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Die Lehre aus der Krise

Sie sind einsame Rufer in der Wüste: Während die Zahnräder im Finanzsystem weiterlaufen, als hätte es nie eine Krise gegeben, warnen Wirtschaftsprofessoren mit teils abstrusen, teils provokanten Thesen vor einem erneuten Crash. Zwischen Absurdität und Hardcore-Liberalismus – Wirtschaftswissenschaften am Scheidepunkt.

Man muss nicht Gordon Gekko heißen, um die Schieflage des Finanzsystems zu erkennen. »Gier ist gut«, predigte die Kultfigur aus Oliver Stones Börsenepos »Wall Street« in den 80er-Jahren. In der aktuell in den Kinos laufenden Fortsetzung »Geld schläft nicht« zeigt sich der Finanzhai nach langem Gefängnisaufenthalt als Geläuterter. 2008, knapp vor dem großen Crash, macht Gekko mit seinem Buch »Ist Gier gut?« eine Lesereise durch die Lande. Die Antwort liefert er gleich mit: Gier ist jetzt legal. Das ganze Finanzsystem ist davon wie ein Krebsgeschwür infiziert. Gekko kritisiert die Spekulationen der Investmentbanken und warnt vor einem Kollaps der Weltwirtschaft. Glauben will ihm niemand.Im Film wie im wirklichen Leben erzeugt der Bankencrash nur eine kurzzeitige Irritation in der Finanzwelt. Seither herrscht Business as usual. Der von einigen geforderte Paradigmenwechsel blieb aus.

Politik am Gängelband
»Die Gier treibt das System immer wieder an«, erklärte etwa Karl-Heinz Brodbeck, Professor an der Münchner Hochschule für Wirtschaftspolitik, in einem Interview. Bis weit ins Mittelalter galt Geld als »öffentliches Gut« – ursprünglich sollte Geld den Austausch von Gütern und Dienstleistungen vermitteln. Um den Wert zu garantieren, mussten die Gold- oder Silberstücke möglichst rein sein und das Siegel des Herrscherhauses tragen. Dieses Vertrauen wurde jedoch von Beginn an missbraucht. Denn die Fürsten, Könige und Kaiser selbst ließen weniger wertvolle Metalle beimischen, um ihren Gewinn zu erhöhen.
Die Möglichkeiten des Missbrauchs haben sich durch die Einführung des Papiergeldes und die Gründung von Banken vervielfacht, meint Brodbeck. Innerhalb eines hochkomplexen, undurchsichtigen Systems könne nun Geld geschaffen werden, ohne dass Kontrolle darüber möglich sei. Statt mit echtem Geld wird mit Aktienbündeln, Anteilen, Optionsscheinen oder anderen Papieren bezahlt –  auf virtueller Basis. Zwar sind die Banken an die Zentralbank gebunden, über das Kreditwesen könne aber die Umlaufgeschwindigkeit und die Menge des Geldes beliebig erhöht werden, so der Ökonom. Er spricht von reinem »Betrug, einem weiteren Missbrauch der öffentlichen Funktion Geld«: »Im Millisekundentakt werden Papiere gehandelt, gewaltige Offerte gemacht, sofort wieder zurückgenommen, wenn keine entsprechenden Gebote hereinkommen.« Die Geldgier halte die Finanzwelt am Laufen. Die angekündig­ten Regulations- und Kontrollinstrumente fielen streichelweich aus – für Brodbeck ein Indiz, dass die Finanzindustrie noch immer »die Politik am Gängelband hält«.

Kontrolle zwecklos
Auch für Vertreter des Wirtschaftsliberalismus wie Barbara Kolm, Generalsekretärin des Wiener Hayek-Instituts, hat die Politik im Umgang mit der Krise versagt. Ihre Conclusio zeigt aber in die entgegengesetzte Richtung: Gerade die engen Rahmenbedingungen der Finanzmärkte hätten »die Menschen in ein Korsett gepresst« und »kreative Ideen« zur Umgehung dieser Regeln praktisch selbst hervorgerufen – gleichzeitig wären die Aufsichtsbehörden zur effizienten Kontrolle offenbar nicht imstande. Ihr Fazit: »Überbordende Kontrolle führt zu nichts.«
Auch die milliardenschweren Banken- und Konjunkturpakete sieht Kolm als Vergeudung. Marode Industriebetriebe am Leben zu erhalten wäre sinnlos – »das Geld hätte man auch gleich anzünden können«. Statt dessen sollten die Staaten danach trachten, ihre Budgets zu konsolidieren und »einen vernünftigen Sparkurs zu fahren«. »Wir leben im 21. Jahrhundert und haben zum Teil Verwaltungsstrukturen des vorletzten Jahrhunderts«, meint Kolm. Der Staat habe lediglich für Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit zu sorgen, mehr brauche es für eine funktionierende Wirtschaft und eine florierende Gesellschaft eigentlich nicht: »Freier Handel ist die beste Voraussetzung für Wohlstand, Wirtschaftswachstum und damit auch für den Frieden.« Kapitalismus in Reinkultur – wer dabei auf der Strecke bleibt, hat wohl einfach Pech gehabt.

