Am zurückliegenden Freitag hat die Rating-Agentur Standard & Poors das Kreditrating von neun europäischen Ländern herabgesetzt. Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass der im Dezember beschlossene Fiskalpakt unzureichend ist, bzw. umgesetzt wird. Dessen jetzt dritter Entwurf stellt eine signifikante Verwässerung des seinerzeit beschlossenen Vorhabens dar.
Die Abstufung war zu erwarten gewesen. Die europäische Politik reagierte jedoch mit Unverständnis, teilweise auch mit dem „leisen“ Hinweis, die Rating-Agentur wolle mit ihrem Schritt nur von der amerikanischen Verschuldungsproblematik ablenken. Ich finde, z.B. ein „AA+“ für Frankreich ist doch immer noch eine äußerst freundliche Bewertung.
Die „Märkte“ hatten noch kurz vorher die erfolgreich verlaufenen Bond-Auktionen in Italien und Spanien gefeiert. Oder war es das gute Geschäft für die Banken? Diese leihen sich im Dezember beim „LTRO“ der EZB für ein Prozent auf drei Jahre Geld und kaufen damit drei Jahre laufende italienische Staatsanleihen, die mit 4,83% rentieren. Die tragen sie dann beim nächsten LTRO als Sicherheit zur EZB, leihen sich dafür neues Geld und… Und Standard & Poors sorgt mit schlechterem Kredit-Rating dafür, dass das Geschäft künftig noch mehr Zinsen abwirft.
Schulden – das alte Thema ist das neue...
Welche Möglichkeiten haben Staaten eigentlich, die Problematik übermäßiger Verschuldung anzugehen? Zur Beantwortung dieser Frage greife ich im Folgenden auch auf Material aus Aufsätzen von David Rhodes und Daniel Stelter von Boston Consulting Group zurück.
Zunächst aber: Wie steht es mit der Verschuldung im historischen Vergleich?
Das Verhältnis Gesamtschulden zu BIP in den 18 Kernländern der OECD ist von 160% in 1980 auf 321% in 2010 gestiegen. Heruntergebrochen und inflationsbereinigt ist die Verschuldung von nicht-Finanz-Unternehmen im selben Zeitraum um 300% angewachsen, die der Staaten um 425% und die der privaten Haushalte um 600% (siehe Chart!). Die westliche Bevölkerung lebt heute länger. Diese Kosten sind in den offiziellen Zahlen der Regierungen nicht ausreichend berücksichtigt. So ergeben sich noch viel höhere als die „offiziellen“ Staatsschuldenquoten.
Da bleibt nur der Schluss: Die in den zurückliegenden mehr als 25 Jahren aufgeblasene Kredit-Blase muss weitere Luft abgelassen werden. Einen Überblick über die Projektionen der “offziellen” Schuldenquoten zahlreicher Länder für 2012 finden Sie hier.
Grundsätzlich gibt es für Staaten vier Wege, das Schuldenproblem anzugehen:
Der erste Weg: „Sparen und zurückzahlen“. Das liegt intuitiv am nächsten – wer zu viel ausgegeben hat, muss den Gürtel eben enger schnallen. Auf der staatlichen Ebene aber ist das paradoxerweise nicht so einfach: Wenn zu viele zum gleichen Zeitpunkt sparen und Schulden tilgen, führt das zu einem Rückgang des Verbrauchs und damit zu nachlassendem Wachstum. Daraus folgen zurückgehende Beschäftigung und somit sinkende Einkommen. Das erschwert wiederum das Tilgen von Schulden und führt im schlimmsten Fall nach der Schulden-Deflations-Theorie von Irving Fisher zu einer langen und tiefen Rezession mit ausgeprägter Deflation.
Wenn mehrere Länder gleichzeitig versuchen, der Überschuldung durch Sparpolitik entgegen zu wirken, wird das Problem noch verschärft. So wie aktuell: In zahlreichen europäischen Ländern werden Sparprogramme aufgelegt und auch in den USA sollen mit Beginn des neuen Jahres Staatsausgaben reduziert werden. Nach Angaben der Autoren soll die Reduktion der Staatsausgaben in den USA um ein Prozent zu einer Reduktion des Wirtschaftswachstums um 0,62% führen.
Wenn sich privater und öffentlicher Sektor gleichzeitig entschulden wollen, erfordert das einen Außenhandelsüberschuss, um der Gefahr einer Deflationsspirale zu entgehen. Des einen Überschuss ist des anderen Defizit: So lange Länder mit Außenhandelsüberschuss an der Exportorientierung ihrer Wirtschaft festhalten, können andere nicht entschulden. Und: Wenn zwei Fünftel der Weltwirtschaft gleichzeitig sparen und tilgen wollen – wer springt dann in die Bresche? Z.B. müssten die Emerging Markets ihre Importe erheblich steigern. Das ist nicht sehr wahrscheinlich.
