Die unterschiedlichen Formen von Extended Reality sind im Alltag noch nicht angekommen. Firmenkunden zeigen jedoch reges Interesse und loten Einsatzmöglichkeiten aus. Virtual Reality ereilte ein ähnliches Schicksal wie viele neue Technologien. Lange bevor die Entwicklung ausgereift ist, überschlagen sich die Meldungen förmlich, welche bahnbrechende Innovation bevorsteht. Bis die ersten Anwendungen auf den Markt kommen, flaut das Interesse merklich ab. Die Produkte kämpfen mit Kinderkrankheiten und können die überzogenen Erwartungen nicht erfüllen. Dieser Absturz ins »Tal der Enttäuschungen«, wie es Gartner Research im bekannten »Hype Cycle« beschreibt, blieb auch Virtual Reality nicht erspart: Klobige Brillen mit kleinen Sichtfenstern und verzögerte Reaktionen durch unzureichende Rechenkapazitäten bremsten die Begeisterung deutlich. Nun, da der Hype abgeflaut ist, könnte doch noch etwas draus werden. Im Vorjahr brachte Microsoft die gesamte Erdoberfläche in nahezu fotorealistischer Qualität in den virtuellen Raum. Facebook-Chef Marc Zuckerberg, der 2015 das Start-up Oculus gekauft hatte und inzwischen dafür belächelt wurde, hielt eisern an der Idee fest, die reale Welt mit digitalen Objekten zu bestücken oder gar durch eine virtuelle Welt zu ersetzen. Noch 2018 gestand er gegenüber Investoren ein, gar nicht so genau zu wissen, wohin die Reise geht: »Ich weiß auch nicht genau, wann das ein großes Ding wird. Anfangs dachte ich, es wird zehn Jahre dauern, bevor es eine massentaugliche Plattform wird.« Massentauglich durch 5G Seither hat sich einiges getan. ExpertInnen sehen 2019 als großen Wendepunkt für Virtual Reality. Mit Sony, HTC, Google und Samsung stiegen weitere große Player in das Geschäft ein. Hardware und Software wurden deutlich leistungsfähiger und erschwinglicher und die Inhalte attraktiver für den breiten Markt. Mussten die Headsets bis vor kurzem noch direkt am Rechner hängen, kann man inzwischen ohne PC oder Konsole per Smartphone-App in virtuelle Welten eintauchen. Selbst Schwindelgefühl und Übelkeit – unangenehme Nebeneffekte der schwachen Auflösung und Bildfrequenz – halten sich nunmehr in Grenzen. Und vor allem: Das Vergnügen wurde erschwinglich. Ab 350 Euro für das VR-Set Oculus Quest mit Brille, Controller und integriertem Soundsystem ist man dabei. Auch das Portfolio an VR-Spielen für die Playstation umfasst bereits mehr als 500 Games. Eine PwC-Studie prognostiziert für die kommenden Jahre allein für VR-Anwendungen zweistellige Zuwachsraten, das Marktvolumen könnte somit 2023 schon bei rund 280 Millionen Euro liegen. Deloitte erwartet, dass 2024 inklusive VR-Hardware und Applikationen 530 Millionen Euro umgesetzt werden könnten – falls neue Gadgets und Anwendungen den Markt erreichen, wären sogar 820 Millionen Euro möglich. »Die Anfangseuphorie ist vorüber. Dabei mehren sich gerade jetzt die Zeichen, dass Virtual Reality eben doch zu einer Technologie für den Massenmarkt heranwachsen könnte«, sagt Werner Ballhaus, Leiter Technologie, Medien und Telekommunikation bei PwC Deutschland. Er sieht als entscheidenden Treiber für die Branche den raschen Ausbau des Mobilfunkstandards 5G sowie das Zusammenwachsen von Virtual und Augmented Reality: »Aufgrund der benötigten Datenmengen und der möglichst niedrigen Latenzzeiten lassen sich VR-Geräte außerhalb des Heimnetzes bislang kaum nutzen. Das allerdings wird sich mit der 5G-Technologie nachhaltig ändern. Parallel könnte die absehbare Verschmelzung von virtueller und erweiterter Realität dazu führen, dass die Anwendungsmöglichkeiten von VR noch einmal deutlich zunehmen – was dann wiederum die Nutzerakzeptanz erhöhen wird.