Gesellschaft ohne Geld
Franz Hörmann, Professor für Rechnungswesen an der Wirtschaftsuniversität Wien, hatte eindeutig Größeres im Sinn, als er in einem Interview mit »derStandard.at« das Finanzsystem als »Betrugsmodell« bezeichnete. Mit 1.800 Postings innerhalb eines Tages setzte das provokante Statement eine hitzige Grundsatzdiskussion in Gang. Die Reaktionen reichten von euphorischer Zustimmung bis zu Zweifeln an Hörmanns geistiger Zurechnungsfähigkeit und fachlicher Qualifikation. Die positiven Kommentare überwogen bei weitem: Endlich einer, der die Wahrheit sagt – wenn auch wissenschaftlich nicht ganz haltbar.
Der Wirtschaftsprofessor fordert nichts weniger als die Abschaffung des herrschenden Finanzmodells und prophezeit den kompletten Zusammenbruch des Systems in spätestens drei Jahren. Seiner Ansicht nach hat unser derzeitiges Finanz- und Wirtschaftssystem längst ausgedient. Das Modell gehe zum Teil auf die alten Römer zurück, das Zinseszinssystem stamme aus dem zweiten Jahrtausend vor Christus, die doppelte Buchhaltung aus dem 15. Jahrhundert – in keinem anderen Bereich der Gesellschaft oder Wissenschaft würden derart veraltete Methoden noch ernst genommen, so Hörmann. Banken seien in Wirklichkeit Betreiber »verketteter Pyramidenspiele«, denen »das Monopol zur Geldschöpfung über Kredite eingeräumt wird«: »Sie erfinden Geld aus Luft.« Das gesamte Geldsystem basiere auf Schulden, die Geldschöpfung erfolge zu 97 Prozent in den Banken.
Ein Fünkchen Wahrheit mag schon drin stecken, doch gibt es Alternativen? Hörmann verspielt mit seiner Fundamentalkritik jedwede Reputation, indem er das Verschwinden aller Währungen für 2011 ankündigt. Ihm schwebt »eine Gesellschaft ohne Geld« vor, in der die Grundversorgung der Menschen in Gütern und Dienstleistungen abgedeckt wird. Wirtschaftstheorie als fantastisches Konstrukt? Spätestens nächstes Jahr bzw. 2013 wird klar sein, ob Hörmann mit seinen Kassandrarufen Recht behalten hat.

 

Hintergrund: Die Wiener Wurzeln der Tea Party
Sie waren die Vordenker der »Österreichischen Schule der Nationalökonomie« und brachten den radikalen Liberalismus nach Amerika. 1940 emigrierte der Ökonom Ludwig von Mises nach New York, wenig später folgte sein Schüler Friedrich August von Hayek über England. Die beiden jüdischen Intellektuellen standen ursprünglich den Sozialisten nahe, machten aber bald eine Kehrtwende.
Angelehnt an die Theorien des klassischen Liberalismus im England des 18. und 19. Jahrhunderts entwickelten sie ihre eigenen Thesen: Werte stecken nicht objektiv in den Gütern, sondern subjektiv in den Köpfen der Menschen, die Güter und Dienstleistungen für sich bewerten. Handel basiert auf diesen unterschiedlichen Wertschätzungen. Preise spiegeln deshalb nicht die Herstellungskosten oder Arbeit wider, sondern quantifizieren die subjektive Wertschätzung von Gütern und Dienstleistungen.
Obwohl Ludwig von Mises eine universitäre Karriere in den USA versagt blieb, ist seine Lehre im
angloamerikanischen Raum bis heute populärer als im Rest Europas. Sein Selbstbewusstsein war laut einer Biografie, die seine Witwe 1978 verfasste, dennoch ungebrochen: »Ich war der Nationalökonom des Landes«. Er nahm für sich in Anspruch, Österreich vor dem Sozialismus bewahrt zu haben.
Auf Hayeks Hauptwerk, die 1960 erschienene »Constitution of Liberty«, berief sich später die konservative britische Premierministerin Margaret Thatcher: »Darin steht, woran wir glauben.« Ein weiterer österreichischer Ökonom, Joseph Schumpeter, hatte zwar gemeinsam mit Mises studiert, wurde aber von den Vertretern der »Österreichischen Schule« geächtet. Der Kurzzeitfinanzminister (1919/20) emigrierte ebenfalls in die USA und lehrte von 1932 bis 1950 an der Harvard University. Durch seine These, der Kapitalismus sei nicht überlebensfähig, und antisemitische Äußerungen verlor er zunehmend an Ansehen.
Unter den stramm rechten Anhängern der Tea-Party-Bewegung, die jüngst bei den Midterm-Wahlen in den USA für Furore sorgte, gilt Nobelpreisträger Friedrich von Hayek als Guru. Sein Buch »Auf dem Weg in die Knechtschaft« kehrte 76 Jahre nach seinem ersten Erscheinen auf die Bestsellerlisten zurück. Die Hauptthesen des schmalen Bandes: Planwirtschaft führt zu Despotie, nur Marktwirtschaft ist mit Freiheit vereinbar, schon kleinste staatliche Eingriffe sind der erste Schritt in die »Knechtschaft«. Sein Credo erlebt in den Forderungen der Tea-Party nun eine Renaissance: weniger Staat, niedrigere Steuern, totale Deregulierung von Industrie und Wirtschaft. In den Argumenten der weniger intellektuellen Anhänger werden Hayeks Thesen jedoch grotesk verzerrt: In ihren Augen führen Obamas Gesundheitsreform, seine Umweltpolitik und sein Konjunkturprogramm geradewegs in den Kommunismus.

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