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Luftige Schätzungen

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Ich möchte im folgenden detaillierter auf einen zentralen Punkt im Fiskalpakt eingehen, gewissermaßen die Wurzel allen Übels. Der Fiskalpakt legt ein Defizitkriterium fest, das die Scheidelinie zwischen Sparen und Nicht-Sparen des Staates zieht: Jeder Vertragsstaat darf ein strukturelles (konjunkturbereinigtes) Defizit von nicht mehr als 0,5% des BIP aufweisen. Das Gesamtdefizit darf 3% nicht übersteigen.

Das strukturelle Defizit ergibt sich durch Subtraktion des konjunkturell bedingten Defizits vom Gesamtdefizit. Als konjunkturell bedingtes Defizit gilt die Hälfte der „Outputlücke“, der Differenz zwischen tatsächlichem und potentiellem BIP (Produktionsvolumen bei Vollauslastung aller Kapazitäten).

Das Stichwort „potentielles BIP“ weist schon darauf hin: Der „Potentialoutput“ kann nur geschätzt werden, indem vermutet wird, was eine Volkswirtschaft produzieren könnte, wenn die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital (Maschinen usw.) voll ausgelastet sind. Das ist bei der Kapitalseite, Maschinen, Anlagen usw. relativ gut möglich – jedes Unternehmen weiß, wie viele Einheiten in der gegebenen Fabrik produziert werden können und wie die Kapazität zu einem gegebenen Zeitpunkt ausgelastet ist.

Auf der Arbeitsseite gibt es zwar Arbeitslosenstatistiken. Aber hier spielt ein seinerzeit von Milton Friedman geprägter Begriff hinein, die sogenannte „natürliche Arbeitslosenquote“. Das dieser entsprechende BIP repräsentiert den Potentialoutput. „Natürlich“ legt zwar nahe, dass das entsprechende Niveau von Arbeitslosigkeit förmlich auf der Hand liegt, aber dem ist nicht so. Und so ist der Potentialoutput eine Schätzaufgabe mit großem Spielraum.

Das Konzept der “natürlichen” Arbeitslosigkeit diente und dient neoliberalen Ökonomen als zentrales Argument gegen den Keynesianismus. Wenn nämlich versucht wird, die Arbeitslosigkeit unter dieses „natürliche“ Niveau zu drücken, entsteht zunehmende Inflation, heißt es. Keynes hatte vorgeschlagen, zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit mit zusätzlicher Staatsverschuldung finanzierte „Konjunkturprogramme“ aufzulegen.

Je nach gewähltem Schätzverfahren, kommt man zu sehr unterschiedlichen, um nicht zu sagen, beliebigen Ergebnissen. Das zeigen folgende Beispiele.

Auf Grund des Defizitkriteriums muss Spanien nach Vorgabe der EU das Defizit von 8,5% auf 3% des BIP senken. Die EU-Kommission schätzt die Outputlücke auf nur 4,1%. Die strukturelle Verschuldung kommt somit auf rund 6,5% – das ist mehr als das zulässige Gesamtdefizit von 3%, also muss Spanien sparen. Bei bereits schrumpfender Wirtschaft beschleunigt sich die Talfahrt, das nominale BIP sinkt innerhalb von zwei bis drei Jahren um weitere (geschätzte) 10%. Dann schätzt die EU-Kommission die Outputlücke auf angenommene 6%, das konjunkturbedingte Defizit somit auf 3%. Bei einem Gesamtdefizit von 3% käme der strukturelle Saldo auf 0% (also unter 0,5%). Ziel erreicht, Heilung erfolgt, Patient tot!

Bei Spanien würde man angesichts der hohen Arbeitslosigkeit von 25% erwarten, dass die Outputlücke viel größer ist. Wenn sie nur so niedrig angesetzt wird, hat das zwei Konsequenzen: Erstens ist damit ein Großteil des spanischen Defizits strukturell und deswegen muss der Staat auch in der Rezession sparen, zweitens kann das nur bedeuten, dass die spanische Arbeitskraft viel zu teuer eingeschätzt wird.

