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Der Kobra-Effekt

(Foto: photos.com) Je rigidere Regeln ein Unternehmen aufstellt, desto erfinderischer werden die Mitarbeiter dabei, das Messsystem auszutricksen. (Foto: photos.com) Je rigidere Regeln ein Unternehmen aufstellt, desto erfinderischer werden die Mitarbeiter dabei, das Messsystem auszutricksen.

Ein britischer Gouverneur setzte zur Zeit der Kolonialherrschaft eine Prämie für getötete Kobras aus, um die Schlangenplage in Indien einzudämmen. Geschäftstüchtige Inder begannen daraufhin, Kobras zu züchten. Wenn Entscheidungen ein Problem verschärfen statt sie zu lösen, spricht man auch in der Wirtschaft vom »Kobra-Effekt«. Aber welche Anreize funktionieren und wo wirken sie kontraproduktiv?

 

Indien zur Kolonialzeit: Das Land leidet unter einer Kobraplage. Der britische Gouverneur setzt eine Kopfprämie für jede getötete Giftschlange aus. Doch die Inder gehen nicht wie erhofft auf Schlangenjagd, sondern züchten sie. Als ihr Geschäftsmodell auffliegt, wird die Prämie aufgehoben. Mit fataler Wirkung: Die Züchter lassen die Tiere frei, da sie nun keinen Nutzen mehr haben – die Schlangenplage ist ärger als je zuvor.

Die kleine Anekdote – vom deutschen Wirtschaftswissenschafter Horst Siebert in seinem gleichnamigen Buch aufgegriffen – beschreibt einen Anreiz, der eine genau gegenteilige Wirkung auslöst. Siebert bezog seine Kritik auf den deutschen Sozialstaat, der es nahezu unmöglich mache, niedrig qualifizierte Arbeitslose mit Kindern in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Auch der geringste Verdienst würde nämlich auf die Transferleistungen angerechnet – die Betroffenen wären also dumm, Arbeit anzunehmen, wenn dann netto weniger herauskommt.

Die Sozialreform der deutschen Bundesregierung unter Gerhard Schröder geriet so gesehen zum negativen Lehrbeispiel. Das 2002 präsentierte Maßnahmenpaket zur Arbeitsmarktpolitik, besser bekannt unter dem Namen »Hartz IV«, sollte kürzere Verwaltungsabläufe und die Halbierung der Arbeitslosenzahlen bewirken. Das Gegenteil war der Fall. Anfang 2010 stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass die pauschalierten Leistungssätze völlig falsch berechnet waren. Die knapp sieben Millionen Arbeitslosen konnten eine Einzelprüfung ihres Aktes beantragen, bis dahin hatten sie zusätzlich zur Sozialhilfe Anspruch auf ergänzende Leistungen – abgesehen vom immensen bürokratischen Aufwand ein finanzielles Debakel.

>> Minusgeschäft <<

»In der Wirtschaftsgeschichte gibt es zahlreiche Beispiele, in denen die Wirtschaftspolitik in mehr oder minder großem Ausmaß fehlschlug. Zugrunde lag in allen Fällen eine verfehlte Vorstellung darüber, wie Wirtschaft funktioniert«, urteilt Horst Siebert. Auch die Agrarförderung der EU, die uns teuer finanzierte Milchseen und Fleischberge beschert hat, folgte ähnlich fehlgeleiteten Intentionen.
Die »Abwrackprämie« (das österreichische Pendant lautete »Verschrottungsprämie«), am Höhepunkt der Wirtschaftskrise geschaffen, um der Autoindustrie unter die Arme zu greifen, wäre ebenfalls ein würdiger Kandidat. Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) zog jedenfalls eine fatale Bilanz: Rund zwei Millionen Neuwagenkäufe wurden 2009 gefördert, 95 % hätten sich in diesem Jahr aber ohnehin ein neues Auto gekauft. Selbst wenn die Untergrenze für den Mitnahmeeffekt krisenbedingt mit 75 % niedriger angesetzt wird, bleibt »ein ökonomisch schlechter Wert«, analysierte IWH-Präsident Ulrich Blum. Wenn bei einem Autoabsatz von drei Millionen Neuwagen pro Jahr zwei Millionen Käufe gefördert werden, können die Mehreinnahmen durch Steuern und Abgaben die Kosten für die Subventionen nicht aufwiegen. Dazu kommt, dass ein Autokauf erfahrungsgemäß die Anschaffung anderer größerer Konsumgüter, beispielsweise Möbel, verdrängt. Während die Autohändler jubelten, blieb unterm Strich ein Minus.

