Das entstehende internationale Regelwerk im Kampf gegen Produktpiraterie, ACTA, ist weit mehr als nur Bürokratie. Jetzt regt sich Widerstand. Ein Kommentar von Rainer Sigl. Wenn im EU-Parlament einmal alle einer Meinung sind, sollte man aufhorchen: Mit 633 zu 13 Stimmen forderte Anfang März das europäische Parlament Transparenz in den Verhandlungen um jenes multilaterale Handelsabkommen, das seit 2007 von Vertretern der Industrienationen unter Führung der USA ausgearbeitet wird. Das Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) soll neue Gesetzesrichlinien zur Verwertung geistigen Eigentums festlegen und die Produktpiraterie eindämmen. Obwohl es um heiße Themen wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und Überwachung geht, werden bislang sämtliche Verhandlungspositionen und Gesetzesentwürfe, an deren Entstehung auch die EU-Kommission beteiligt ist, streng geheim hinter verschlossenen Türen ausverhandelt. Das gefiel dem EU-Parlament gar nicht: »Jedes internationale Abkommen, das massiven Einfluss auf das Leben der europäischen Bürger hat, muss transparent und öffentlich beraten werden«, begründete der EU-Parlamentarier Alexander Alvaro die Ablehnung. Lobby-WunschlisteEs scheint, als wäre der Aufschrei des seit dem Lissabon-Vertrag gestärkten EU-Parlaments gerade zur rechten Zeit gekommen, denn die seit kurzem durchsickernden Entwürfe lesen sich wie die Wunschliste der US-Rechteverwertungslobby und wie der Albtraum von Datenschützern und Bürgerrechtlern. So soll etwa die in Europa heftig umstrittene »Three Strikes«-Gesetzgebung gesetzlich einzementiert werden – nach drei Beschuldigungen, das Copyright verletzt zu haben, soll Bürgern weitgehend ohne richterlichen Beschluss der Zugang zum Internet gekappt werden können. Dafür sollen die Internet-Service-Provider zu Websperren, Zensurmaßnahmen, weitreichenden Auskunftspflichten und Datenspeicherung in beispiellosem Ausmaß verpflichtet werden. Auch an Staatsgrenzen müssten sich nach den Wünschen der ACTA-Autoren die Bürger künftig deutlich mehr gefallen lassen als bisher: Laptops, Handys und mp3-Player sollen demnach anlasslos auf Urheberrechte verletzendes Material durchsucht werden dürfen.Einzementierte GeschäftsmodelleDie Zivilgesellschaft sollte von diesen Ungeheuerlichkeiten nach den frommen Wünschen der ACTA-Verhandler am besten erst dann erfahren, wenn die nationalen Regierungen das fertige Papier diskussionslos wegen internationaler Verpflichtungen ratifizieren müssen. Wer hingegen von Anfang an am Verhandlungstisch mit dabei war: die Lobby der Pharmabranche, die auf diesem Weg den Kampf um ihre Profite gegen günstige Generika für die Dritte Welt führt, und natürlich die Vertreter der Musik- und Filmindustrie, die seit Jahren ihr streng riechendes analoges Geschäftsmodell durch globale Abmahnwellen refinanzieren. Die von ACTA ebenfalls angestrebte Stärkung der globalen Patentrechte kommt der US-Industrie sehr gelegen: Durch immer mehr und immer besser geschützte Trivialpatente lässt sich die technologische Konkurrenz in Fernost per Dekret zum ewigen Billiglieferanten deklassieren, der wegen zahlloser patentierter US-Grundtechnologien kaum Chancen auf eigene Innovationen hat.Gut, dass mit dem Durchsickern der skandalösen Vertragsentwürfe und dem Protest des EU-Parlaments nun auch die Öffentlichkeit darauf aufmerksam gemacht wird, was hinter verschlossenen Türen ausgehandelt wird. Denn der an und für sich sinnvolle Kampf gegen Produktfälschungen und Markenklau wird von Lobbyisten dafür genutzt, ihre Geschäftsmodelle und Wettbewerbsvorteile per Gesetz einzuzementieren – und das geht nicht nur auf Kosen der Zivilgesellschaft, die für die Absicherung »geistigen Eigentums« auf mehr und mehr Bürgerrechte verzichten soll, sondern, und das ist die bittere Ironie, auch auf Kosten der Innovation – ein hoher Preis für die ganze Welt.