« In der Industrie etabliert Tatsächlich ist der »kleine Bruder« Augmented Reality bereits in vielen Bereichen etabliert. Während die Fortschritte von VR noch auf sich warten ließen, konzentrierten Apple, Google und Microsoft ihre Aktivitäten auf die vermeintlich »einfacheren«, jedenfalls leichter einsetzbaren, Technologien Augmented und Mixed Reality. Google stellte 2019 die VR-Plattform Daydream samt des eigens entwickelten Headsets wieder ein – abseits der Gaming-Nische war das Konzept nur auf geringes Interesse gestoßen. Apple arbeitet laut Bloomberg mit einem Team von rund 1.200 Entwicklern an einem hochwertigen VR-Headset und einer AR-Brille, die unter dem Namen »iGlass« 2022 auf den Markt kommen soll. Die Micro-OLED-Displays für die smarte Brille liefert Sony. Im Vorjahr übernahm Apple zudem die US-Firma NextVR – ein Streaming-Dienst, der Sport- und Musik-Events als VR-Erlebnis aufbereitet. Microsoft hatte mit der Mixed-Reality-Brille »HoloLens« – erstmals Anfang 2016 eingeführt und seit November 2019 in einer verbesserten Version erhältlich – neue Maßstäbe gesetzt. Eine ganze Reihe von Unternehmen setzt die Technologie inzwischen ein, vor allem für Wartungs- oder Reparaturarbeiten, um MitarbeiterInnen mit in die Brille eingeblendeten Anleitungen eine Hilfestellung zu geben. Anspruchsvollere Anwendungen ermöglichen es Designer-Teams, virtuelle Modelle für neue Fahrzeuge, Gebäude oder Produktionsstraßen zu entwerfen und in Echtzeit zu verändern. Zu den Nutzern der ersten Stunde zählte die BMW Group, die im Münchner Pilotwerk neue Fahrzeugkonzepte und Prototypen mittels AR-Brille testet. Durch die AR-Software ARES (Augmented Reality Engineering Space) werden die Gestaltung einzelner Fahrbereiche sowie komplexe Produktionsschritte um bis zu ein Jahr beschleunigt. Reale Geometrien, etwa von einer Karosserie, werden mit maßstabsgetreuen, holographischen 3D-Modellen überlagert. So können verschiedene Varianten für ein zukünftiges Serienfahrzeug samt der zugehörigen Montageprozesse flexibel und kostengünstig verglichen werden. »Mit Hilfe der AR-Brillen und CAD-Daten der Prototypen können wir nun viel schneller nachvollziehen, ob der Fertigungsmitarbeiter das Bauteil später im Serienprozess optimal montieren kann. Damit können wir die Zahl der erforderlichen Testaufbauten deutlich reduzieren«, erklärt Michael Schneider, Leiter Absicherung Gesamtfahrzeug im Pilotwerk München. Die Steuerung erfolgt über einfache Handgesten, mit denen Größe, Position und Winkel der virtuellen Bauteilen verändert werden können. Über den Multi-User-Modus können Teams ortsunabhängig Reviews abhalten, um Fehler frühzeitig zu erkennen. Die FH St. Pölten entwickelte gemeinsam mit dem Beratungsunternehmen René Römer Mechatronic Engineering eine HoloLens-Anwendung zur leichteren Überwachung von Maschinen in einer Fabrik. Während der Schichtleiter durch die Halle geht, kann er durch die AR-Brille auf den virtuellen Dashboards, die über jeder Maschine »schweben«, die aktuellen Leistungsdaten ablesen. »Als Maschinentechniker berate und unterstütze ich Unternehmen dabei, Digitalisierung in der Fertigung voranzutreiben