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Die Sprache des Raumes

Eigentlich war diese Geschichte ganz anders geplant: In einer Redaktionssitzung kam zur Sprache, dass Firmenaufstellungen immer mehr in Mode kommen. Journalisten sind naturgemäß notorische Skeptiker - »so ein Humbug«, dachten wir uns denn auch gleich. Das ist so schon seit Jahren nachzulesen: Da gibt es diese Familienaufstellungen, da geschehen Dinge, die haben wir als Kinder als »Tischerlrucken« kennen gelernt. Da kann also was nicht in Ordnung sein, wenn jetzt auch schon Firmen aufgestellt werden. Als Journalisten (als Skeptiker) erfüllen wir für unsere Leser die Aufgabe, genau nachzufragen (damit der Leser nachlesen kann) - das ist dann auch geschehen. Das ursprüngliche Bild wandelte sich jedoch bald:
Durchaus »ernstzunehmende« Leute, also solche, die nie und nimmer der esoterischen Ecke (mehr dazu später) zuzuordnen sind, beschäftigen sich ernsthaft mit dem »Aufstellen«.
Der nächste Schritt: Beim Carl-Auer Verlag nachfragen, was die für Literatur zu bieten haben. Und siehe da: Fritz Simon, Mitbegründer des Verlages und jedem Personalentwickler als systemische Lichtgestalt bekannt, befasst sich auch mit dem Thema. Simon ist überzeugter Konstruktivist, das heißt, er ist davon überzeugt, dass »Wissen« nicht in der Luft herumschwirrt, sondern nur in Körpern von biologischen Individuen generiert werden kann.

Historisches
Nach dieser ausnahmsweise überlangen Einleitung zu den Fakten. »Aufstellungsarbeit« wurde in den Neunzigerjahren so richtig zum Boom. Da kommt man um einen Mann nicht herum: Bert Hellinger, geboren 1925, katholischer Priester, der 1970 dieses Amt zurücklegte, um sich der Psychoanalyse zuzuwenden. Er befasste sich mit Themen wie Gruppendynamik, Primärtherapie, Transaktionsanalyse und hypnotherapeutischen Verfahren. Um schließlich seine eigene »systemische Familienaufstellung nach Bert Hellinger« zu entwickeln. Zu Tausenden strömten Anhänger zu seinen Seminaren, ließen sich »aufstellen«, kehrten geläutert oder geheilt nach Hause zurück. Manche Klienten sind aber auch in tiefe Depressionen geraten und entwickelten suizidales Potenzial.

Das Aufstellen
Was war geschehen? Was hat Hellinger »angestellt«? Eigentlich nichts. Doch das Leben funktioniert oft so: Wir beginnen erst zu reflektieren, wenn wir ein ernsthaftes Problem haben. Dieses können wir im stillen Kämmerlein lösen, einen Coach, einen Berater oder eine andere Bezugsperson konsultieren. Bert Hellinger war im Rahmen seiner Ausbildung draufgekommen, dass es da noch was gibt: Wenn man Leute in einem Raum aufstellt, dann zeigen diese an bestimmten Stellen eines Raumes und in bestimmten Abständen und Blickwinkeln zu anderen Personen bestimmte Gefühlsregungen - oder »Wahrnehmungen« . Ein Teil der Bevölkerung findet die Tatsache, dass Stellvertreter oft unglaubliche Gefühlsregungen und unglaubliches Wissen über fremde Personen äußern, grandios, anderen ist das schlichtweg suspekt. Die einen rufen »Humbug«, andere vertreten die Meinung: »Irgendwas muss dran sein, es funktioniert zumindest.« So geschah es denn auch.

Esoterik
Ein Gutteil der Hellinger-Anhänger kam und kommt aus der Esoterikecke. Das hat seine Gründe: In Familienaufstellungen wurden unbekannte Halbgeschwister entdeckt, sexuelle Missbräuche ans Tageslicht gebracht (im Film »Das Fest« grandios geschildert). Das sind unerklärliche Dinge, wer sich Unerklärliches erklären will, muss glauben. Menschen aber, die sich die Welt »rational« erklären, konnten derartige Gefühlsregungen nicht mit Erkenntnissen in Einklang bringen. Kein Wunder also, dass es zu Polarisierungen kam.