Nach OECD beträgt die Outputlücke der spanischen Wirtschaft 6,1%, die strukturelle Verschuldung kommt danach nur auf rund 5,5%. Bei Griechenland schätzt die OECD die Lücke aktuell sogar auf 18,2%, es gäbe damit bereits jetzt einen strukturellen Budgetüberschuss von 2,0%. Die EU-Kommission sieht die Outputlücke jedoch bei 9,5% und damit das strukturelle Defizit bei 2,6%, das Defizitkriterium ist demnach also nicht erfüllt – es muss weiter gespart werden.

Zurück zu Spanien: Wenn das Land dann schließlich das Defizitkriterium erfüllt hat, kommt das Schuldenkriterium (60% des BIP) zum Zuge. Mit schrumpfender Wirtschaft und sinkenden Staatsausgaben ist die Staatsschuldenquote beispielsweise von 70 auf 90% angestiegen. Nach dem Schuldenkriterium muss der spanische Staat nun 20 Jahre lang 1,5% des BIP einsparen.

Mit dem Fiskalpakt sind Konjunkturprogramme nur noch sehr eingeschränkt möglich. Wenn in Krisen das BIP sinkt, wird auch der Potentialoutput niedriger eingeschätzt. Dadurch wird ein Teil des gestiegenen Defizits „strukturell“, das mit Sparen beantwortet werden muss. Letztlich läuft dann wieder der Kreislauf an, der über sinkenden Konsum zu weiterer Wachstumsschwäche führt.

Es ist prinzipiell richtig, dass der Potentialoutput in einer Krise sinkt. Das liegt u.a. daran, dass auch ungenutzte Produktionsmittel verschleißen. Zudem veralten sie, weil die technische Entwicklung in einer Krise weitergeht. Allerdings wirken diese Effekte mit zeitlicher Verzögerung und es ist schwer, sie genau zu bestimmen.

Stephan Schulmeister, Wirtschaftsforscher in Wien, weist zu Recht auf die Konsequenzen hin: „Es braucht nur genügend häufig Finanzkrisen geben und der Sozialstaat wird in Etappen abgebaut.“ Dabei geht es im Grunde nicht um den Abbau von sozialen Errungenschaften, sondern um die Umverteilung von Vermögen.

Immer wieder ist aus Brüssel das Argument zu hören, man müsse die „Märkte“ beruhigen, nur durch Spardisziplin könne man sich dem Zinsdiktat der „Märkte“ entziehen. Der in einer Demokratie eigentlich vorherrschende Primat der Politik, sprich des kollektiven Willens der Bürger, wird damit an den Nagel gehängt. Die Politik entmündigt sich, vor allem aber den Bürger, den Souverän. Das führt letztlich zu dem, worum das neoliberale Denken kreist, dem Markt in einer möglichst ungezügelten Form. Wirtschaftspolitik wird auf ein paar Regeln reduziert, die man auch von einem Computer abarbeiten lassen kann.

Ein Wirtschaftssystem ist aber dazu da, die Bedürfnisse der Bürger zu befriedigen, nicht die der Banken. Wirtschaft besteht zur Hälfte aus ökonomischen Gesetzen, zur anderen Hälfte aus Menschen. Diese Hälfte sollte die Wirtschaft aktiv gestalten, nicht umgekehrt. Wenn man Auto fährt, nimmt man die Hände ja auch nicht vom Lenkrad.

Natürlich sind die erreichten Schuldenstände unhaltbar. Sie sind unhaltbar geworden, weil das neoliberale Denken die Köpfe in Brüssel und anderswo schon lange befallen hat. Jetzt wollen dieselben Köpfe, die diesen Schlamassel herbeigeführt haben (u.a. durch Bruch der Maastrichter Schuldenkriterien und systematische “Deregulierung”) wissen, wie es richtig geht?

Als die Staaten 2008 auch noch begonnen haben, Banken zu retten, wurde der Grundstein für die heutige Staatssolvenzkrise gelegt. Aber die Bankenrettungen gehen munter weiter – demnächst auch noch via ESM. Genau hier sollte man mal endlich sparen. Man darf gespannt sein, wie die Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen ESM und Fiskalpakt weitergehen.

EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia gibt schon mal einen kleinen Ausblick auf das, was mit der nächsten Bankenrettung auf uns zukommt (h/t Eurointelligence): Er schätzt die totalen Kosten aller EU-weiten Bankenrettungen auf 4 bis 5 % des EU-BIP. Die Summe der Garantien werde auf etwa 10% des BIP-27 kommen (2011: 12,64 Bill. Euro; Eurozonen-BIP (17 Länder) 9,4 Bill. Euro). Da nach den neuen EU-Beschlüssen Banken vom ESM direkt gerettet werden können sollen: Das alleine entspricht dem anfänglich angesetzten Kapital des ESM voll. Und dann sollen auch noch PIIGS gerettet werden…


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Merkel lebt – trotz Vergemeinschaftung von Schulden

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Bundeskanzlerin Merkel hatte am 26. Juni vor der FDP-Bundestagsfraktion gesagt, eine Vergemeinschaftung von Schulden werde es so lange nicht geben, “so lange ich lebe”. Sie hatte da auch gefordert, marode Banken müssten, falls erforderlich, über ihre Staaten unter Auflagen Kredite beantragen, weil es sonst keine Eingriffsmöglichkeiten gibt und „dann habe ich ein Riesenproblem“.

Jetzt, nach dem EU-Gipfel vom 28./29. Juni, gibt es für die Eurozonen-Banken die Möglichkeit, sich direkt aus dem Eurozonen-Krisenfonds ESM zu rekapitalisieren, der im Insolvenzfall haftet.

Heißt das im Umkehrschluss, dass Merkel tot ist – jetzt, da die Vergemeinschaftung von Schulden beschlossen wurde? Offenbar nicht. Und ihr sei auch nach dem üblichen Wortbruch im Umfeld von EU-Gipfeln (vorher „hüh“, hinterher „hott“) weiterhin ein langes Leben gegönnt. Außerdem hätte sie schon bei ihrer Bemerkung am 26. Juni sofort tot umfallen müssen.

Die Eurozonen-weite Vergemeinschaftung von Schulden, genauer die Haftung der Kernländer für die Schulden der PIIGS, ist sowieso nicht davon abhängig, wer an der politischen Spitze der Bundesrepublik Deutschland steht. Schließlich ist auch die „Opposition“ aus SPD und „Grünen“ dafür.

Und die großen deutschen Konzerne.

Volker Grossmann und Guy Kirsch legen in „Verlierer, Profiteure und Risiken der Euro-Rettungspolitik“ dar, „dass alle Bausteine der sog. Euro-Rettungspolitik eine bislang wenig ins öffentliche Bewusstsein gelangte Umverteilung innerhalb der Geberländer wie Deutschland von der Allgemeinheit hin zu Banken und exportierenden Unternehmen bedeutet und keine Umverteilung zugunsten der südlichen Länder.“

Und weiter: „Für die Regierung in Deutschland sind die Anreize für die Fortführung oder Ausweitung der bisherigen Politik nachvollziehbar, wenn auch verwerflich. Nach den bisherigen Versäumnissen einer effektiven Bankenregulierung kann man allerdings weitere direkte staatliche Bankenhilfen, die nach Realisierung von Staatsbankrotten oder etwa einem Austritt Griechenlands aus dem Euro notwendig würden, vor Wahlen nicht gebrauchen. Also setzt man lieber auf eine vorgeblich solidarische „Rettungspolitik“ (…) .“

Auch wenn jetzt zahlreiche Beobachter behaupten, mit den jüngsten Gipfel-Beschlüssen sei die Schuldenunion begründet worden – diese Aufregung ist überflüssig. Der Weg in die Schuldenunion wurde spätestens im Mai 2010 eingeschlagen, als Griechenland zum ersten Mal gerettet wurde.

Eigentlich muss man noch weiter zurückgehen – mindestens bis zur Etablierung des Interbanken-Zahlungssystems Target2. Das begründet die Möglichkeit, dass die Notenbanken der PIIGS ihren Geschäftsbanken unbegrenzt Geld aus der Notenpresse der EZB leihen können. So können sie sich Importe leisten, für die sie keine privaten Kredite bekommen hätten. Die Bundesbank hat auf diese Weise per Ende Mai 2012 nahezu 700 Mrd. Euro an Forderungen angehäuft. Sie werden mit gegenwärtig ein Prozent verzinst und sind nicht kündbar. Importe in die PIIGS – das sind Exporte der großen Konzerne z.B. in Deutschland, deren Geschäft so finanziert wird.