Der zweite Weg: „Schneller wachsen“ ist die schönste aller Möglichkeiten, das Schuldenproblem anzugehen. Um einen nachhaltigen Wachstumsimpuls zu erzeugen, müssen die Lohnstückkosten nachhaltig sinken. Hierfür gibt es zwei Möglichkeiten.
Die eine besteht in einem Investitionsschub. Die Mittel dazu wären vorhanden, bewegt sich doch die Quote der Unternehmensgewinne am BIP in den USA mit 13% bei einem Allzeit-Hoch – wie übrigens auch die Cash-Haltung. Warum aber sollen Unternehmen investieren, wenn die Nachfrage schwach und die Kapazitätsauslastung relativ gering ist. Und so lagen die realen Netto-Investitionen zuletzt auf dem Niveau von 1975, als das damalige reale BIP bei 38% des heutigen lag.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, die Löhne zu drücken. An diesem Thema „verbrennen“ sich Politiker insbesondere in Zeiten erhöhter Arbeitslosigkeit ungerne die Finger. Außerdem stellt sich hierbei meist zunächst ein gegenläufiger Effekt ein, weil die mit einer veränderten Sozialpolitik einhergehende Unsicherheit erst einmal einen Spar-Reflex auslöst.
Schulden selbst behindern das Wachstum. Reinhardt und Rogoff haben in ihrem Buch „This time is different“ gezeigt, dass eine Staatsverschuldung von 90% des BIP und darüber eine Belastung für das reale Wachstum darstellen. Das gilt insbesondere dann, wenn die Wirtschaft eine Finanzkrise durchläuft.
Auch für die Verschuldung von nicht-Finanz-Unternehmen und privaten Haushalten gibt es solche kritischen Schwellen. Die folgende Abbildung zeigt, dass in allen Ländern mindestens ein Sektor eine Schuldenquote über der kritischen Schwelle hat (siehe Chart!).
Perverserweise bleiben die beiden privaten Sektoren in Griechenland mit ihrer Quote unter 70%. Das weist u.a. auf die besonders schwache Wirtschaftskraft des Landes hin.
An einem praktischen Beispiel kann verdeutlicht werden, wie schwierig es ist, aus dem Schuldenproblem herauszuwachsen: Der italienische Staat verzeichnet eine Schuldenquote von 120%. Angenommen, Italien muss seine Schulden mit 6% verzinsen. Weiter angenommen, das Wachstum der italienischen Wirtschaft liegt bei 2%. Dann muss das Land einen Überschuss vor Zinszahlungen von 4,8% des BIP erwirtschaften, um die Schuldenquote gerade stabil zu halten. Halbiert sich das Wachstum, ist ein schon Überschuss von 6% des BIP nötig.
Wird versucht, den Budget-Überschuss über Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen zu steigern, besteht das Risiko, über eine nachfolgende (weitere) Abschwächung der Wachstums eine Abwärtsspirale auszulösen. Das Risiko ist umso höher, je produktiver und konsumorientierter die Wirtschaft des Landes ist – und umgekehrt…
Der dritte Weg: „Schulden-Restrukturierung und Abschreibungen“. Wie Graeber in seinem Buch „Debt: The First 5.000 Years“ schreibt, gab es schon im alten Mesopotamien eine periodische Annullierung von Schulden. Die Autoren unterstellen, dass selbst bei einer BIP-Quote von 220% der Schulden von Haushalten, nicht-Finanz-Unternehmen und Regierung ein Schuldenüberhang von 4 Bill. Dollar in den USA und 2,6 Bill. Euro in der Eurozone besteht. Angesichts der Kapitalschwäche der Banken insbesondere in Europa müsste bei einer Abschreibung dieses Überhangs der Staat einspringen. Der ist jedoch selbst überverschuldet. Also könnte er versucht sein, die nötigen Mittel durch eine Einmal-Steuer auf Finanzanlagen beizutreiben. Diese müsste unter der angegebenen Voraussetzung 12, bzw. 14% betragen. Da ein solches Vorgehen nicht gerade populär ist, wird die Politik diesen radikalen Schritt kaum gehen (jedenfalls nicht so bald).
Das folgende Schaubild stellt die Schuldenüberhänge dar, wenn man eine Gesamtschuldenquote von 180% als tragfähig unterstellt. Zugrundegelegt ist dabei die Annahme, dass Unternehmen, Haushalte und Staat bei 5% Zinsen und 3% Wachstum jeweils 60% Schuldenlast bezogen auf das BIP tragen können.
Als vierter und letzter Weg bleibt die Inflationierung. Solche “finanzielle Repression” setzt voraus, dass das Zinsniveau für längere Zeit unter den nominalen Wachstumsraten liegt. Das ist gegenwärtig nicht der Fall und mit steigender Risikoaversion angesichts einer möglichen Rezession kann sich dieses Verhältnis noch weiter verschlechtern.
