»Der Hebel für Ökologisierung ist enorm«
- Written by Redaktion
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In aspern Seestadt wird »am lebenden Objekt« die Stadt der Zukunft erprobt. Gerhard Schuster, CEO der 3420 aspern Development AG, sieht den Erfolg dieses Stadtentwicklungsprojekts im Nutzungsmix und der Partizipation der Menschen, die hier leben und arbeiten, begründet.
(+) plus: Die Seestadt ist eines der größten Stadtentwicklungsgebiete Europas, konzipiert als multifunktionaler Stadtteil mit Wohnungen, Büros, Produktionsbetrieben und Forschungseinrichtungen. Ist dieser Mix das Erfolgsgeheimnis?
Gerhard Schuster: Mit Sicherheit ist der Nutzungsmix wesentlich dafür verantwortlich, dass die Seestadt eine sehr nachhaltige Entwicklung aufweist. Die Durchmischung erlaubt es uns, viele Nutzungen, die ein funktionierender Stadtteil einfach braucht, kompakt unterzubringen. Das macht sich bezahlt in Ressourcenschonung, in der Belebtheit der Quartiere, im Konzept einer Stadt der kurzen Wege. Und es zeigt sich in unserer Resilienz, auch was die Verwertung betrifft – wie man besonders jetzt in Zeiten von Corona sieht. Wir verwerten sehr erfolgreich weiter und sind in unserer Entwicklung nicht wie viele andere gebremst.
(+) plus: Ein Masterplan wird erst durch die Menschen, die in dem neuen Stadtteil wohnen und arbeiten, zum Leben erweckt. Wie zufrieden sind Sie mit der bisherigen Entwicklung?
Schuster: Enorm! Der Ansatz der Partizipation, den wir von Anfang an verfolgt haben, zieht sich durch immer mehr Bereiche. Mit dem Fokus auf Baugruppen schon ganz zu Beginn kam Initiative in die Seestadt, die uns seither immer gut getan hat und von der alle hier profitieren. Unterstützt und gefördert wird die Zusammenarbeit durch das Stadtteilmanagement, das sowohl die Bewohner als auch die Wirtschaftstreibenden zusammenbringt. Es gibt seit 2015 auch Vernetzungsformate für die in der Seestadt tätigen Unternehmen – daraus haben sich schon unterschiedlichste Kooperationen ergeben.
(+) plus: Können Sie ein Beispiel nennen?
Schuster: Wo unsere smarten Strategien erfreulich gut aufgehen, ist die gemanagte Einkaufsstraße als Impuls für die Stadt der kurzen Wege. Die haben wir gemeinsam mit der SES Spar European Shopping Centers GmbH als Joint Venture umgesetzt. Gemeinsam führen wir die aspern Seestadt Einkaufsstraßengesellschaft, die in strategisch wichtigen Kernzonen die Erdgeschoße anmietet und an Shop-Partner weitervermietet.
Diese Partner suchen wir nach bestimmten Kriterien aus – ganz im Sinne eines gesunden Angebotsmixes. Es gab daher von Anfang an mehrere Lokale, klassische Nahversorger, Bank, Frisör, Apotheke etc. Inzwischen ist das Angebot schon erfreulich bunt und weiter im Wachsen. Zuletzt konnten wir zum Beispiel mit Habibi & Hawara unser Gastroangebot wieder erweitern – in Covid-Zeiten ein wichtiger Vertrauensbeweis seitens der Investoren.
In Summe haben wir jetzt für die Seestädterinnen und Seestädter sowie für die vielen Menschen, die inzwischen hier arbeiten, viele attraktive Angebote: Nahversorgung, Orte für Lunch-Breaks und After-Work-Drinks, den Seepark und See vor der Tür und sogar fünf Skysoccer-Plätze am Dach der Hoch-
garage neben der U-Bahn-Station.
(+) plus: Wird hier die Stadt der Zukunft erprobt?
Schuster: Man kann das schon so sagen, wie verstehen uns ja als Urban Lab der Smart City Wien. Die klimafreundlichen Strategien fangen bei uns bereits auf der Baustelle an: Die wird nämlich über ein Baulogistik-Team gesteuert, mit dem wir z.B. ein extrem nachhaltiges Massenmanagement implementiert haben. Allein durch die Vermeidung von Lkw-Fahrten aus der und in die Seestadt, weil bei uns Materialien vor Ort wiederverwertet werden, konnten wir bisher etwa 5.500 Tonnen CO2 einsparen.