Neutrale Player
Nach und nach aber betraten - wir nennen sie mal so - »neutrale Player« die Aufstellungsbühne. Wie der in München, Laibach und Graz lehrende Logiker Matthias Varga von Kibèd. Der ist ein brillanter Querdenker und erwähnt Aufstellungen in seinen Schriften ganz unverfänglich, ohne jegliche Interpretation in irgendwelche Richtung, als selbstverständliches Werkzeug seiner Arbeit (nicht zu vergessen seine kongeniale Partnerin Insa Sparrer).
Sparrer und Varga entwickelten eine ganze Reihe von speziellen Möglichkeiten, Problemstellungen - wobei das Wort »Problem« wertfrei zu verstehen ist - aufzustellen (Drehbuchaufstellungen, Teamaufstellungen, ja, man kann sogar »sich selbst« aufstellen). All diese Formen nennen die beiden »systemische Strukturaufstellung«.
Das klingt schon mal viel unverdächtiger als »Familienaufstellung«, da denkt man nicht gleich an »unbewältigte Vergangenheit« (das war ja tatsächlich die Hauptkundschaft von Bert Hellinger).

Reizfigur
Wobei wir schon wieder beim »Vater« der Familienaufstellungen angelangt waren. Dass er zur Reizfigur wurde, liegt wohl auch an seinem autoritären, normativen und direktiven Arbeitsstil. Die meisten seiner Nachfolger gehen den Weg, dass nach der Grundaufstellung, die der Klient vornimmt, alle Stellvertreter, nachdem sie ihr Befinden an der Stelle geschildert haben, an der sie sich befinden, ihre Position selber verändern können. Hellinger macht das selbst. Und er hat die Idee der »Ordnung der Liebe« entwickelt. Jede Störung diese Ordnung (etwa die Geburtenfolge bei Geschwistern) mache unweigerlich krank.
Bei Hellinger kann es auch passieren, dass ein Stellvertreter oder Klient, wenn er sich weigert, das zu tun, was der »Meister« anordnete, von diesem sehr unwirsch zurechtgewiesen wird (bis hin zur Drohung, er/sie habe »sowieso keine Chance«). Solche äußerungen kann man wirklich nicht als »systemisch« bezeichnen.

Missverständnisse
Das ist auch der Grund, warum das »Systemische« landläufig gern mit Hellinger verwechselt wird. Erzählt ein Mensch, er sei »systemischer Familientherapeut«, dann erhält er oft die Gegenfrage »aha, nach Hellinger?«. Auch die Beratungsbranche kämpft noch mit der Bezeichnung »systemisch« - weil niemand so genau beschreiben kann, was denn systemisch heißt. Brigitte Sachs-Schaffer, die ein Ausbildungszertifikat für Aufstellungen innehat und in Gießhübel bei Wien tätig ist, erklärt das Wort »systemisch« ziemlich anschaulich: »Das ist die Gesamtheit der Dynamiken, die ein System am Leben erhält.«
Trotz der Unklarheiten und Missverständnisse verbreitete sich die Aufstellungsarbeit immer mehr, weil eben viele Nichtesoteriker die Erfahrung gemacht hatten, dass in einer Aufstellung nützliche Dinge passieren. Zu den prominentesten Vertretern gehören neben Varga und Sparrer Gunthard Weber und Gunther Schmid.

Nach Hellinger
»Nach Hellinger« kann Verschiedenes heißen: zeitlich und ideologisch. Bleiben wir bei der zeitlichen Dimension. Viele Therapeuten und Berater, welche mittlerweile die Aufstellungsarbeit (erfolgreich) anwenden, waren tatsächlich durch Bert Hellinger mit der Arbeit »in Berührung« gekommen. Oder durch Sparrer und Varga, mittlerweile die schillerndsten Fixsterne am systemischen Firmament.
Varga und Sparrer haben kein Problem damit, dass sie bei Hellinger »gelernt« hatten. Ganz im Gegenteil: Sie betonen immer wieder die großen Verdienste Hellingers. Sie haben das Werkzeug allerdings weiterentwickelt und verfeinert. Die Aufstellung ist fixer Bestandteil der von den beiden entwickelte »Tetralemmaarbeit«.

