Will man sich die Europäische Union als Haus vorstellen, gibt es ein Fundament, auf dem dieses Haus steht. Rüttelt man an diesem Fundament, nimmt man in Kauf, dass das Haus instabil wird und irgendwann in sich zusammenzufallen droht. Doch genau das passiert derzeit in Brüssel: Bedeutende Teile des europäischen Fundaments werden gerade Stück für Stück ausgehöhlt. Und auch Österreich spielt hier eine gewisse Rolle.
Auch wenn die Union sich oft rühmt, eine Wertegemeinschaft zu sein, so divergieren diese Werte im Alltag oft. Kein Wunder, schließlich sind wir ein Kontinent so divers in seiner Kultur und regionalen Unterschieden wie kaum ein anderer. Daher konnte die Union nie nur auf diffusen Werten aufgebaut werden, zumal im Zeitalter der Gründung diese noch weiter auseinander lagen als heute. Nein, es wurden auch gewisse »technische« Prinzipien formuliert und diese schrittweise erweitert. Dies sind die Fundamente, auf denen die Union in ihrer Kompetenzzurechnung ruht: die gemeinsame Handelspolitik, die gemeinsame Wettbewerbspolitik und der gemeinsame Binnenmarkt. Dies sind drei heilige Grale, die die Mitgliedstaaten aus gutem Grund der Europäischen Union und hier insbesondere der Europäischen Kommission zum Hüten überantwortet haben.
Aus gutem Grund deshalb, weil es in der Handelspolitik einen starken Verhandlungspartner auf Augenhöhe mit anderen mächtigen Handelsblöcken wie den USA oder China benötigt. Aus gutem Grund deshalb, weil es eine möglichst unabhängige Instanz benötigt, die fairen Wettbewerb in Europa durchsetzt (und eine ruinöse Eskalationsspirale staatlicher Beihilfen unterbindet) sowie Europa vor unfairem globalen Wettbewerb beschützt. Und aus gutem Grund deshalb, weil der Binnenmarkt mit seinen vier Freizügigkeiten die größte Quelle für Wohlstand in Europa darstellt – bzw. sein teilweises Fehlen die größte Hürde dorthin bildet.
>> Vom Konsens zur Schwächung <<
Sahen wir noch in den 1990ern und in der ersten Dekade des neuen Jahrtausend einen breiten Konsens, diese Fundamente nicht nur zu bewahren, sondern gar auszubauen, erleben wir derzeit schrittweise ein Infragestellen und einen schrittweisen Rückbau. Begonnen hat dies in der gemeinsamen Handelspolitik. Der erste Sündenfall war das Kippen von ACTA – das multilaterale Anti-Produktpiraterieabkommen, welches das Europäische Parlament in einem hysterischen Populismusanfall 2012 zu Fall gebracht hatte. Dies war der erste wirklich große Lobbyingerfolg von Anti-Globalisierungsorganisationen, die ihre Kampagnisierung damit perfektioniert hatten. Der Auftrag an die Kommission, Handelsabkommen mit Kanada und den USA zu verhandeln, war damit auch ein implizierter Arbeitsauftrag an ebenjene NGO, auch diese Vereinbarungen von Anfang an zu torpedieren. Hinzu kamen diesmal auch etliche Mitgliedstaaten, denen die Verhandlungsführung der Kommission ein Dorn im Auge ist und die aus innenpolitischen Kalkülen wie Wahlen sich von einer lauten Minderheit treiben lassen.
Österreich mit seiner überkritischen Haltung zu CETA und TTIP leistet damit einen maßgeblichen Beitrag zur Schwächung der europäischen Handelspolitik. Das Absurde dabei: Während vielerorts über die Behäbigkeit und Ineffizienz der EU geschimpft wird, treibt man diese eben dadurch voran, dass nun wieder mehr Mitsprache durch nationale oder gar regionale Gremien durchgesetzt wird.
