US-Aktien wurden am Freitag stark verkauft. Der S&P 500 registrierte den größten Tagesverlust seit dem Brexit-Einbruch im Juni. Er schloss klar unter seiner 50-Tage-Linie, im Gegenzug schoss der VIX um nahezu 40% nach oben und überstieg klar die seine. Er hatte zuvor seit Anfang August die meiste Zeit unter dem Pegel von 12 zugebracht, es schien, die Volatilität sei durch eine stets präsente Fed eliminiert.
Aber solche extreme Phasen der Sorglosigkeit gehen in der Regel nicht langsam zu Ende, sondern mit einem Knall. Und dieser Volatilitätsausbruch war wie die Phase vorher – extrem.
Natürlich hatten die Medien gleich einen Grund für den Selloff parat, vielfach wurde der Atom-Test in Nord-Korea genannt. Als Anlass mag das ja durchgehen, aber ich vermute eher, die großen Akteure haben zunächst keine Chance mehr gesehen, die seit Wochen etablierte Handelsspanne zwischen 2157 und 2190 nach oben aufzuhebeln. Als sich dann die ersten zum Börsenausgang schlichen, wurde es dort plötzlich eng.
Gegenwärtig leben wir im zweitlängsten Bull-Markt der modernen Aktiengeschichte. Gleichzeitig leben wir in der längsten Nachkriegsperiode mit einem realen jährlichen BIP-Wachstum von 2,5% und darunter. Und noch ein Rekord: Die Renditen liegen auf historischen Tiefs.
Und weil das BIP-Wachstum so gering ist, sind die Zinsen so niedrig und daher sind die Aktienkurse so hoch. Oder: Weil die Zinsen so niedrig sind, ist das BIP-Wachstum so gering. Hier fällt es schon schwerer, das „daher sind die Aktienkurse so hoch“ anzuhängen. Bei der ersten Variante der Begründungskette fällt einem als Erklärung für die hohen Aktienkurse gleich der viel zitierte „Anlagenotstand“ ein, auch TINA genannt. Bei der zweiten Variante fällt mir als Erklärung für das „daher“ nichts ein.
Sind die niedrigen Zinsen verantwortlich für das geringe BIP-Wachstum oder ist umgekehrt? Es gibt für beide Alternativen gute Gründe.
Ein Blick auf die Entwicklung der Verzinsung von hoch gerateten Unternehmensanleihen und der jährlichen BIP-Veränderung in den USA zeigt zunächst einen klaren Schnitt: Vor 1981 oszillierte die BIP-Veränderung (grob) zwischen 0% und 10%, während die Zinsen kontinuierlich anstiegen von 2,5% bis 14%. Danach wandelte sich das Bild, Zinsen und BIP-Veränderung gingen im übergeordneten Verlauf zusammen zurück (Chartquelle).
1987 wurde Alan Greenspan zum Chef der Fed und mit ihm änderte sich die Geldpolitik grundlegend. Jedes Mal, wenn jetzt die Konjunktur abflaute, wurden alsbald die Zinsen gesenkt, und zwar so weit, dass der „natürliche“ Ausleseprozess in Rezessionen ausblieb. Schwache Unternehmen konnten sich am Markt halten und verhinderten so bis zu einem gewissen Grade, dass neue, innovativere, produktivere Firmen ihren Platz einnehmen konnten. Schumpeter hatte genau diese natürliche Auslese in das Zentrum seiner Konjunkturtheorie gestellt.
Die „moderne“ Geldpolitik hat diesen Ansatz von Greenspan bis zum Exzess weiter getrieben. Nach 2008 geht es nicht mehr um Unternehmen der Realwirtschaft, sondern um Finanzinstitutionen, die angeblich zu groß sind, um zu fallen. Aus Angst, solche maroden Akteure der Finanzwirtschaft könnten mit ihrer sogenannten „Systemrelevanz“ das gesamte Finanzsystem in den Abgrund reißen, werden die Geldschleusen aufgerissen, was in einer Markt-orientierten Wirtschaft gleichbedeutend mit sinkenden Zinsen ist.