und diese sinnvoll einzusetzen. Diese App ist enorm wichtig, da damit Augmented Reality für KMUs kostengünstig zugänglich wird«, sagt René Römer. Ein wesentlicher Vorteil der Anwendung ist, dass nicht die gesamte IT umgestellt werden muss. Ein Team der Universität Hannover arbeitet an einem AR-basierten Assistenzsystem für Gabelstapler-Fahrer, das das Problem der eingeschränkten Sicht beim Transport sperriger Lasten lösen soll. Mit der AR-Brille sollen die Mitarbeiter künftig durch Hindernisse digital hindurchsehen können, gleichzeitig werden im Sichtfeld zusätzliche Informationen oder Warnhinweise eingeblendet. Virtuelle Trainings Die Siemens AG setzt für die Fertigung elektrischer Antriebstechnik eine Visualisierungslösung ein, die vom Fraunhofer-Institut für Grafische Datenverarbeitung (IGD) in Darmstadt entwickelt wurde. Zu jedem der kundenspezifisch hergestellten Antriebssysteme existiert als digitaler Zwilling ein CAD-Datensatz mit sämtlichen Produktspezifikationen. Über die cloudbasierte Lösung »instant3Dhub« lassen sich auch große Datenmengen unabhängig vom verwendeten Gerät – AR-Brille, Tablet oder Smartphone – in Echtzeit abbilden. Die CAD-Daten der technischen Bauteile bleiben dabei in der IT-Infrastruktur des Rechenzentrums, auf die Mobilgeräte werden lediglich die für die Visualisierung erforderlichen Daten übertragen. Im Juni 2020 übernahm Siemens das schwedische Softwareunternehmen Vizendo AB, einen der führenden Anbieter von virtuellen Operator-Trainings für die Automobilindustrie. »Das Service- und Software-Angebot ist eine ideale Ergänzung unseres Digital-Enterprise-Portfolios«, sagt Karen Florschütz, CEO der Business Unit Customer Services bei Siemens. »Damit können wir Kunden von der Vorbereitung über den Start der Produktion bis hin zur kontinuierlichen Optimierung unterstützen. Die Möglichkeit, die eigenen Mitarbeiter in jeder dieser Phasen ortsunabhängig virtuell zu trainieren, bietet unseren Kunden eine deutlich höhere Flexibilität bei geringerem Aufwand und reduzierten Kosten.« Tablets, VR-Brillen, HoloLens und 3D-Technologie zählen bei BASF bereits seit mehreren Jahren zum Standard – auch in der Ausbildung. Auf dem Ausbildungscampus in Ludwigshafen ging im Vorjahr eine virtuelle Anlage für Produktionstechnik in Betrieb, die als 3D-Modell das gesamte Equipment mit Rohrleitungen, Pumpen und Behältern detailgetreu abbildet. Über eine Virtual-Reality-Anwendung ist das 3D-Modell mit einem Prozessleitsystem verknüpft. Die Lehrlinge lernen an dieser Anlage die Funktionen und Bedienungsabläufe kennen und trainieren verfahrenstechnische Prozesse, wie z.B. das Destillieren. »Durch das virtuelle Training können wir flexibel und mit überschaubarem Aufwand die Ausbildungskapazitäten erweitern und gleichzeitig dem Qualitätsanspruch in der Ausbildung weiterhin gerecht bleiben«, erklärt Markus Hermann, Leiter Aus- und Weiterbildung bei BASF. »Dabei ist uns wichtig: Die Ausbildung im realen Technikum wird nicht von der Ausbildung in der virtuellen Welt abgelöst. Vielmehr ergänzen sich beide Ausbildungswelten.