"Verhandlungen, für die man woanders Monate braucht, dauern in Russland Jahre“, schrieb die New York Times im November 2002. Der Spiegel legte im April 2003 nach und bezeichnete Russland als "mystisches Riesenreich, ein einziges Land aus Schrott und Verfall“ und die Financial Times Deutschland bezeichnete Kaliningrad "als Hort der Armut und der Mafia“. "Die Berichterstattung über Russland in der ausländischen Presse ist nach wie vor negativ“, weiß Uwe Kumm, Leiter des Moskauer Büros von Roland Berger Strategy Consultants, und fügt hinzu, dass "das Image leider nicht so dargestellt wird, wie es sich Russland mittlerweile verdient hätte“. Laut Kumm sei das Land unmittelbar nach der ära Jelzin am Rande der Katastrophe gestanden, seither aber habe sich das BIP beinahe verdoppelt und der Außenhandel verdreifacht. Das Hauptproblem mit dem Russland aber nach wie vor zu kämpfen hat, ist die starke Abhängigkeit vom Rohstoffexport. Roland Berger Strategy Consultants hat in der Studie "Aufbau einer schlagkräftigen russischen Automobilzulieferindustrie" den Markt, Hersteller und Zulieferer genauer untersucht.Chance AutomobilindustrieKumm glaubt, dass die Autoindustrie einer der Wirtschaftstreiber Russlands werden könnte. "Der russische Automobilmarkt wird sehr dynamisch wachsen und innerhalb der nächsten acht Jahre der wichtigste Markt hinter China sein wird“, ist Kumm überzeugt. Von diesem Wachstum profitieren fast ausschließlich Marken internationaler Hersteller, heimische Automobilerzeuger werden zunehmend ins Niedrigstpreissegment abgedrängt. "Trotzdem verhält sich die europäische Automobilindustrie noch sehr zurückhaltend, der Markt wird von amerikanischen und asiatischen Anbietern dominiert, die auch zunehmend die Montage nach Russland verlagern. Die Europäer müssen sich hier einen Gegenpol aufbauen, um am Marktwachstum erfolgreich zu partizipieren", beschreibt Kumm die Situation. Bislang dominierte das Henne-Ei-Paradoxon: Die großen Autokonzerne wollten nicht in Russland produzieren, da der Zuliefermarkt nur sehr spärlich ausgebildet ist und die Zulieferindustrie wollte nicht nach Russland, weil keine Autofirmen ansässig waren. Durch diesen "Nicht-Kreislauf“ wurden größere Investitionen verhindert.Knackpunkt RahmenbedingungenUm der Automobilindustrie einen Eintritt in den russischen Markt schmackhaft zu machen, bedarf aber vor allem anderen eine Verbesserung der Rahmenbedingungen. Die lähmende Bürokratie und fehlende Rechtssicherheit bremsen die westliche Investitionslust enorm. "Wenn vernünftige Rahmenbedingungen herrschen, dann werden auch die großen Konzerne kommen und nach ihnen auch die Zulieferer“, orakelt Kumm. Angesprochen auf das Klischee vom Korruptionssumpf in russischen Behörden sagt Kumm, dass die Kleinkorruption in Russland nach wie vor floriere. Das Bild vom Polizisten an der Ecke, der für kleine Zuwendungen das eine oder andere Auge zudrückt sei nach vor aus Russland nicht wegzudenken, im Bereich der Großkorruption habe sich aber vieles verbessert. Kumm räumt aber auch ein, dass noch nicht das Niveau erreicht sei, dass man sich eigentlich wünsche. "Früher galt etwa die ungeschriebene Regel, wer in Russland bauen will, muss zumindest einen Minister in der Tasche haben. Das ist jetzt nicht mehr so“, bringt Kumm ein Beispiel aus der - weltweit - vom Hauch der Korruption umwehten Baubranche. Automobilsektor als Beschäftigungs- und InnovationsmotorMit einem Beschäftigungsanteil von sieben Prozent aller Industriebeschäftigten treibt die Autoindustrie 18 Prozent aller Innovationen des gesamten Industriesektors. "Das Potenzial der russischen Automobilindustrie ist aber noch lange nicht ausgeschöpft. Derzeit ist rund ein Prozent aller werktätigen Russen in dieser Branche beschäftigt, ich halte bis zu 2,7 Prozent - dem Wert der Slowakei - für realistisch", zeigt sich der Berater optimistisch. Von der russischen Regierung fordert Kumm vor allem die Schaffung von vorausplanbaren Rahmenbedingungen, wie konstante Zölle, höhere Sicherheitsstandards, zusätzliche Investitionsanreize sowie Betriebsansiedlungsprogramme. Positiv bewertet Kumm das vorhandene Know-how in Russland: "Die Schul- und Hochschulausbildung muss sich vor der im Westen nicht verstecken. Vor allem im technischen und naturwissenschaftlichen Bereich ist die Ausbildung sehr gut.“ Ein Riesendefizit gebe es aber bei den Führungskräften. "Der Bedarf an Fach- und Führungskräften ist enorm. Firmen die nach Russland wollen, sollten sich rechtzeitig nach passenden Personal umsehen. Es braucht Menschen, die beide Welten kennen, denn die Unternehmensphilosophien und Unternehmenskulturen unterscheiden sich doch sehr stark von dem, was man in West- und Mitteleuropa kennt“, weiß Kumm.