Tun oder nicht tun
Kommen neue Werkzeuge in den Handel, hat man für gewöhnlich zwei Möglichkeiten: Man lässt die Finger davon, weil man nicht weiß, wie sie funktionieren, oder man verwendet sie, weil sie funktionieren. »Wie ein Computer funktioniert, wissen die wenigsten Menschen, trotzdem verwenden ihn die meisten.« Dieses Argument war auch für Martin Kohlhauser, einem Wirtschaftsjournalisten in Wien, ein überzeugendes. Trotzdem: Im privaten und beruflichen Umfeld wurde er immer darauf angesprochen, dass dies alles nur »Zauber und Magie« sein könnte. Das ärgerte ihn einigermaßen und brachte ihn schließlich dazu, »Beweise« zu sammeln, um wenigstens die Wirksamkeit wissenschaftlich zu belegen. Im Frühjahr dieses Jahres erschien im Carl-Auer Verlag seine Arbeit in Buchform: »Organisationsaufstellungen evaluiert - Studie zur Wirksamkeit von Systemaufstellungen«. Damit war zwar noch nichts erklärt, aber wenigstens mal dokumentiert, was alle, die das Werkzeug schon verwendeten, sowieso schon in Erfahrung gebracht hatten. Detail am Rande: Auch er sieht Hellingers Rolle so, dass er »viel von ihm gelernt« habe, die schiefgelaufene Diskussion freilich eine andere Geschichte sei.

Debattenkongress
Etwa zur selben Zeit, als Kohlhauser seine Datensammlung anging, also im Jahre 2003, organisierten Fritz Simon, Gunthard Weber und Gunther Schmid ein bemerkenswertes Seminar: Sie veranstalteten eine Reihe von Aufstellungen und debattierten mach jeder Aufstellung, was denn nun wohl vor sich gegangen sei (und ob wirklich jede Aufstellung auch eine Aufstellung sei). Nachzulesen ebenfalls in einem hervorragenden Buch: »Aufstellungen revisited - nach Hellinger?«. Das war aber nicht als wissenschaftliche Forschung konzipiert, sondern gibt vor allem Aufschluss darüber, warum das Thema in der öffentlichkeit derart kontroversiell diskutiert wurde - und noch immer wird.

Die Neugier
Die Neugier ist es, die viele Menschen immerzu fragen lässt, »warum die Dinge so sind, wie sie sind«. Peter Schlötter aus Karlsruhe ist so ein »Neugierologe«. Nach dem Abitur stand für ihn die Frage an, ob er »entweder mit Menschen oder mit Maschinen« arbeiten sollte. Nach dem Zivildienst im psychosozialen Bereich war ihm klar geworden: »Ich hatte nicht die nötige Härte für einen sozialen Beruf.« Also wurde Maschinenbau studiert.
1994, als er als Abteilungsleiter für Technik einen schnell wachsenden, mittelständischen Betrieb in der Fahrzeugtechnikbranche am Markt etabliert hatte, die »Sache getan war«, kam die Sinnfrage: »Vielleicht doch mit Menschen arbeiten, vor allem mit diesem Hintergrundwissen?« Die Zeit für einen Berufswechsel war gekommen.
Schlötter absolvierte eine psychotherapeutische Ausbildung und eröffnete 1998 eine eigene Praxis. Bei Gunthard Weber kam noch eine Ausbildung für systemische Aufstellungen hinzu, schon 1999 entwickelte Schlötter seine nunmehr berühmten »stummen Vertreter«. Im Jahre 2000 begann ein weiteres Studium am Institut für Familienunternehmen an der Universität Witten/Herdecke. Eines Tages unternahm Schlötter mit seinen ehemaligen Ingenieurskollegen eine Bootsfahrt auf der Loire. Denen erzählte er von seinen stummen Vertretern und welch tolle Ergebnisse Aufstellungsarbeit zeitigt. »Doch die glaubten mir kein Wort, also mussten Beweise her«, erzählt Schlötter. Ein erster Versuch, mit eben diesen skeptischen Exkollegen eine Art »Beweisführung« zu bewerkstelligen, scheiterte kläglich: Er endete in heillosen Diskussionen, weil sich jeder Exkollege das Phänomen anders erklärte.

