Aktien sind nach dem starken Einbruch im August und einer Periode hoher Schwankungen wieder gesucht. Anfang Oktober wurde im S&P 500 die obere Begrenzung der seit dem Einbruch etablierten Seitwärtsspanne überwunden und zeitgleich auch die EMA50 „geknackt“. Mittlerweile ist auch die EMA200 überwunden, was gemeinhin als Zeichen für eine längerfristig weiter bullische Ausrichtung des Index gilt.
Scott Minerd von Guggenheim Investments verweist auf positive saisonale Faktoren. Und wenn die Aktienkurse weiter steigen, sollten gemäß historischer Zusammenhänge auch die Konsumausgaben zunehmen. Für die kommenden Monate hält er ein Kurziel von rund 2175 für wahrscheinlich. Dabei sollten weiter sinkende Zinsen in China letztlich für Abwertungsdruck auf die chinesische Währung sorgen, was wiederum die Aussichten für die Wirtschaft dort verbessert und so Bedenken hinsichtlich des Wachstums der Weltwirtschaft in den Hintergrund drängt.
In diesem Umfeld wird es immer unwahrscheinlicher, dass die Fed in diesem Jahr mit der Anhebung der Leitzinsen beginnen wird. In der kommenden Woche tagt das FOMC der Fed, nach Entwicklung der Preise für Fed Fund Futures beträgt die Wahrscheinlichkeit eines Zinsschritts gerade einmal 6%, für Dezember werden 39% veranschlagt.
Die Fed unter Führung von Yellen gibt sich wankelmütig, die Akteure haben darauf im September „vergrätzt“ reagiert. William Dudley, Chef der New York Fed und FOMC-Vize, sagte kürzlich, es sei angemessen, die Zinsen in 2015 zu erhöhen. Kurz danach schränkte er ein, es gebe keine Eile, insbesondere wenn die Daten dies nicht unterstützen. Diese Ambivalenz zeigt, dass offenbar niemand bereit ist, Verantwortung zu übernehmen und künftige Entwicklungen aktiv zu gestalten. Immer wieder wird auf die Risiken verwiesen, die Zinsen zu früh anzuheben. Von den Gefahren, die mit Nichtstun, bzw. einem Andauern der Nullzinsen einhergehen, wird nicht geredet.
Seit 2008 sind die Zinsen auf historisch tiefem Niveau. Was zunächst als Notmaßnahme deklariert wurde, entwickelte sich zur Dauereinrichtung. Unternehmen und Private haben davon profitiert. Der seit einigen Dekaden andauernde Trend zur Ausweitung von Immobilieneigentum wird begünstigt, was wiederum Kapital ablenkt von produktiveren Einsatzmöglichkeiten. Pensionsfonds werden mit sinkenden Anleihezinsen in immer riskantere Anlagen getrieben, weil sie anders ihre Verpflichtungen nicht erfüllen können. Die Altersvorsorge wird insgesamt vernachlässigt, „sichere“ Anlagen werfen kaum noch Renditen ab. Künstlich nach unten manipulierte Zinsen schwächen das marktwirtschaftliche System, weil die Geldflut alle Preise verzerrt und gesellschaftliche Präferenzen hinsichtlich Zukunft und Gegenwart nicht richtig widergespiegelt werden.
Das niedrige Zinsniveau begünstigt die Ausweitung der Staatsverschuldung, bzw. verhindert deren Abbau. Zu hohe Verschuldung –häufig wird eine Schuldenquote von 90% des BIP als Schwelle für die industialisierten Länder genannt- wiederum belastet das Wirtschaftswachstum, weil unverhältnismäßig viele Mittel für den Schuldendienst benötigt werden oder in schwarzen Pleitelöchern verschwinden.
Ohne Marktzins fehlen Kriterien hinsichtlich Profitabilität langfristiger Investitionen. Durch manipulierte Zinsen begünstigte Fehlallokationen führen am Ende zu niedrigerem Wachstum. Gedrücktes Wachstum – das ist das, was am schwersten wiegt.