Während der Pfeiler Handelspolitik schon länger unter Beschuss steht, passiert dies nun auch in der Wettbewerbspolitik. Die Zahl der Vertragsverletzungen durch Mitgliedstaaten war schon immer durchaus beträchtlich; meist, weil diese in der Umsetzung von Richtlinien oder Verordnungen säumig waren. Oft nahmen sich eher größere Mitgliedstaaten dieses Privileg heraus, in der Erwartung, dass die Kommission sich bei großen Staaten eher scheut, mit harter Hand durchzugreifen. In jüngerer Vergangenheit ist jedoch zu beobachten, dass auch kleinere und vermeintlich schwächere Mitgliedstaaten sich teilweise rotzfrech über EU-Recht hinwegsetzen. Viktor Orbán machte dies in Ungarn vor, Rumänien ist ein anderes aktuelles Beispiel. Irland will jedenfalls gegen die Entscheidung der Kommission, Apple zu mehr Steuerehrlichkeit zu zwingen, mit allen Mitteln kämpfen. In Großbritannien sieht man im Abwerfen der strengen EU-Wettbewerbsregeln einen der wenigen Vorteile durch den möglichen Brexit.
Hinter der Schwächung des Wettbewerbsrechts stehen zwei Motive: einerseits die Verlockung, sich für seine nationale Entität Rosinen herauszupicken, zum Beispiel mittels staatlicher Beihilfen für Industrien oder Unternehmen Ansiedlungen zu initiieren. Andererseits der Versuch, nationale Muskeln gegenüber »Brüssel« spielen zu lassen und damit den starken Mann beim Wahlvolk zu markieren. So wird die Kommission immer wieder herausgefordert, wie groß ihre Muskeln tatsächlich noch sind.
Das Fatale dabei: Macht verschwindet, wenn man glaubt, dass sie verschwindet. Je weicher die Kommission auf solche Provokationen reagiert – und das tut sie zusehends auf politischer Ebene –, desto kleiner wird mit jedem Mal ihre zugeschriebene und damit die effektive Macht. Das mag kurzfristig dem jeweiligen Wahlkämpfer nützen, schadet der Union aber langfristig umso mehr.
>> Österreich mittendrin statt nur dabei <<
Der jüngste Abschuss zielt auf den Binnenmarkt ab: Die Freizügigkeit von Personen war eine der größten Errungenschaften für das Zusammenwachsen des Kontinents. Bereits beim Beitritt der zentral- und osteuropäischen Staaten 2006 wurde dies zum höchsten Politikum und mündete in langen Übergangsfristen. Für Großbritannien ist die Wieder-Einschränkung der Freizügigkeit für Personen einer der Schlüsselpunkte in den Brexit-Verhandlungen.
Und auch aus Österreich hört man mittlerweile solche Töne, vor allem aus den östlichen Bundesländern und einzelnen Akteuren in der Bundesregierung, siehe die aktuelle Diskussion um die Familienbeihilfe für im EU-Ausland lebende Kinder. Hier spielen vor allem innenpolitische Überlegungen eine Rolle und in Hinblick auf die kommenden Nationalratswahlen werden diese Töne eher schärfer und lauter. So einleuchtend das kurzfristige Kalkül dahinter erscheint, so sehr kann es Österreich langfristig strategisch schaden. Denn Österreich macht sich damit bei den CEE-Staaten keine Freunde – wiederholt, da schon die weiche Position zu Russland in etlichen CEE-Staaten auf nachhaltiges Missfallen gestoßen ist. Zumal in einem anderen akuten Fall – Autobahnmaut in Deutschland – Österreich zu Recht auf das Einhalten von EU-Regeln pocht. In diesem Fall hätten wir sehr großes Interesse, dass die Kommission EU-Recht nach dem Buchstaben auslegt und keine nationalen Alleingänge toleriert werden.
Gerade eine kleine, offene Volkswirtschaft mit hohem Exportanteil muss großes Interesse haben, dass die europäischen Regeln in der Kommission gestaltet werden und nicht im Rat und damit unter den Mitgliedstaaten. So meinte sinngemäß Alexander de Croo, belgischer Vize-Premierminister bei einem High Level-Podium im Juni. Man kann noch ergänzen: Als kleines Land sind eigentlich strategische Allianzen und langfristige Verbündete wichtiger als kurzfristige Quick Wins im Populismus-Wettbewerb.