Rettungsanker
Außerdem wurde Schlötter klar, dass eine wissenschaftliche Arbeit nur Sinn macht, wenn sie eine akademische Prüfung und Anerkennung erfährt. Dazu bedarf es eines »Doktorvaters«. Wer könnte aber Interesse daran haben, dass erforscht wird, wie »Wissen« in Aufstellungen generiert wird? Wo doch diese Forschungsarbeit nicht einmal einer eindeutigen Kategorie zugeordnet werden kann.
Zu diesem Zeitpunkt studierte Schlötter also in Witten, Fritz Simon war einer seiner Professoren. Dem schilderte er sein Vorhaben und stieß nicht nur auf offene Ohren, sondern sogar auf Unterstützung (was eigentlich wiederum nicht verwundert, Simon war zwar immer ein unerbittlicher Hellingerkritiker, dass Aufstellungen funktionieren, hat er jedoch niemals angezweifelt).

b>Kein Zufall
Das wichtigste Detail bei der Arbeit war die Klärung, ob denn die Gefühle, welche Stellvertreter in Aufstellungen fühlen und schildern, nun reiner Zufall sind - oder nicht. Die Vergangenheit hatte ja eine eindeutige Tendenz zu »kein Zufall« gezeigt, es fehlte aber eben der empirische Beweis dafür.
In der Tat stellte sich in über 3000 Einzelversuchen heraus, dass alle Versuchspersonen an allen Plätzen, an die sie gestellt wurden, »signifikant«(wie es wissenschaftlich heißt) die gleichen (zumindest ähnlichen) Empfindungen verspürten und äußerten. Auch bei der Versuchsreihe »Platz suchen« (wo die Stellvertreter nach der Grundaufstellung einen für sie angenehmeren Platz zu suchen hatten) ergab sich das gleiche Bild: Es ist alles andere als Zufall.

Stellungssprache?
Dann bleibt die Frage: »Was ist es dann?« Eine erste Annäherung gelang schon Matthias Varga von Kibèd und Insa Sparrer, die von den Begriffen »fremde Gefühle« und »fremdes Wissen« abgingen, weil das »suggeriert, dass Gefühle oder Wissen irgendwie transportiert werden könnten«, so Varga. Stattdessen führten sie den Begriff »repräsentierende Wahrnehmung« ein und brachten ins Spiel, dass man dies als eine Art »nonverbale Sprache« verstehen könnte.
Von dieser Annahme ging auch Peter Schlötter aus. Da die Zufallsfrage nun geklärt ist, steht die Frage an, welchen Namen man dieser Sprache geben soll. Die wissenschaftliche Version »Sprache von der Stellung im Raum« und ähnliche Formulierungen klingen etwas sperrig, mit unserer Version von der »Sprache des Raumes« kann Schlöter auf Anfrage »gut leben, das gefällt mir sehr gut«.

Offene Fragen
Es sind also bei weitem nicht alle offenen Fragen zum Aufstellungsthema geklärt. Das macht nix. Schlötter: »Wie immer in der Wissenschaft wirft eine Antwort eine Reihe von weiteren Fragen auf.«
»Doktorvater« Fritz Simon haben wir um einen kurzen Metakommentar gebeten - hier ist er: »Schlötter hat nachweisen können, dass das Erleben der Stellvertreter in einer Aufstellung von der Position im Raum in Relation zu den anderen Stellvertretern bestimmt wird und noch von den Merkmalen oder Fähigkeiten der Stellvertreter. Damit hat er gezeigt, dass es sich hier um ein objektivierbares Phänomen handelt und nicht um Massensuggestion oder ähnliches . Nun gilt es, sich wissenschaftlich mit der Frage zu beschäftigen, wie dies zu erklären ist.«

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