Glauben Sie, dass diese Forderungen jemals wieder auf Null zurückgeführt werden? Ich glaube das schon. Wann wird das sein, fragen Sie? Antwort: Am St. Nimmerleinstag.

Der jüngste EU-Gipfel ist dennoch kein Nicht-Ereignis. Er macht den Weg frei zur zweiten Bankenrettung nach 2008 – diesmal auf europäischer Ebene, diesmal durch die Abwicklung per ESM jeglicher Kontrolle durch den Steuerzahler entzogen, um dessen Geld es hier geht. Und so findet er diesmal (vor den Bundestagswahlen in 2013) im Stillen statt – und das ist es, was Merkel einen weiteren Wortbruch wert war.

Und natürlich ist es kein Nicht-Ereignis, dass der Bundestag am zurückliegenden Freitag verfassungswidrige Ermächtigungsgesetze abgesegnet hat, indem Fiskalpakt und ESM durchgewunken wurden. Womit der Weg erst frei gemacht wird für die Umsetzung der Brüsseler Gipfelbeschlüsse.

Wie widersprüchlich die ganze Euro-Retterei im Bewusstsein der europäischen „Elite“ ist, zeigt ein Interview mit Guiseppe Vita in der FAS vom 1. Juli 2012. Der 77-jährige Italiener, Aufsichtsratschef der Axel Springer AG und der Unicredit, stellt fest: „Wir haben viel zu viel Geld nach Süditalien geschickt, ohne dass es Wirkung gehabt hätte. Wir hätten besser darauf aufpassen und kontrollieren müssen, was mit dem Geld geschieht.“ Und glaubt gleichzeitig daran, dass sich das auf europäischer Ebene nicht wiederholt…

Bei der Aussicht, dass die Liquiditätsschleusen im Euro-Raum nun weit aufgerissen werden, sprangen die Aktienbörsen weltweit am Freitag in die Höhe. Die US-Börsen hatten schon im späten Handel am Donnerstag deutlich zugelegt – zu einem Zeitpunkt, als der EU-Gipfel noch tagte, bzw. Rajoy und Monti noch die Pistole auf Merkels Brust setzten, um ihre Ziele durchzusetzen.

Gold, eigentlich kurz davor, abzuschmieren auf zunächst 1500, nahm die Gegenrichtung und stieg an 1600 Dollar pro Feinunze. Der Euro erholte sich deutlich gegen Dollar. Öl Brent explodierte förmlich, nachdem es sich Tage zuvor schon an einer wichtigen Unterstützung bei knapp 90 Dollar pro Barrel stabilisieren konnte. Der TBond-Future verlor am Freitag mehr als ein Prozent. Ein ETF auf Banken im EuroStoxx50 stieg am zurückliegenden Freitag um 4%, einer auf Versicherungen im EuroStoxx600 gewann sogar 4,4%.

Das sind alles Mosaiksteine für die Rückkehr der Risikoneigung an den Finanzmärkten. Nur zu verständlich angesichts der vielen Milliarden Euro, die da anrollen – und jetzt auch noch gleich in die Tore der europäischen Banken. Und schon wird die Erwartung aufgebaut, die EZB werde am kommenden Donnerstag die Leitzinsen senken – von einem auf dann 0,75 Prozent.

Ein Blick auf den Chart des S&P 500 zeigt, dass sich der weltweit tonangebende Aktienindex wieder an einem wichtigen Pegel (~1360) befindet (siehe Chart!).

Meine Arbeitshypothese: Der Index baut an einem Bärkeil, der durch die hellgrüne Linie oben und die violette Linie unten begrenzt ist. Die Spitze dieses Keils liegt auf dem Anfang April markierten Hoch bei ~1420. Das sieht zwar kurzfristig einigermaßen „konstruktiv“ aus, mittelfristig bedeutsam ist aber die untere dunkelblaue Linie (aktuell 1300 Punkte), die den übergeordneten Aufwärtskanal aus Anfang Oktober 2011 nach unten begrenzt.

