Interessante Zeiten
- Written by Redaktion_Report
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Ray Kurzweil ist ein technologischer Pionier und Innovator aus Leidenschaft. Seit über 30 Jahren ist der vielfach ausgezeichnete US-Erfinder mit altösterreichischen Wurzeln an vorderster Front, wenn es um optische Texterkennung, Spracherkennung und künstliche Intelligenz geht. Und seit Jahren führt der 60-Jährige ein gesundheitlich vorbildliches Leben, trainiert, ernährt sich nach fast zwanghaft ausgetüftelten Diätplänen und schluckt täglich einen Berg an sorgfältig abgestimmten Vitamin- und Nahrungsergänzungstabletten. Kurzweils verblüffendes Ziel: Unsterblichkeit.
Was sich wie der absurde Spleen eines abgehobenen Exzentrikers anhört, hat rationale Gründe. Kurzweil, der neben der Forschung und der Leitung seiner Firmen auch als Buchautor mehrere futurologische Sachbücher verfasste, sieht die reale Chance, dem Tod durch Technologie zu entrinnen - und zwar schon sehr bald. In seinem letzten Buch »The Singularity is Near« (2005) prognostiziert er, ebenso wie viele seiner Kollegen, entscheidende Durchbrüche in Medizin, Nanotechnologie und Neurowissenschaften, die das Leben grundlegend verändern würden. Der Fachbegriff für den Zeitpunkt, ab dem der technologische Fortschritt mit unabsehbaren Folgen die begrenzten Fähigkeiten des Menschen übertrifft: Singularität.
Beschleunigt.
Die Grundlage dieser fantastisch anmutenden Zukunftsprognosen aus der Feder Kurzweils und zahlloser anderer Futurologen ist die sich ständig steigernde Beschleunigung in Technologie und Wissenschaft. Alle 18 Monate, so besagt das 1965 formulierte »Moore’sche Gesetz«, verdoppelt sich die Komplexität integrierter Schaltkreise mit minimalen Komponentenkosten - und damit die Leistungsfähigkeit der immer breiter eingesetzten und bald allgegenwärtigen Computer. Was diese schwer vorstellbare Beschleunigung real bedeutet, zeigt etwa der Arbeitsfortschritt am Human Genome Project: Das auf 15 Jahre angelegte Projekt konnte in seinem Arbeitszeitraum von einer effektiven mehrfachen Vertausendfachung der Rechnerleistung im Vergleich zum Technikstand am Beginn des Projekts profitieren und wurde, entgegen aller Skepsis am Projektbeginn, sogar vor Ablauf der festgesetzten Projektdauer erfolgreich 2003 abgeschlossen. Die exponentielle Zunahme der Rechenleistung wirkt sich aber auch in anderen Bereichen aus: Medizin, Neurowissenschaften, Nanotechnologie, Robotik und AI-Forschung (Künstliche Intelligenz) werden sich in den kommenden Jahrzehnten in einem Ausmaß weiterentwickeln, das schwer abschätzbar und wohl noch schwerer kontrollierbar sein wird.
Fluchtpunkt.
Vernor Vinge, US-Mathematikprofessor an der San Diego State und gefeierter Science-Fiction-Autor, gebrauchte bereits 1993 in einem Essay den ursprünglich technischen Begriff der Singularität, um einen nahenden Zeitpunkt zu bezeichnen, ab dem die exponentielle technische Weiterentwicklung jetzt noch unmöglich absehbare Folgen zeigen würde. Der Zeithorizont erstreckt sich auf wenige Jahrzehnte: Gilt Moores Gesetz weiterhin - was durchaus umstritten ist -, sehen die meisten Singularitätsforscher einen entscheidenden kritischen Zeitpunkt im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, an dem mit aller Wahrscheinlichkeit mehrere technologische Durchbrüche zugleich erzielt werden.
Die Entschlüsselung und technische Simulierbarkeit des menschlichen Gehirns, autonome Roboter mit dem Menschen ebenbürtiger künstlicher Intelligenz, weitreichende Gentherapien, die Krankheiten und sogar dem Alterungsprozess den Schrecken nehmen, Nanotechnologien, die die beliebige Synthetisierung unterschiedlichster Rohstoff ermöglichen - so manches, was heute als Science-Fiction belächelt wird, wird mit einiger Wahrscheinlichkeit zu unseren Lebzeiten durch den uns jetzt schon umgebenden exponentiellen Fortschritt in die Realität umgesetzt werden. Die Visionen von einer derartig beschleunigten Welt, die die Science-Fiction heute anbietet, fallen demgemäß unterschiedlich aus: Vom Untergang der Zivilisation bis zum technischen Utopia scheint den Autoren alles möglich. Langweilig wird die nahe Zukunft allen Vordenkern zufolge also nicht. Skeptiker mögen anmerken, dass dies exakt der Inhalt eines chinesischen Fluches ist: »Mögest du in interessanten Zeiten leben!«