Im Hightech-Bereich angesiedelt sind die Themen der Aspern Smart City Research (ASCR), die in der Seestadt »am lebenden Objekt« Energieeffizienzstrategien beforscht. Vor allem aber arbeiten wir mit dem Team um die Geschäftsführer Robert Grüneis und Georg Pammer sehr intensiv zusammen, wo es darum geht, ihre Forschung auf Testbeds in der Seestadt umzulegen, konkrete Anwendungen und Netzwerkpartner zu finden. Ziel sind immer Win-win-win-Situationen: Die Forschung der ASCR soll von der Zusammenarbeit profitieren, ebenso wie die Entwickler, die Bewohner und Nutzer – und natürlich die Umwelt. Ein gutes Beispiel ist das neueste Projekt der ASCR in der Hochgarage SEEHUB der List Group: Dort geht es um smartes Stromtanken, wobei die Teilnehmer sogar gratis laden können.
(+) plus: Neben Start-ups und Technologiebetrieben haben sich auch Industrieunternehmen angesiedelt. Ist Produktion wieder städtetauglich?
Schuster: Ja, eindeutig. Das hat ganz wesentlich mit ressourcenschonenderen Technologien zu tun, vor allem aber trägt die Digitalisierung dazu bei, dass wieder mehr Unternehmen in der Stadt produzieren. Das Technologiezentrum Seestadt der Wirtschaftsagentur Wien ist ja bekannt für die
Pilotfabrik 4.0 der TU Wien. Was erst wenige kennen, ist das Co-location Center (CLC) des Manufacturing Hubs des Europäischen Innovations- und Technologieinstituts EIT. Dort wird der Frage nachgegangen, wie Europas produzierende Betriebe im globalen Wettbewerb bestehen und dabei sozial wie ökologisch nachhaltig agieren können. Auch die Auswirkungen der fortschreitenden Digitalisierung der Industrie auf Arbeitsplätze werden beleuchtet.
(+) plus: Im Juni startete das Innovationslabor »Digital findet Stadt« mit einem digitalen Kick-off-Event. Welche Rolle spielt die Seestadt darin?
Schuster: Die Plattform verhilft mit ihrem Netzwerk aus über 300 Unternehmen, Interessenvertretungen und Forschungsinstituten vielversprechenden Innovationsvorhaben zur Marktreife und stärkt die Innovationskraft österreichischer KMU. Getragen wird dieses große Vorhaben von extrem kompetenten Playern: Entwickelt haben die Plattform die IG Lebenszyklus Bau und das AIT Austrian Institute of Technology, als weitere Gründungsmitglieder sind der VZI Verband der Ziviltechniker und Ingenieurbetriebe für den Bereich Planung & Bau-Dienstleistungen, Smart Construction Austria mit Fokus auf Errichtung und FMA Facility Management Austria mit Fokus Betrieb an Bord. Wir als Wien 3420 AG bringen uns mit dem Digital Building Demonstration Lab in der Seestadt und unserem Netzwerk ein.
(+) plus: Wer profitiert von diesem Wissensaustausch?
Schuster: Unternehmen und Institutionen aus der Bau- und Immobilienwirtschaft, die an Innovation im Bereich Digitalisierung in der Bau- und Immobilienbranche interessiert sind. Die Plattform richtet sich vor allem an KMU, die aufgrund der starken Branchenfragmentierung und ihrer Größe nur selten die erforderliche Investitionsstärke haben, sich an Innovationsprozessen zu beteiligen.
(+) plus: Sind Innovationen die Chance für Unternehmen, die Folgen der Coronakrise abzufedern?
Schuster: Ja, unbedingt. Wir bieten unser Know-how und Netzwerk, damit die Innovationskraft und die erfolgreiche Kooperation, die es z.B. im Bereich von Energie und Manufacturing schon gibt, auch in der Bau- und Immobilienwirtschaft greift. Der Hebel für die Ökologisierung ist enorm, ebenso das wirtschaftliche Potenzial.
(+) plus: Wurden die Möglichkeiten »smarter« Technologien in Österreich bisher unterschätzt?
Schuster: Das glaube ich eigentlich nicht. Schließlich ist Wien u.a. im Smart City-Ranking von Roland Berger Nr. 1. Die Wirtschaftsagentur Wien fördert diesen Bereich sehr konsequent. Aber was Österreich auszeichnet, ist schon der Blick auf das Ganze und eine »gesunde« Herangehensweise. Das halte ich auch für smart und nachhaltig – und wenn man sich ansieht, wie erfolgreich etliche der Start-ups in der Seestadt sind, bin ich sehr optimistisch.
Aspern, die Seestadt Wiens
- Gesamtfläche: 240 Hektar
- Investitionsvolumen: insgesamt 5 Mrd. Euro
- über 11.000 Wohneinheiten
- aktuell Standort für mehr als 250 Unternehmen
- Technologiezentrum mit Schwerpunkt Industrie 4.0
- Modal Split: 40 % Radfahren und Gehen, 40 % Öffis, 20 % Autos
- U-Bahn- und Schnellbahn-Anbindung
- aktuelle Bauetappe bis 2023: Quartier »Am Seebogen«