Das ungedeckte, rein auf „Vertrauen“ basierende Papiergeldsystem lässt die Verschuldung stärker steigen als die Produktionsleistung. Ein durch zunehmenden Schuldendienst bedingter Konjunktureinbruch kann nur verhindert werden, wenn der Zins immer weiter sinkt und gleichzeitig immer neue Kredite ausgegeben werden.
Je weiter die Spirale aus Niedrigstzinsen und Verschuldung gedreht wird, je stärker sind die Auswirkungen der Umkehr ihrer Richtung auf den kreditgetriebenen Aufschwung. Zudem werden die Schuldner direkt tangiert. Die konjunkturellen Bremsspuren werden immer stärker, je länger mit der Normalisierung der Zinsen gewartet wird.
Ist diese Spirale erst einmal weit genug gedreht worden, gibt es kaum noch ein Zurück.
Denkbar, dass die Fed sich bereits in einer solchen Situation sieht. Mag auch sein, dass sie Angst hat vor der eigenen Courage. Sie ist auf jeden Fall Gefangene der eigenen Politik, wohl die Konsequenzen ahnend, die kommen, wenn sie von der Drogenpolitik des billigen Geldes Abstand nimmt. Dr. Martin Hüfner, assénagon, weist in seinem aktuellen Wochenkommentar noch darauf hin, dass die Fed im kommenden Jahr wegen der dann anstehenden Wahlen zur US-Präsidentschaft mehr oder weniger handlungsunfähig ist, weil sie sich nicht dem Vorwurf der Beeinflussung aussetzen will.
So geht womöglich ein weiteres Jahr mit Nullzinsen ins Land und damit sinkt die Wahrscheinlichkeit einer Normalisierung und Wiederherstellung von Marktmechanismen bei der Zinsbildung immer mehr.
Japan liefert für all das die Blaupause. Die japanische Notenbank begann 1991 mit der Senkung der Leitzinsen. Acht Jahre später war er bei Null angelangt. Im Sommer 2000 und im Frühjahr 2006 wurde versucht, die Zinsen anzuheben. Die zaghaften Versuche waren jeweils nicht von langer Dauer. Gleichzeitig hat die Staatsverschuldung abstruse Ausmaße angenommen (Chartquelle).
Alle Geldflut hat nichts genutzt, mittlerweile ist die japanische Wirtschaft in Deflation zurückgefallen. Zur Begründung wird auf die niedrigen Energiepreise verwiesen und beteuert, es drohe keine neue Rezession. Das wäre dann die vierte in den zurückliegenden fünf Jahren. Ministerpräsident Abé hat versucht, den Teufelskreis aus Nullzinsen und sinkender Produktivität mit aller Gewalt zu durchbrechen und mittels Geldflut Wohlstand zu schaffen. Ein Bestandteil seines Rezeptes besteht darin, gezielt weiter Schulden zu machen, das Budgetdefizit kommt derweil auf rund 10%, die Schuldenquote auf rund 250% des BIP. Der dritte „Pfeil“ der Abenomics besteht in strukturellen Reformen, z.B. soll die Erwerbsquote von Frauen nehmen, gleichzeitig sollen sie mehr Kinder bekommen.
Mit dem Ankauf von internationalen Wertpapieren durch die BoJ erreichte man zwar eine starke Abwertung des Yen, jedoch trat der damit beabsichtigte Exportboom nicht im erhofften Umfang ein. Die nach 25 Jahren Schuldenabbau bilanziell solide japanische Industrie kassierte im Export Extraprofite, aber weder Investitionen noch Löhne stiegen in nennenswerter Größenordnung. Dadurch blieb die inländische Nachfrage flach, die privaten Einkommen stagnierten. Die schwache Währung führte zu steigenden Importpreisen, also nahmen die Lebenshaltungskosten zu, nicht aber das Wachstum.
Die erste Lehre aus Japan: Geldflut schafft keinen Wohlstand. Das Experiment von Abé kann als gescheitert gelten.