Wir befinden uns nach Jahren Greenspanscher Ägide und ihrer Potenzierung seit 2008 jetzt in der Situation, dass Realwirtschaft UND Finanzwirtschaft von maroden Molochen dominiert werden. Wohin die Geldflut geführt hat, zeigt der folgende Chart. Es scheint so, als würden im europäischen Junk-Bond-Markt bald BB-geratete Bonds mit negativen Zinsen aufwarten. Wenn der Zins noch eine Funktion als Risiko-Indikator hätte, wäre die Aussage, BB-Bonds sind sicher. Schon pervers, oder?
Sind die niedrigen Zinsen verantwortlich für das geringe BIP-Wachstum oder ist umgekehrt? Einerseits gilt: Niedrige Zinsen konterkarieren die Produktivität in der Realwirtschaft (s.o.). Andererseits gilt: Selbst schwache Geschäftsmodelle können sich auf Pump finanzieren und haben gute Chancen, den nächsten Geschäftseinbruch zu überleben, weil sie darauf vertrauen können, dass zur rechten Zeit die Zentralbanken mit Zinssenkungen (=“Geldflut“) zur Stelle sind und die Schuldner heraushauen. Beides führt zum gleichen Ergebnis: Die Ressourcen der Wirtschaft werden suboptimal eingesetzt, das Wachstum bleibt unter seinen Möglichkeiten, umso mehr, je länger das anhält.
Es gilt auch, was Hans-Werner Sinn kürzlich zur Niedrigzins-Politik zu sagen hatte: “Weil niedrige Zinsen zwar hohe Vermögenswerte, aber noch keine Wertzuwächse bedeuten, müssen die Zinsen immer weiter gesenkt werden, um den Finanzinvestoren die Gewinne und die davon abgeleiteten persönlichen Einkommen zu sichern. Die Ökonomie gerät bei fallenden Zinsen in ein permanentes Siechtum. Dieses findet erst dann ein Ende, wenn es in der Geldpolitik erneut einen Paradigmenwechsel gibt – wenn nicht gar eine echte Kulturrevolution.”
Und warum kamen große Akteure jetzt zu der Überzeugung, Gewinne mitzunehmen? Verschwörungstheoretisch könnte man sagen, Wall Street zeigt schon mal, was geschehen könnte, wenn die Fed am 21. September einen weiteren Zinsschritt bekannt geben sollte. Man kann aber auch den September ins Feld führen, der als schlechtester Börsenmonat gilt; zusammen mit dem S&P 500 knapp am Allzeithoch ist das eine wackelige Gemengelage.
Vielleicht kommt aber auch ein Hauch Realität in die Köpfe zurück, es wird hinterfragt wie anemisches Wirtschaftswachstum und immer höhere Aktienkurse zusammen passen. Dabei geht es nicht so sehr um „akademische“ Fragen der Bewertung, sondern darum, wie gut die Chancen stehen, die Kurse in dem gegebenen Umfeld noch weiter nach oben zu treiben. Und da könnten nun grundlegende Zweifel aufkommen.
Zuletzt waren die US-Makrodaten wieder schwächer, etwa die Entwicklung der Arbeitsplätze oder die Wochenlöhne. Zugleich sind wichtige Stimmungsindices eingeknickt, der ISM-Index ist im August auf Kontraktionsniveau abgerutscht, auch der Service-Index zeigte sich unerwartet schwach. In Deutschland gibt es ebenfalls Warnzeichen: Im Juli sind die deutschen Exporte so stark gesunken wie seit sieben Jahren nicht mehr. Die Verkäufe ausserhalb der Europäischen Union verringerten sich besonders deutlich.
Ein Blick auf den „Echtzeit“-US-BIP-Indikator, das Produkt aus non-farm Arbeitsplätzen, wöchentlichen Arbeitsstunden und durchschnittlichen Stundenlöhnen: Die Zeitreihe hatte sich bis ins laufende Jahr hinein noch bei einer jährlichen Veränderung von 4% halten können, seit Mitte des Jahres geht es hier deutlich abwärts. Aktuell sind 3,3% erreicht, die Schwelle von 3% wurde seit dem dritten Quartal 2010 nicht mehr unterschritten. Alles in allem ein ungünstiges Omen für die BIP-Entwicklung (Chartquelle).