Immer daran denken:

Das gesamte europäische Bankensystem auf Basis berichteter Verschuldung ist mit 26 zu 1 gehebelt. Das europäische Bankensystem hat einen Umfang von über 46 Bill. Dollar, etwa das dreifache des EU-BIP und fast viermal so groß wie das der USA (46 gegen 12 Bill. Dollar). Das US-Bankensystem ist halb so stark gehebelt (13 zu 1). EU-Banken müssen bis Ende 2012 Hunderte von Milliarden Schulden revolvieren. U.a. sind französische Banken mit 30% ihrer gesamten Schulden dabei, bei spanischen und italienischen Banken sind es mehr als ein Drittel, bei deutschen Banken sind es fast 40%, bei irländischen Banken fast 50%. (Siehe auch hier!)


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Fiskalpakt – neoliberale Neuauflage

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Den Fiskalpakt kann man von verschiedenen Richtungen aus angehen – die Kritik hieran läuft immer darauf hinaus, dass demokratische Strukturen vernichtet und der Einfluss der Finanzindustrie auf die Politik ausgebaut wird.

Mein Ansatzpunkt hier ist: Der Fiskalpakt ist eine Neuauflage neoliberalen Gedankenguts. Diese Behauptung erscheint erklärungsbedürftig. Daher soll zunächst die Einordnung des Neoliberalismus in die Geschichte seit dem zweiten Weltkrieg erfolgen. Dabei konzentriere ich mich auf dessen bedeutendste Richtung.

Die volkswirtschaftliche Strömung der „Chicago School“ entwickelte sich aus der Opposition zum Interventionismus (vor allem dem „New Deal“ in den USA nach 1933). Nach dem Zweiten Weltkrieg war man sich zunächst noch mit den deutschen Neoliberalen einig in der Befürwortung einer aktiven staatlichen Wettbewerbspolitik und eines klaren, den Markt flankierenden Ordnungsrahmens. (Die deutsche Richtung, die “Freiburger Schule” (Ordoliberalismus), bildete das theoretische Fundament für die “soziale Marktwirtschaft”.)

Das änderte sich jedoch allmählich, umso mehr, je größer der Einfluss von Milton Friedman wurde, der als einer der bedeutendsten Vertreter des “modernen” Neoliberalismus gilt (auch wenn er sich selbst lieber zu den klassischen Liberalen zählt). Friedman glaubte an die Stabilität des privaten Sektors, daher negierte er die Notwendigkeit operativer staatlicher Eingriffe und zählte zu den wichtigsten Befürwortern flexibler Wechselkurse. Aufgaben des Staates seien neben der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung und der Definition von Eigentumsrechten auch die Förderung des Wettbewerbs. Gleichzeitig lehnte er aber die Verstaatlichung natürlicher Monopole als nicht zielführend ab, auch erreiche staatliche Einkommensumverteilung nicht die selbst gesteckten Ziele. Statt dessen schlug er zur Linderung von Armut ein „negative Einkommensteuer“ genanntes Modell eines Grundeinkommens vor.

Unter den weltpolitischen Bedingungen der Ost-West-Konfrontation in der Nachkriegszeit hatte der Keynesianismus Vollbeschäftigung und Sozialstaatlichkeit ermöglicht, hierdurch sahen die vermögenden Bevölkerungsschichten nach und nach ihren Besitzstand gefährdet. Der Neoliberalismus der Chicagoer Schule entwickelte als Gegenentwurf hierzu das Modell einer „natürlichen Arbeitslosenquote“ ebenso wie das Konzept einer „regelgebundenen Wirtschaftspolitik“, die von ausgewählten Indikatoren „automatisch“ gesteuert wird. Da der Monetarismus von einer relativ stabilen Geldnachfrage ausgeht, steht die Steuerung des Geldangebots im Mittelpunkt. Gestärkt wurde die monetaristische Position Anfang der 1970er-Jahre, als mit den Ölpreisschocks Arbeitslosigkeit und Inflation zur gleichen Zeit auftraten.

Politisch war bedeutsam, dass man sich allmählich an die Ost-West-Konfrontation „gewöhnte“ und immer weniger die Notwendigkeit sah, sich um die Wahrung des „sozialen Friedens“ zu bemühen. Die Phase, in der Stichworte wie „Verteilungsgerechtigkeit“ und das „sozial“ bei „sozialer Marktwirtschaft“ praktisch-politische Relevanz besaßen, endete in den späten 1960er/frühen 1970er Jahren.

