nichts weiß. Gerade diese – impliziten – Erwartungen müssen im Recruiting-Prozess angesprochen werden. Das ist keine leichte Sache und das kann kein Internet abbilden. Der elektronische Heuhaufen ist einfach größer geworden, und die Suche darin ist deshalb um einiges schwieriger. Es gilt bestenfalls: Digital anlocken und dann sehr analog auswählen.


Über den Autor

Herbert Strobl ist Managementberater und Entwicklungsbegleiter mit Schwerpunkt auf Führung, Veränderung und Unternehmenskultur. Er verfügt über 20 Jahre Führungserfahrung in internationalen Konzernen und arbeitet seit vielen Jahren als systemischer Unternehmensberater, Executive-Coach und Wirtschaftsmediator.

 

Last modified onDienstag, 27 Oktober 2015 12:21
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