Es steht außer Frage, dass die „moderne“, von den Interessen der Finanzindustrie dominierte Wirtschaft an einem Problem leidet, dem der insgesamt überbordenden Verschuldung. Dabei geben die offiziellen Zahlen zur öffentlichen Verschuldung die Wirklichkeit nur unzureichend wider, weil die Lasten aus den Sozialsystemen nicht angemessen berücksichtigt sind.
Seit „Lehman“ ist der Bond-Markt in der industrialisierten Welt um 30% auf 275% des BIP angeschwollen, in den Emerging Markets um 35% auf 180% des BIP. Zwischen 2000 und heute hat sich der globale Bond-Markt nahezu verdreifacht auf über 100 Bill. Dollar. Der auf Bonds insgesamt bezogene Derivate-Markt ist über fünf mal so groß.
In den frühen 1980er Jahren startete ein großer Kreditzyklus, der bis heute anhält. In diesem Rahmen überstiegen die gesamten Schulden in den USA schon 1984 das damalige BIP und setzten zu einer exponentiellen Entwicklung an, die 2009 zwar zunächst an Dynamik verlor, dann aber erneut Fahrt aufnahm. Der folgende Chart zeigt das in seinem unteren Teil mit „Debt (Total Credit Market Outstanding)“. Wenn die Schulden dauerhaft schneller steigen als das nominale BIP, ist damit zu rechnen, dass die Wirtschaft Schulden-induzierte Probleme bekommt. Das Ergebnis dieser simplen Überlegung zeigt die rote Line im oberen Chart-Teil mit Ausschlägen nach oben. Gut zu sehen, wie es vor 1980 lange Phasen einer in diesem Sinne „gesunden“ Entwicklung gab. Danach gab es eigentlich nur noch in den 1990er Jahren längere solche Phasen – und aktuell seit Ende Anfang 2010 (bis jetzt).
Schulden-induzierte Probleme lassen sich in diesem simplen Modell nur vermeiden, wenn die Differenz der Wachstumsraten von nominalem BIP und Schulden positiv ist. Das nominale BIP kann gesteigert werden durch einen wachsenden Real-Teil und/oder durch zunehmende Preissteigerung im Nominal-Teil. Das Wachstum des Real-Teils kann extensiv oder intensiv erfolgen. “Extensiv” bezieht sich darauf, dass die geleisteten Arbeitsstunden zunehmen – das kann geschehen durch eine höhere Wochenarbeitszeit und/oder durch höhere Beschäftigung (Schaffung von Arbeitsplätzen). “Intensiv” bezieht sich auf die Produktivität – steigt sie, steigt das Arbeitsergebnis pro Zeiteinheit. Einen Eindruck zum Real-Teil erhält man, wenn man die Zahl der Arbeitsplätze (hier im non-Farm Bereich) mit der Wochenarbeitszeit (auf den Monat hoch gerechnet) multipliziert. Hierbei sind Produktivitätseffekte nicht berücksichtigt. Im folgenden Chart ist die jährliche Veränderung aufgetragen.
Diese Zeitreihe hängt eng mit der realen BIP-Entwicklung zusammen. Demnach zeichnet sich hier aktuell ein Tempoverlust ab, der auch in anderen Makro-Zeitreihen zu registrieren ist. Zudem lässt sich seit den 1980er Jahren offenbar eine kritische Schwelle („rosa“) ausmachen, bei der eine Rezession beginnt. Sie liegt bei etwa 0,7% jährlicher Veränderung. Mit 1,8% per Juni liegt der aktuelle Wert noch klar darüber. Im Januar 2015 waren aber noch 2,9% erreicht worden, ein deutlicher Einbruch ist das allemal. Das reale BIP ist in Q1 ebenfalls um 2,9% im Jahresvergleich gestiegen.
Das Wachstum des Nominal-Teils des BIP wird bestimmt durch Preissteigerungen. Die Entwicklung ist nach wie vor verhalten, je nach verwendetem Konzept werden Ergebnisse für die USA zwischen 0,2% und 1,3% gemeldet. Da wir uns hier mit dem BIP beschäftigen – der BIP-Deflator notiert per erstes Quartal bei 0,9% (siehe im ersten Chart, unterer Teil „Defl(ator) y/y%chg“). Demnach wäre aktuell mit einem jährlichen Wachstum des nominalen BIP von 1,8% plus 0,9% gleich 2,7% zu rechnen. Zu berücksichtigen ist auch hier, dass die Produktivität nicht berücksichtigt ist. Von ihr gehen momentan keine expansiven Impulse aus (nach Zeitreihe “Nonfarm Business Sector: Real Output Per Hour of All Persons” in Q1 +0,3%, in Q4/2014 war der Wert knapp negativ).
Die “Moodys yield” im folgenden Chart liegt seit den 1980er Jahren fast durchweg über der Wachstumsrate des nominalen BIP. Die Verzinsung dieser mittel gerateten Unternehmensanleihen wird als Annäherung an den Kapitalmarktzins im privaten Sektor genommen. Da sie höher liegt als das BIP-Wachstum, werden Ressourcen aus dem Einkommensstrom der Wirtschaft benötigt, um die höhere Zinslast zu bedienen. Das wirkt sich potenziell bremsend auf das Wirtschaftswachstum aus und das dient den Zentralbanken auch gelegentlich als Rechtfertigung für ihre Niedrigzinspolitik.