Bis zum Beginn der 1970er Jahre waren die Finanzmärkte stark reguliert und die Wechselkurse weitgehend fest. Nach Vorstellung der Chicagoer Schule sollten die Märkte entfesselt, feste Wechselkurse aufgegeben, niedrige Zinssätze unter der Wachstumsrate etabliert und Finanzderivate geschaffen werden. Das führte zur Aufgabe des Bretton Woods Systems und leitete den beispiellosen Aufschwung der Finanzindustrie ein. Ihre Bedeutung wuchs stark an, ihr Anteil am volkswirtschaftlich aggregierten Unternehmensgewinn wuchs demgegenüber noch weit überproportional. Die relative Bedeutung der Realwirtschaft ist seitdem bis heute rückläufig.

Ende der 1980er Jahre verwarfen die USA die neoliberal-regelgebundene Geld- und Fiskalpolitik. Sie wurde durch eine antizyklische Geld- und Fiskalpolitik abgelöst, die einen fernen Anklang an Keynes hat.

Die EU ging einen anderen Weg und gab sich schon in den 1990er Jahren mit den Maastricht-Verträgen und dem EZB-Statut ein festes fiskal- und geldpolitisches Korsett. Während bei freien Wechselkursen relativ zügig notwendige Anpassungen zwischen den nationalen Wirtschaften möglich sind, wurde mit dem Euro viel zu früh ein System fester Wechselkurse eingeführt. Man glaubte, durch politisch gesteuerte Umverteilung in der Eurozone eine Angleichung der Wirtschaftsräume innerhalb der Eurozone zu bewirken. Das Fehlen einer zentralen fiskalpolitischen Steuerung führte in Verbindung mit dem einheitlichen Währungsraum dazu, dass die Unterschiede wuchsen, statt zu verschwinden.

Mit dem Fiskalpakt wird nun versucht, den Maastricht-Gedanken noch weiter zu treiben. Ein komplexes System unterschiedlicher Volkswirtschaften soll durch ein festes, automatisiertes Regelwerk gesteuert werden, das sich zwar vordergründig (nur) auf die Staatsfinanzen ausrichtet, aber hierüber enorme Konsequenzen für die Gesamtwirtschaft hat.

Der Fiskalpakt ist aus zwei Gründen eine neoliberale Neuauflage:

(1) Neoliberalismus und festes Regelwerk – ein Widerspruch in sich? Nein, in diesem Fall nicht. Der Neoliberalismus unterstellt eine inhärente Stabilität des privaten Sektors, also ein stationäres „System“. Das unterstellt, genügt für die Steuerung solcher Systeme ein Set fester Regeln, die automatisch und ohne Verzögerung greifen. Solche Regeln soll der Fiskalpakt festschreiben.

(2) Der Neoliberalismus schaut auch inhaltlich hinter dem Fiskalpakt hervor, indem versucht wird, die Rolle des Staates zurückzudrängen. Das ist nicht prinzipiell schlecht, die Frage ist nur, wie sie neu definiert wird.

Der Fiskalpakt wird so lange scheitern, so lange der private Sektor nicht wieder zu investieren beginnt. Warum sollte er das aber tun, wo der Kern der Regeln des Fiskalpakts mit der prozyklischen Rückführung der Staatsverschuldung zu einer Depressionsspirale führt?

Außerdem: Wie das gescheiterte Experiment der Planwirtschaften im „Osten“ zeigt, lassen sich solch komplexe Systeme wie Volkswirtschaften nicht durch zentrale Regeln und Pläne steuern, sondern nur durch weitgehende Selbstorganisation. Volkswirtschaften sind kein stationäres System, sie sind inhärent instabil (wie alle sozialen Systeme). Dann können schon geringe Änderungen der Rahmenbedingungen zu großen Ausschlägen bei den Resultaten führen. Demzufolge versagen einfache, automatische Regelwerke auf Dauer, wie auch der Versuch einer zentralen Steuerung.

