Wissen ist Macht
- Written by Redaktion_Report
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Ohne übertreibung: Wikipedia ist DAS Nachschlagewerk des 21. Jahrhunderts. Gegründet im Januar 2001 vom Amerikaner Jimmy Wales, stellt Wikipedia heute das größte kostenlose Online-Nachschlagewerk der Welt dar. Das zugrundeliegende revolutionäre Konzept, das Wikipedia von anderen Enzyklopädien wie etwa der Encyclopedia Britannica unterscheidet, ist die Offenheit. Jedermann kann sich registrieren und Einträge gestalten, ändern oder korrigieren - bisher haben 285.000 gemeldete Nutzer Beiträge gestaltet, die, wie kontinuierliche überprüfungen ergeben haben, denen in kostenpflichtigen klassischen Enzyklopädien an Korrektheit nur wenig bis gar nicht nachstehen. Ein Vergleich des renommierten Fachblatts c`t ergab etwa 2007, dass die Fehlerquote sowohl bei Wikipedia als auch beim Platzhirschen Encyclopedia Britannica und bei anderen Konkurrenten wie Bertelsmann, Brockhaus und Encarta in etwa gleich niedrig wäre; bei Aktualität und Vollständigkeit läge die Gratis-Enzyklopädie sogar vorne. Also alles eitel Wonne? Weit gefehlt.
Richtig anonym waren die Editoren der Wikipedia niemals, und auch die Art der änderungen konnte jederzeit nachgeprüft werden. Doch als am 14. August 2007 der 24-jährige US-Student und Hacker Virgil Griffith sein Tool Wikiscanner vorstellt, ändert sich die Wiki-Welt auf einen Schlag: Wikiscanner führt die bekannten Informationen - IP-Adressen der Editoren, Details der jeweiligen änderungen in Artikeln - zusammen und vergleicht sie mit Adressdatenbanken großer und kleiner Organsiationen. Das Resultat: Ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, Manipulationen und Lügen wird aufgedeckt. Mit Staunen, Amüsement und Entsetzen wird klar, was schon zuvor handfeste Vermutung war: Die Offenheit des Zugangs wurde vielfach dazu genutzt, Unliebsames verschwinden zu lassen, Kritik zu unterdrücken, Falschinformationen zu streuen und Gegner zu diffamieren. Die Täter: buchstäblich alles, was Rang und Namen hat.
Die US-Behörden Homeland Security, CIA, NSA und Mitarbeiter des Pentagon, durch Wikiscanner anhand der IP identifiziert, löschen 9/11-Verschwörungstheorien und anderes Unliebsames am laufenden Band. Scientology ändert kritische Einträge. Fox News, immer \"fair and balanced“, dreht sich auch in Wikipedia die Welt so, wie man sie gerne hätte. Politische Parteien, große Firmen wie Pepsi, Boeing, Monsanto, die RIAA, Nestlé, Exxon - täglich sammelte das US-Magazin Wired die neu auftauchenden \"Spin-Jobs“ in einer konstant wachsenden Liste. Seit der Wikiscanner auch für die deutsche Wikipedia funktioniert, kommt sogar die österreichische Variante des Skandals an die Medien: Die rote und schwarze Reichshälfte hätten sich gegenseitig in Wikipedia nichts geschenkt. Ist Wikipedia damit seiner eigenen Stärke zum Opfer gefallen - dem freien Zugang der User?
Die überraschende Antwort ist: nein, im Gegenteil. Die schlechte Publicity, die durch die Aufdeckungen des Wikiscanners für die eifrigsten Manipulierer entstanden ist, sollte zumindest kurzzeitig als Abschreckung wirken. Doch das Verblüffendste an der \"Affäre“ ist die trotz all dieser Beeinflussungsversuche erstaunliche Stabilität der Enzyklopädie: Die meisten der protokollierten Manipulationen wurden innerhalb kürzester Zeit von anderen Usern wiederhergestellt - je beharrlicher versucht wurde, den jeweiligen Wikipedia-Eintrag in eine Richtung zu manipulieren, desto hartnäckiger antworteten unzählige andere Editoren daran, wieder mehr Objektivität herzustellen. In einem Medium, das, anders als alle anderen Medien, nicht top-down, sondern, ganz Web 2.0, von ALLEN Usern gestaltet wird, haben etwaige Wahrheitsverdreher weniger zu sagen als anderswo. Dazu passt, dass Wikipedia-Gründer Jimmy Wales wiederholt Anfragen der chinesischen Regierung abgelehnt hat, im großen Stil kritische Inhalte in Wikipedia für chinesische User zu zensieren und sich somit an Chinas Internet-Zensurpolitik anzupassen. Microsoft, Yahoo und Google haben China bekanntlich Folge geleistet - Wikipedia bleibt offen. Und DAS Nachschlagewerk des 21. Jahrhunderts.
Links www.wikipedia.com wikiscanner.virgil.gr blog.wired.com/27bstroke6/wikiwatch |