Noch etwas macht uns Japan vor: Die Auswirkungen einer alternden Gesellschaft. Daniel Stelter schätzt, dass die Bevölkerung bis 2060 von 127 auf 87 Millionen absinken wird. Selbst wenn das BIP pro Kopf weiter solide wachsen sollte, wird dadurch das reale Wachstum in den kommenden Jahrzehnten gedrückt. Zum Thema „Demographie und Wachstum“ siehe auch hier! In einer solchen Situation müssten alle Anstrengungen unternommen werden, die Produktivität zu steigern.
In einem weiteren Punkt ist uns Japan voraus: Die japanische Regierung wird ihre Schulden nicht zurückzahlen können. Die Bank of Japan kauft immer mehr Staatsschulden auf, sie dürfte bald den Großteil ausstehenden Titel besitzen. Wenn sie auf Tilgung verzichtet und die Zinseinnahmen aus den Schuldtiteln an das Finanzministerium zurücküberweist, wäre das Schuldenproblem gelöst. Wie Stelter schreibt, wird diese Möglichkeit zur Lösung der Schuldenkrise seit längerem diskutiert. Die eine Seite sieht dabei nur ein begrenztes Risiko, so lange das nur ein einziges Mal gemacht wird. Da das Geld zudem schon im Umlauf ist, droht von daher auch keine Inflation. Die andere Seite verweist auf das Risiko eines Vertrauensverlustes in das Geldsystem insgesamt. Dann wäre die Konsequenz die völlige Entwertung des Geldes, zumindest Hyperinflation.
Und viertens führt uns Japan die Auswirkungen des Fehlers vor Augen, den wir (in Europa und in den USA) seit geraumer Zeit ebenfalls machen: Wir spielen auf Zeit. Wir hoffen, dass sich das Problem der Schulden von selber löst. Durch noch mehr Schulden geht das nicht, wie Japan zeigt. Eine aktive Bereinigung nicht bedienbarer Schulden wäre wie ein reinigendes Gewitter – kurzfristig gäbe es erhebliche Schäden, mittelfristig wären dann aber viele Belastungsfaktoren vom Tisch, die Schuldenkrise wäre rascher ausgestanden.
Genau das wäre von einer Notenbank zu fordern, die nach der Finanzkrise 2008 neben der Führung in der Geld- und auch die in der Wirtschaftspolitik beansprucht (gemeint ist das im August 2012 aus der Taufe gehobene neue “Central banking”). Jetzt sind sie verstrickt in den Konsequenzen ihrer eigenen Politik (falls sie jemals andere Ziele hatten). Wenn die Notenbanken meinen, die Zinsen weltweit nach unten manipulieren zu müssen, müssen sie die dazu passende Geldmenge liefern. Denn in einem marktwirtschaftlichen Umfeld kann man entweder Preise oder Menge kontrollieren, aber nicht beides gleichzeitig. Diese Geldmenge strömt dann wie durch kommunizierende Röhren über Währungsrelationen zu einem jeweils neuen temporären internationalen Gleichgewicht. Dieser sogenannte Währungskrieg, auch „beggar-your-neighbour“-Politik genannt, lässt die Geldflut v.a. in den Taschen von Großspekulanten strömen.
Die EZB hat am vergangenen Donnerstag die Türen zur Ausweitung ihrer QE-Politik offengelassen (was der Ankündigung einer indirekten Zinssenkung entspricht), die PBoC hat am Freitag die Leitzinsen gesenkt, die Fed wird in der kommenden Woche die Leitzinsen sicher nicht erhöhen. Der Euro hat gegen Dollar und Yen kräftig verloren, sehr wahrscheinlich vermittels neuer Carry-Trade-Kredite in Euro. Lauter “gute” Nachrichten – Aktien sind stark gestiegen. Da will schon gerade gar keiner die Suppe versalzen und wenn die japanischen Lehren noch so eindeutig sind.
Ergänzung: Zur Frage des adäquaten Zinsniveaus hatte ich hier Überlegungen angestellt. Ein erster Zinsschritt von 0,25% wäre eben auch wirklich nur ein erster Schritt, der für sich alleine kaum etwas bewirkt. Ein Niveau von 2% wäre aktuell angemessen.