Drei Zusatzbemerkungen:

(1) Die Regeln, das sich die Eurozone mit dem Fiskalpakt gibt, ist nur vordergründig fest. In Wirklichkeit ist hinter Fachbegriffen, die die Öffentlichkeit nicht versteht (und wahrscheinlich auch viele Politiker niicht, die dies beschließen), eine Beliebigkeit versteckt, die es denjenigen, die an den Schaltstellen sitzen, erlaubt, bestimmte als Sachzwang verkaufte wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ziele durchzusetzen.

(2) Der Fiskalpakt ist mit der Idee der Gleichheit und dem Recht auf demokratische Beteiligung an kollektiven Entscheidungen nicht zu vereinbaren. Haushaltspolitische Kompetenzen werden auf zwischenstaatliche Einrichtungen verlagert, das lässt Beteiligung und Einfluss der Bürger nicht zu. Er ist in dieser Form verfassungswidrig. Das gilt in gleicher Weise für den ESM.

(3) Der Fiskalpakt ist auf (nahezu) ewig angelegt – er kann nur mit Zustimmung aller Mitglieder geändert werden. Das untermauert noch die Abkehr von demokratischen Prinzipien, dem demokratischen “Souverän” wird es praktisch unmöglich gemacht, diese Entscheidung zu revidieren.

Für die Finanzindustrie ist der Fiskalpakt aus folgenden Gründen „reizvoll“: Er destabilisiert die Eurozone insgesamt – eine ideale Bedingung für die zunehmende Abhängigkeit der Politik von der Finanzindustrie. Zum anderen reicht es aufgrund der Ausschaltung demokratischer Institutionen, wenige “richtige” Leute an den richtigen Stellen zu haben, um den eigenen Einfluss immer weiter auszubauen. Und drittens: Der Fiskalpakt mit seinen „Regeln“ gaukelt Objektivität vor, die über jeden Zweifel erhaben scheint. Wer traut sich da, das von „Experten“ geschaffene System anzuzweifeln?

Der Fiskalpakt ist damit ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg der Entdemokratisierung der Eurozone/EU hin zu einem weiteren Ausbau des Einflusses der Finanzindustrie.

Quelle: http://www.timepatternanalysis.de/Blog/2012/06/25/fiskalpakt-%e2%80%93-neoliberale-neuauflage/


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Griechenwahl: Untergang des Abendlandes?

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An diesem Wochenende steht die neue Neuwahl des griechischen Parlaments an. Und angeblich zittern die „Märkte“ davor, dass sich eine Mehrheit für die sogenannten radikalen Linken (Syriza) findet und Griechenland dann aus dem Euro ausscheidet.

Ihr Führer, Alexis Tsipras, hat etliche Male betont, dass sein Land im Euro-Raum bleiben soll. Aber er will das Brüsseler Spardiktat neu verhandeln. Das wollen die anderen griechischen Parteiführer auch. Und Brüssel hat bereits Bereitschaft hierzu erkennen lassen. Dadurch erhoffen sich die Eurokraten natürlich vor allem eine Unterstützung der bisherigen Regierungsparteien. Zuletzt gab es sogar Signale, dass sie im Falle einer Mehrheit von Syriza offen für Gespräche sind.

Tsipras hat kürzlich gesagt, wenn Spanien 100 Mrd. Euro ohne Bedingungen bekommen kann, warum soll Griechenland dann nicht gleichbehandelt werden. Das fragen sich die Iren mittlerweile auch, die Portugiesen denken es sich bis jetzt nur. Mit ihrer schnellen Bereitschaft, Spanien unter die Arme zu greifen, ohne harte Bedingungen zu stellen, haben die Euro-Finanzminister Tür und Tor für Begehrlichkeiten geöffnet.

Griechenland hat seine neuen Sparverpflichtungen in den zurückliegenden Monaten vernachlässigt. In EU-Kreisen wird jetzt befürchtet, dass der IWF aussteigen könnte, wenn der griechische Finanzbedarf wächst. Möglicherweise, so wird überlegt, kann man diesem Risiko dadurch begegnen, dass sich die öffentlichen Gläubiger auf einen Schuldenschnitt verständigen. Dabei hatte doch immer geheißen, es würden zum Länder-Bailout immer nur Garantien gegeben, den Steuerzahler werde das alles nichts kosten.