>> Fatale Belohnung <<

Der »Kobra-Effekt« ist jedoch auch in anderen Bereichen, abseits volkswirtschaftlicher Zusammenhänge, zu entdecken – in der Regel dann, wenn quantitative Anreize nicht gleichzeitig mit qualitativen Anforderungen verknüpft werden. Unternehmensberater Carsten Deckert berichtet von einer Variante des Kobra-Effekts, die dem deutsch-niederländischen Paläoanthropologen Ralph von Königswald widerfuhr. Der Forscher untersuchte auf Java Knochen von Urzeitmenschen. Um mehr Material zu bekommen, bot er den Einheimischen eine Geldprämie pro Knochenfragment. Mit Entsetzen musste er wenig später entdecken, dass die Dorfbewohner die gefundenen Knochen in winzige Teile zertrümmerten, um ihren Profit zu maximieren.

Ein Belohnungssystem für erhöhten Output in der Produktion führt zwangsläufig zu höherem Ausschuss, wenn der Bonus nicht ausschließlich auf Gutteile bezogen wird. Doch selbst dann droht ein Kobra-Effekt – wenn nämlich die Mitarbeiter Maschinen und Werkzeuge so stark strapazieren, dass sie rascher verschleißen und längere Instandhaltungsarbeiten notwendig werden.

Wird im Kundenservice ein Mengenbonus vereinbart, sind die Auswirkungen ebenso fatal. Leichte Aufträge werden vor allem gegen Monatsende vorgezogen, um den Bonus zu erreichen. Die unbeliebten aufwendigen Aufträge, die aber die höchsten Deckungsbeiträge bringen würden, bleiben liegen. Die Kunden sind verärgert und wechseln möglicherweise sogar zu einem Mitbewerber.
Anreizsysteme wirken somit vielfach kontraproduktiv. Je rigidere Regeln ein Unternehmen aufstellt, desto erfinderischer werden Mitarbeiter dabei, das Messsystem auszutricksen. Die Leistungen steigen nicht, obwohl die Kennzahlen auf Grün stehen. Unbrauchbare Ergebnisse können auch Prämien für Innovationen liefern. Gilt nur die Anzahl der eingereichten Ideen als Indikator für die Innovationsaktivität, ist mit einer Flut an uninspirierten Vorschlägen ohne Aussagekraft zu rechnen. Der administrative Aufwand für die Bearbeitung steht in keinem Verhältnis zum Gewinn aus dieser Aktion.

>> Nur der Umsatz zählt <<

Überhöhte Manager-Boni haben den gesamten Finanzsektor in Verruf gebracht. Doch letztlich waren auch sie die logische Folge einer Verknüpfung von einseitigen Zielvereinbarungen und variabler Vergütung. Die höchsten Boni warfen nun einmal riskante Investments ab. Die Aktienkurse wurde somit in astronomische Sphären getrieben – die Blase war für die Banker offensichtlich, aber solange die nicht platzte, konnten sie weiter abkassieren. Ohne persönliches Risiko, denn für die Verluste hafteten die Anleger.

So ist es auch zu erklären, dass Finanzdienstleister ahnungslosen Kunden hochriskante Wertpapiere aufschwatzten, deren Tragweite sie nicht verstanden und die auch nicht ihrem Anlegerprofil entsprachen. Ob etwa eine 20-jährige Laufzeit bei einem 60-jährigen Pensionisten Sinn macht, war den Beratern zumeist egal. Im internen Vertriebsranking zählten die Zahl der Abschlüsse und die Höhe der Investitionssumme.  Rüdiger Hossiep, Organisationspsychologe an der Universität Bochum, bringt noch einen weiteren Aspekt ins Spiel: »Durch hohe Boni kommen die falschen Mitarbeiter nach oben.« Jene, die für den eigenen Vorteil über Leichen gehen – ohne Rücksicht auf den Kunden oder die Firma, die für kurzfristige Erfolge geradestehen muss, wenn Schadenersatzforderungen fällig werden. Statt den Umsatz als einzige Zielgröße festzulegen, sollte beispielsweise die Kundenzufriedenheit einbezogen werden. Denn der Erfolg eines Unternehmens misst sich auch an der Anzahl der Kunden, die wiederkehren und ein zweites oder drittes Mal kaufen.

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