Ein einzelner Einbruch macht noch keinen Bär-Markt. Was spricht dafür, dass die Bullen übergeordnet weiter oben auf bleiben und der aktuelle Einbruch lediglich eine überkaufte Situation korrigiert? Die Zentralbanken sind weltweit immer noch dabei, die Finanzmärkte mit Liquidität zu hätscheln. Ein Zinsschritt der Fed im September ist unwahrscheinlich. Auch das Sentiment der Anleger ist immer noch mehr von der Jagd nach Rendite geprägt als mit strategischen Absicherungs-Gedanken beschäftigt.
Andererseits gewinnen die Faktoren, die für einen Regimewechsel sprechen, an Bedeutung. Makrodaten schwächen sich kontinuierlich ab, die Schere zu den erreichten hohen Preisen geht immer weiter auf. Die großen Akteure haben enorme Mengen an Aktienmaterial angehäuft, mit sich verschlechternden Makronachrichten sinkt die Bereitschaft der kleineren Anleger, diese im Kontext einer distributiven Phase zu übernehmen. Umso stärker wird dann der Verkaufsdruck – erst recht, wenn die großen Anleger zu dem Schluss kommen, dass die Luft nach oben zu dünn wird. Ein weiterer Punkt sind die allmählich um sich greifenden Zweifel an der Allmacht der Zentralbanken. Zu lange predigen diese schon die Geldflut als Allheilmittel, ohne dass sich die Erwartungen bisher erfüllt hätten.
Aktuell spricht allerdings (noch) nicht viel dafür, dass der jüngste Einbruch das Ende des zyklischen Bull-Markts eingeläutet hat. Charttechnisch ist etwa im S&P 500 nichts angebrannt, er schloss zuletzt mit 2128 (knapp) im Bereich der Hochpunkte aus Mai und Juli 2015. Wenn der Pegel bei rund 2128 nicht hält: Die nächste kurzfristig bedeutende Trendlinie vom Tief aus Anfang Februar liegt aktuell bei 2095, das wäre ein Punkt für einen ersten ernsthafteren Test. Hier liegt auch die Interpolationsgerade aus dem Hoch von Oktober 2007, die ich als taktische Scheidelinie zwischen Bullen und Bären ansehe. Sie liegt zugleich in der Mitte des Aufwärtskanals aus März 2009 (Untergrenze aktuell ~1930). Die EMA50w notiert gegenwärtig bei 2077, auch das ist eine oft beachtete Signallinie (der Chart wird täglich auf der Startseite aktualisiert).
Damit ergibt sich ein Supportcluster zwischen aktuell 2095 und 2077. Erst bei einem dynamischen Bruch sollte man einen strategischen Regimewechsel für wahrscheinlicher halten als die Fortsetzung des Bull-Marktes – Bestätigung durch klaren Bruch des Aufwärtskanals aus 2009.
Ein wichtiges Indiz für einen Regimewechsel gibt auch die relative Performance von breitem Markt vs Dividentiteln, sowie von Small Caps vs Large Caps. Eine bessere Performance von Dividentiteln und Large Caps wäre ein Hinweis auf eine defensive Ausrichtung und signalisierte zugleich über eine abnehmende Marktbreite, dass sich große Anleger auf große, liquide Werte konzentrieren, die gewöhnlich kursschonender unter die Leute gebracht werden können. Ein solches Warnsignal – bisher Fehlanzeige.
Der September scheint seiner Rolle als schlechtester Börsenmonat gerecht werden zu wollen, der S&P 500 brach zuletzt so stark ein wie seit dem Brexit-Votum im Juni nicht. So lange aber ein wichtiges Supportcluster nicht durchbrochen wird, dürfte im Zweifel der zyklische Bullmarkt noch anhalten. Übergeordnet wird die Luft für die Bullen dennoch dünner – die Schere zwischen Makrodaten und den erreichten hohen Kursen geht immer weiter auf.