Nachdem die Aktienbörsen in dieser Woche volatil dahingewackelt sind, haben sie sich am Donnerstag für die Oberseite entschieden. Anlass war die Meldung, dass größere Zentralbanken eine koordinierte Liquiditäts-Aktion vorbereiten, falls das Ergebnis der Griechenland-Wahlen zu Tumulten in den Finanzmärkten führen sollte.

Die Wahrscheinlichkeit für weitere Liquiditätsfluten wird sowieso steigend gesehen, seit US-Makrodaten in Serie schwächer ausfallen als erwartet. Insbesondere die in dieser Woche gemeldeten Preisindices PPI und CPI zeigen Schwäche: Der PPI notiert im Jahresvergleich nur noch 0,8% höher, der CPI 1,7%. Das verschaffe der Fed Spielraum für geldpolitische Anreize, heißt es. Und damit ist sicher kein solch halbgares Programm wie die „Operation Twist“ gemeint, das zum Monatsende ausläuft. Da passt es auch terminlich gut ins Bild, dass das FOMC der Fed in der nächsten Woche tagt.

Auch wenn immer wieder gerne mit dem Finger auf die Eurozone gezeigt wird, wenn es darum geht, Krisenherde auszumachen – dadurch wird es nicht richtiger. Denn die Verschuldung hat diesseits und jenseits des Atlantik längst langfristig untragbare Ausmaße angenommen. Durch permanente Liquiditätsfluten sind viele, im Kreditrating als hochwertig eingestufte Anleihen, auch US-Treasurys, an einem Punkt angekommen, wo das Risiko zu hoch, die Rendite aber viel zu niedrig ist. Das gilt erst recht für die reale Betrachtung. Private Kreditgeber sind so immer weniger bereit, hier noch zu investieren. Und so schaffen die Notenbanken mit jedem Drehen am Liquiditätshahn nur die Voraussetzung für das nächste Mal.

Zurück zum Thema: Angeblich zittern die „Märkte“ vor dem griechischen Wahlsonntag. Sie zittern so sehr, dass z.B. ein ETF auf den MSCI_Greece in den zurückliegenden acht Handelstagen um 30% gestiegen ist. Auch Euro/Dollar zeigte sich zuletzt fest, der Dollar-Index sinkt unterhalb des wichtigen Pegels ~82,40 (siehe Chart!). Beides weist auf zunehmende Risikobereitschaft hin.

Als weiteres Indiz dafür, dass die Märkte in Wirklichkeit so zittrig nicht sind, mag gelten, dass die Auswertung der Volumenverteilung an der NYSE seit 8. Juni von tiefem Niveau aus „Akkumulation“ anzeigt: Der Anteil steigender Aktien nimmt im Zeitablauf wieder zu (siehe Chart!).

Es gibt weitere Indizien. Das sieht alles nicht nach Weltuntergang aus.

In der Tat kann man sich folgendes überlegen: Geht die griechische Wahl so aus, wie sich Brüssel das erhofft, bleiben geldpolitische Anreize zunächst einmal aus. Das enttäuscht alle Liquiditäts-/Drogen-Abhängige und könnte dazu führen, dass Kasse gemacht wird (gut möglich auch bei Edelmetallen). Kommen hingegen die „Linken“ als stärkste Kraft heraus, bricht möglicherweise erst einmal panische Hysterie aus. Dann drehen die großen Notenbanken dieser Welt konzertiert die Geldschleusen auf, und wenn der Schrecken verdaut ist, steigen die Asset-Preise wieder.

Meiner Meinung nach geht das Fiat-Geldsystem mit der Griechenland-Wahl noch nicht unter – Betonung liegt auf „noch“. Dass Spanien in absehbarer Zeit volle Zuflucht unter den Brüsseler Rettungsschirmen suchen wird, ist wahrscheinlich. Dass Italien folgen wird, ist ebenfalls anzunehmen, insbesondere dann, wenn der Pegel von 6% Rendite für 10-jährige Bonds dauerhaft überwunden wird (siehe Chart!).

Für Italien reicht der ESM nicht mehr – dann folgt die nächste Etappe der Eurokrise. Und in den USA?



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