Da die Wachstumsaussichten aufgrund der hohen Schuldenlast eher ungünstig sind, hat die Fed versucht, mittels QE über höhere Inflation ein höheres nominales Wachstum zu erzeugen. Das hatte keinen wirklich durchschlagenden Erfolg. Die Wirtschaftssubjekte erwarteten angesichts Überkapazität und Überschuldung keine nachhaltigen Preissteigerungen. Wird die QE-Politik fortgesetzt, steigt auch der monetäre Überhang weiter. Eines Tages kann –bildlich gesprochen- das Fass überlaufen, die Überschussliquidität flutet in die Realwirtschaft. Wenn die Öffentlichkeit dann das Vertrauen in die Geldwertstabilität verliert, entsteht eine inflationäre Blase.
Gegen Inflation spricht zwar aktuell das Überangebot an Arbeit und fortgesetzter Wettbewerb mit den Emerging Markets. Je länger allerdings das niedrige Wirtschaftswachstum in den industrialisierten Ländern anhält, je größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese zu protektionistischen Maßnahmen greifen. Das führt über Wettbewerbsausschluss zu Preisdruck.
Die Geldumlaufgeschwindigkeit in den USA bewegt sich nahe ihrem Allzeittief. Allein bei Rückkehr zu ihrem langfristigen Mittelwert, würde sich das Preisniveau mindestens verdoppeln wenn die Fed nicht gleichzeitig ihre Bilanz um 1,8 Bill. Dollar verkürzt, um die Überschussliquidität abzuschöpfen.
Auch wenn Inflationierungspolitik verführerisch sein mag, um die Schuldenbelastung zurückzufahren – ab einem bestimmten Punkt ist es schwer, den Geist wieder in die Flasche zurückzuholen. Als kritische Grenze wird häufig fünf Prozent Inflationsrate genannt.
Ein einfaches Rezept zur Schuldenreduktion gibt es nicht, zumal neben den „harten“ ökonomischen Faktoren der Einfluss von Stimmungen, Erwartungen und Vertrauen besondere Bedeutung hat und durch solche weichen Faktoren das labile Gleichgewicht, in dem sich übermäßig verschuldete Wirtschaftssysteme befinden, schnell kippen kann. Das gilt etwa für den Fall, dass die „Märkte“ an der Solvenz des Schuldners zu zweifeln beginnen. Das treibt die Verzinsung hoch und befeuert einen Teufelskreis aus Sparen, sinkendem Wachstum und weiter steigenden Zinsen. Das gilt auch für den Fall, dass die Wirtschaftssubjekte an der Geldwertstabilität zu zweifeln beginnen und dann in einer Art „self fulfilling prophecy“ die Preise explodieren. In all diesen Fällen gibt es dann kaum noch wirtschaftspolitische Stellschrauben, mit denen man die Entwicklung zurückdrehen kann.
Nötig ist nach Meinung der Autoren der Boston Consulting Group eine Kombination von Maßnahmen:
Eine koordinierte Rebalancierung der globalen Handelsflüsse, bei der die Emerging Markets, Deutschland und Japan mehr importieren müssen, um die Schuldenländer Mittel verdienen zu lassen, die sie zur Schuldentilgung benötigen.
Der Finanzsektor muss stabilisiert werden durch Rekapitalisierung und behutsames Deleveraging. Die neuen Kapiatlregeln (nach Basel III) hingegen ermuntern Banken, ihre Bilanzen zu verkürzen auf Kosten der Finanzierung kommerzieller Aktivitäten.
Übermäßige Verschuldung muss idealerweise durch ordentliche Restrukturierung oder aber durch Inflationierung zurückgeführt werden.
Die aktuelle Politik verfehlt diese Kriterien. Jede neue Rezession erhöht vor dem Hintergrund der zunehmenden und unhaltbaren Schuldenpegel kurzfristig das Risiko von Pleiten und mittelfristig von unbeherrschbarer Inflation.
Dabei kann die spezifische Situation in Europa die Risiken noch deutlich verstärken.
Das Kernproblem in der Eurozone ist die stark divergente Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsländer bei gleichem Zinsniveau in einem einheitlichen Währungsraum. Mit dem einheitlichen Euro ist ein Regulativ ausgeschaltet. Bleibt die Eurozone so erhalten, müssen sich entweder die PIIGS-Staaten durch Deflation oder die Überschussländer durch Inflation anpassen. Die bestehenden Produktivitätsunterschiede gezielt abzubauen, würde den Prozess erleichtern, allerdings dürfte dies angesichts einer nicht gerade blühenden Weltkonjunktur kaum im Interesse der Überschussländer liegen.