Der schwedische Ökonom Wicksell hat vor mehr als hundert Jahren einen „natürlichen“ Zins postuliert, bei dem Angebot und Nachfrage von Krediten im Gleichgewicht sind. Investitionen treiben in diesem Zustand durch Inanspruchnahme von Kredit die Preise nicht nach oben, die Kreditnachfrage ist aber zugleich groß genug, um ein Sinken der Preise zu verhindern. Wicksell hatte in seiner Theorie den Zins im Auge, mit dem die Zentralbanken Geldpolitik betreiben. Als Annäherung an den natürlichen Zins könnte man das reale Wirtschaftswachstum nehmen, wie es z.B. mittels des Real-Teils des BIP angenähert dargestellt wird (siehe oben!). Das läge gegenwärtig bei 1,8%, auch das Mittel über die zurückliegenden vier Jahre liegt ungefähr hier. Nach der in der Theorie der Geldpolitik viel beachteten Taylor-Regel ergibt sich ein “richtiges” Leitzins-Niveau von um die 2%. Die Aussagen beider Herangehensweisen sind damit sehr ähnlich und legen nahe, dass der gegenwärtige Leitzins in den USA (und anderswo) viel zu niedrig ist.
Nach Wicksell führt ein längere Zeit unter dem Niveau des natürlichen Zinses liegender Wert des Leitzinses dazu, dass Investoren dann übermäßig Kredit aufnehmen und damit auch weniger produktive Investitionen finanzieren bis die Kredite schließlich in rein spekulativen Projekten landen (Minskys Ponzi-Stadium). Solche ineffizienten Investitionen unterstützen zwar (zunächst) das Wirtschaftswachstum, aber das geht auf Kosten der gesamtwirtschaftlichen Produktivität.
In den zurückliegenden Jahren profitierte in den USA der Hausbaubereich, der Bau von Geschäftsgebäuden, sowie die meisten Finanzmarkt-Assets von den zu niedrigen Zinsen. Das war auch das erklärte geldpolitische Ziel der Fed (und anderer Notenbanken). Je weiter aber die Erholung all dieser Segmente und deren Preise voranschreitet, je eher drängen die Konsequenzen dieser Politik an die Oberfläche.
So entwickelt sich die Produktivität nicht – das müsste sie aber gerade vor dem Hintergrund ungünstiger demographischer Umstände. In diesem Jahr dürften die Aktienrückkäufe in den USA historisches Rekordniveau erreichen, auch “Merger & Acquisitions” sind auf dem Weg dahin. Der Anteil der Kreditnehmer im Nicht-Investment-Bereich an neu ausgegebenen Unternehmenskrediten ist im laufenden Jahr so hoch wie nie, gleichzeitig steigt der Anteil von Krediten mit erleichterten Bedingungen („covenant-light“). Im März hatte der Moody’s Covenant Quality Index in den USA 4,5 erreicht auf einer Skala zwischen 5 (schwächster Schutz für Anleihe-Gläubiger) und 1 (stärkster Schutz) – siehe hier!
Erfahrungen der Vergangenheit zeigen: Die Mehrheit der Defaults bei Hi-yield Bonds zwischen 2008 und 2009 betraf solche, die zwischen 2005 und 2007 ausgegeben wurden, also in den letzten drei Jahren des damaligen mittelfristigen Kreditzyklus. Zum selben Zeitpunkt erreichten damals auch M&A-Aktivitäten und gehebelte Buyouts ihre Höhepunkte. Wie heute blieben die Zinsen seinerzeit lange relativ niedrig, die Fed lief der Entwicklung hinterher, sie erhöhte die Leitzinsen langsamer als erforderlich.
Aktuell dürften wir uns insgesamt an der Grenze zur Ponzi-Finanzierung befinden, wenn z.B. mit Krediten laufende Zinszahlungen finanziert werden und insgesamt (fast) jeder Akteur an den Finanzmärkten daran glaubt, dass Rezessionen ausgestorben sind. In solchen Phasen werden die Kurse möglichst jedes Investments in lächerliche Höhen getrieben. Die Bewertung von Aktien ist bereits sehr elaboriert.
Je länger die Zentralbanken dann (wieder) warten, bis sie die Leitzinsen anpassen an ein „natürliches“ Niveau, je mehr Kredite gehen in immer weniger produktive und in rein spekulative Investitionen. Je weiter diese Entwicklung voranschreitet, je böser wird das Erwachen hinterher, der zwangsläufig einsetzende Bereinigungsprozess.
Die Zinsen von Hi-yield Unternehmensanleihen hatten kürzlich bei 5,2% ein lokales Topp markiert, jetzt liegen sie wieder unter der „Vorwarnstufe“ bei 5%. Ihr Verlauf gilt auch als Maß für die Risikoneigung insgesamt, je niedriger sie sind, je höher ist die Risikobereitschaft.
Das gegenwärtige, viel zu niedrige Leitzinsumfeld der Fed und anderer Notenbanken begünstigt “schlechte” Kredit-finanzierte Investitionen. Das bläst die Schuldenblase weiter auf – bis sie platzt.
Vom grundlegenden Verständnis dessen ausgehend, was Zins eigentlich ist, ist ein Leitzins von praktisch Null ebenfalls abzulehnen. Der Zins ist ein Maß für Gegenwartspräferenz. Es kann unter dem Aspekt einer unsicheren Zukunft kaum anders sein, als dass die Gegenwart höher bewertet als die Zukunft, also muss der Zins positiv sein. Indem die Zentralbanken das zentrale Steuerungsinstrument Leitzins gedrückt halten, sorgen sie dafür, dass ein wichtiges wirtschaftliches Maß, das für Gegenwartspräferenz, völlig verzerrt wird.
Ein schönes Beispiel solch schlechter Investitionen, wenn auch aus einem ganz anderen Bereich und mit anderer Motivation, ist das nun anrollende dritte “Rettungspaket” für Griechenland. Von den für drei Jahre avisierten 85 Mrd. Euro werden alleine etwa 50 Mrd. Euro benötigt, um fällige Anleihen zu bedienen. Wenn das kein “Ponzi” ist…