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Sind wir noch zu retten?

\"Europa hat die längste Wohlstandsphase in seiner Geschichte.

Trotzdem versuchen manche Kräfte anlässlich der aktuellen Situation, die EU zu Grabe zu tragen. Andere wollen eine Vollkaskopolitik durchsetzen, damit sie ihre eigenen Hausaufgaben nicht machen müssen. Für die einen ist klar, dass aus der »Krise« nur ein gestärktes Europa führen kann. Andere wittern in allem europäischen Denken sofort Landesverrat. Ja, sind wir noch zu retten? Eine Polemik.

Von Gilbert Rukschcio.

Offensichtlich geht es uns zu gut. Kann Europa nicht mit seinem Glück klarkommen? Sind Europäer am Ende alle Wiener, die trotz bester Lebensqualität jammern wie die Weltmeister? Anders ist es nicht zu erklären, was sich derzeit auf unserem Kontinent abspielt. Da eiern die Staats- und Regierungschefs seit zwei Jahren mit Griechenland herum, das im europäischen Vergleich volkswirtschaftlich eigentlich eine »quantité négligable« darstellt. Aber die Unfähigkeit (oder Unwilligkeit?), die richtigen Lehren aus dem Versagen der Maastricht-Kriterien zu ziehen, lässt Griechenland zum Systemrisiko werden. Immerhin: Die bisherige Behandlung hat noch nicht zum Herztod des Patienten Europa geführt, aber wir waren mehrmals sehr nahe dran, den Defibrillator zu verwenden.  

Und, immerhin: Während die letzte vergleichbare Situation, die Wirtschaftskrise in den 1930er-Jahren, direkt in den Zweiten Weltkrieg mündete, begnügen wir uns diesmal damit, Witze über die »faulen Griechen« zu machen oder Deutschlands Rolle in Europa mit dem Hitler-Regime zu vergleichen (das steht in Portugal oder Griechenland auf der Tagesordnung). Wir lernen also dazu.

Das Gefährliche an der »Krise« für Europa und die Europäische Union: Es gibt nicht »die eine Krise«, nämlich das singuläre Phänomen, das sich schnell heilen ließe. Wie so üblich spielen eine Vielzahl von Faktoren ineinander und verstärken einander. Das macht es so schwer, eine kohärente Behandlungsmethode zu finden. Doch das Prinzip muss einheitlich sein und für alle gelten: nämlich einheitliche Regeln für alle (Euro-)Staaten und die rigorose Überwachung und Durchsetzung derselbigen. Das jüngst vorgestellte Strategiepapier von Kommissionspräsident Barroso geht auch (endlich!) in diese Richtung.

Der zweite Schritt: die längst überfällige industrielle Revolution in Europa. Vor allem in Süd- und Osteuropa wird viel Geld fließen müssen, um dort produzierendes Gewerbe wieder anzusiedeln. Fließen wird das Geld aus dem ESM, dem zukünftigen Europäischen Währungsfonds. Davon profitieren können am Ende natürlich auch österreichische Firmen, die eine kluge Expansionspolitik in Europa betreiben (wollen).

Wenn diese beiden Schritte gesetzt sind, kann man über weitere Maßnahmen nachdenken. Einheitliche Sozial- und Steuerstandards zum Beispiel. Oder eine Vergemeinschaftung von Schulden. Wobei hier Skepsis und Vorsicht herrschen sollten: Denn der Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten um Betriebsansiedlungen, um die bes­ten Köpfe und die unterschiedlichen Lebensmodelle machen auch die Stärke von Europa aus. Eine Vollkaskopolitik wird jedoch nicht die Krise lösen, sondern nur die nächste in Gang setzen.

Wovor sich Europa aber wirklich retten muss, sind jene Kräfte, die versuchen, die europäischen Errungenschaften der vergangenen 60 Jahre schlechtzureden, wegzuwischen oder gar umzukehren.

 

> Zum Autor:

Gilbert Rukschcio studierte Politikwissenschaft in Wien und Aix-en-Provence. Seine berufliche Laufbahn startete er 2005 im Europäischen Parlament. Er ist Geschäftsführender Gesellschafter von peritia communications und als Politikberater mit Tätigkeitsschwerpunkt in Brüssel  für verschiedene österreichische und internationale Unternehmen und Verbände tätig. In seiner Kolumne »Nachricht aus Brüssel« versorgt er die LeserInnen der Report-Fachmedien mit Hintergrundinfos zu europäischen Fragen.

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