« Knackpunkt Datenschutz Dass der Markt von den bekannten Platzhirschen dominiert wird, lässt bei Datenschützern die Alarmglocken schrillen. Die sensiblen Sensoren erkennen und speichern mehr Details als jede andere Technologie. Innerhalb von 20 Minuten werden knapp zwei Millionen Datenpunkte – von der Motorik über Mimik und Augenbewegungen bis zu Reaktionszeiten – erfasst. Diese Daten geben nicht nur Marketing-Strategen und Content-Produzenten präzise über das Verhalten von KonsumentInnen und NutzerInnen Aufschluss, sondern könnten etwa auch Hinweise auf eine vorliegende Krankheit (z. B. Demenz oder Multiple Sklerose) liefern. Es sei »so gut wie unmöglich, Tracking-Daten in AR und VR zu anonymisieren«, wie Susan Persky vom National Institute of Health bei der IEEE-Konferenz 2020 in Atlanta ausführte. Ein Missbrauch der individuellen Daten von Usern könne nicht ausgeschlossen werden. Die Non-Profit-Organisation XR Safety Initiative legte im vergangenen Herbst ein Basis-Regelwerk vor, das Unternehmen zu einer verantwortungsbewussten Nutzung anhält und das Sammeln personenbezogener Daten untersagt. Dass sich gerade die »Datenhändler« Facebook und Google freiwillig beim Datensammeln einschränken, scheint jedoch mehr als fraglich. Nicht ohne Grund ist die Oculus-Plattform längst mit Facebook verknüpft – wer die Social-Funktionen wie etwa Chats nutzen will, muss sich mit einem Facebook-Account einloggen. Unternehmen, die XR-Technologien firmenintern nutzen, sollten sicherstellen, dass auf die mit Brillen und Apps erfassten Daten nicht von Dritten zugegriffen werden kann. Glossar 1. Virtual Reality (VR). Die User tauchen in eine virtuelle, computergenerierte Welt ein und können dort interagieren. Die Außenwelt wird komplett ausgeblendet. VR beeinflusst die menschlichen Sinne durch Videos, Animationen und Töne. Die Technologie lässt sich mit HMD-Geräten (Head Mounted Display) nutzen, die VR-Brille kann auch mit dem Smartphone verbunden werden. Diverse Apps und Provider wie YouTube bieten bereits Spiele, Filme und Fotos als stereoskopisches 360-Grad-Erlebnis an. 2. Augmented Reality (AR). Die reale Umgebung bleibt sichtbar, zusätzlich werden digitale Inhalte (z. B. Anleitungen) direkt vor das Auge des Users eingeblendet. Die dafür notwendigen Smartglasses haben sich in den letzten Jahren von sperrigen Apparaten zu leichten Brillen mit stark verbessertem Leistungsumfang entwickelt. Ähnliche Anwendungen projizieren die Informationen auf Mobile Devices oder die Windschutzscheibe des Fahrzeugs (z. B. Karten, Streckenhinweise). 3. Mixed Reality (MR). In der Kombination von AR und VR können User mit digitalen Inhalten in der physischen Welt interagieren. MR-Devices erkennen und speichern die Umgebung in ihrer dreidimensionalen Erscheinung, während sie gleichzeitig die spezifische Position des Geräts verfolgen. Die 3D-Abbildungen ermöglichen genauere Einblicke in schwer zugängliche Bereiche, z. B. im Körper oder in Maschinen. Gekoppelt an eine Sprachsteuerung geben sie Menschen mit Sehbehinderung wichtige Hinweise zur Orientierung. 4. Extended Reality (XR). Dieser Überbegriff umfasst eine Verschmelzung aller immersiven Technologien, die unsere Wahrnehmung der realen Welt erweitern und mit virtuellen Elementen kombinieren. XR-Systeme bieten KundInnen die Möglichkeit, 3D-Modelle von Produkten auszuprobieren, ihre Farbe oder Ausstattung zu verändern und sie virtuell in die eigene Wohnumgebung zu versetzen. MitarbeiterInnen können in Trainings bestimmte Techniken üben oder ganze Bauteile konstruieren. Von großen Arealen wie z. B. Flughäfen lassen sich Positionierungssysteme erstellen und Zielpunkte lokalisieren. KI liefert Genauigkeit bis in den Millimeterbereich.