Aktionäre feiern den US-Arbeitsmarktbericht für April, der S&P 500 steigt um 1,4% und notiert wieder knapp unter Allzeithoch. Im privaten Sektor (non-farm) wurden 213.000 Stellen neu geschaffen, etwas weniger als erwartet. Die Zahl für März wurde von ohnehin schon weit unterdurchschnittlichen 129.000 auf 94.000 revidiert. Die Daten werden als Zeichen interpretiert, dass die US-Wirtschaft zwar (nach einem Durchhänger) wieder Fahrt aufnimmt – aber nicht genug, um Sorgen vor einer vorgezogenen Zinswende anzuheizen. Ein Bild wie gemalt…
Die Zunahme der Jobs ist den zweiten Monat in Folge im Jahresvergleich rückläufig. Das kann sich leicht als statistisches Rauschen entpuppen, muss es aber nicht. Werden alle non-farm-Arbeitsplätze einbezogen, so wurden im April 2,15% mehr Jobs geschaffen als vor einem Jahr. Die Entwicklung liegt seit August 2014 über dem Trend, also haben wir es weiterhin noch mit einer Beschleunigung im Arbeitsplatzaufbau zu tun. Die aktuelle Zuwachsrate liegt auch über der früheren „Rekordmarke“ von 2% aus dem Frühjahr 2006. Zwischen Juli 1996 und August 2000 lag dieser Wert allerdings stets über 2%, im Februar 1995 wurden sogar 3,5% erreicht (siehe Chart im unteren Teil).
Noch etwas mehr Wasser im Wein gefällig? Die überwiegende Mehrheit der neuen Arbeitsplätze, nämlich über 81%, ist im inländischen Dienstleistungsbereich entstanden. In der Fertigungsindustrie gab es keine neuen Jobs. Das ist eine Situation, wie sie schon seit längerem besteht und hier schon mehrfach diskutiert wurde.
Im April sind laut offizieller Statistik in der Öl- und Gasförderung 3.300 Jobs abgebaut worden. Nach Challenger-Report haben Unternehmen im April alleine 20.675 Stellen gestrichen wegen sinkender Ölpreise. Nach derselben Quelle wurden in den ersten vier Monaten 2015 fast 202.000 Jobs in Unternehmen abgebaut. Die Zahlen sind nicht direkt vergleichbar, weil Challenger Entlassungsankündigungen zählt, aber die Diskrepanz ist beachtlich (und verdächtig).
Das Bild, dass die Industrie keine Arbeitsplätze schafft und der Jobaufbau nahezu ausschließlich im Dienstleistungsbereich stattfindet, spricht nicht gerade für eine überschäumende Dynamik bei der wirtschaftlichen Erholung. Dies zeigt auch die „labor force participation rate”, die mit rund 63% seit längerem in einem Bereich liegt, der zuletzt Ende der 1970er Jahre erreicht wurde. Im Jahr 2000 lag der Wert bei gut 67%.
Die jüngsten Turbulenzen am Bond-Markt werfen die Frage auf, wie lange der Bull-Markt bei Aktien noch anhält. Seit Mitte April hat die Gemengelage aus steigendem Ölpreis und schnell steigendem Euro/Dollar die Inflationserwartungen angeheizt. Nimmt man hierfür als Maß die Differenz aus den nominalen und realen Zinsen für 10-jährige TNotes, so hat sie sich von 1,63% zu Jahresbeginn (so tief wie zuletzt im November 2010) auf aktuell 1,88% hoch geschraubt (siehe Chart in der Mitte). Das ist isoliert betrachtet immer noch wenig, aber die Dynamik hat zuletzt überrascht. Aus der Bond-Blase wurde deutlich Luft abgelassen, das hat zu “Irritationen” auch an den Aktien-Märkten beigetragen.
Zuletzt haben sich mehrere renommierte Analysten zu Wort gemeldet, die darauf verweisen, dass die gegenwärtige wirtschaftliche Erholung die zäheste seit Menschengedenken ist. David Rosenberg glaubt, dass das auch so bleibt. Das unterdurchschnittliche Wachstumsumfeld könnte aber zugleich länger anhalten als die meisten vermuten. Es sei sogar denkbar, dass der bisherige Expansions-Rekord aus den 1990er Jahren von gut zehn Jahren erreicht wird. Den Grund dafür sieht er in der Regulierung der Banken, die dafür sorgt, dass die Wachstumsamplituden kleiner werden, der Konjunkturzyklus dafür aber länger anhält und mit geringeren Ausschlägen abläuft.
Es gebe genügend Anlässe, sich Sorgen zu machen, sagt er, aber die Fed gehöre nicht dazu. Denn kein Konjunkturzyklus ende mit der ersten, zweiten oder dritten Zinsanhebung. Erst wenn die Zinsen dann nicht weiter steigen, müsse man sich Gedanken machen. Zudem würden Bär-Märkte nicht durch Währungseffekte (Dollar) und Öl-induzierte Gewinne-Rezessionen angestoßen. Auch die Höhe der Aktien-Bewertung sei unkritisch, sie müsse in Beziehung zu den Zinsen gesehen werden. Wenn man das tut, erscheinen Aktien relativ preiswert und demzufolge hätten sie weiteres Gewinnpotenzial. Letztlich werden die Zentralbanken auch bekommen, was sie wollen, nämlich mehr Inflation, meint Rosenberg.
Auch Peter Briger, der sich mit seinem Fortress-Fonds als Müllsammler der Finanzindustrie versteht, sieht zwar auf Sicht der nächsten drei, vier Jahre ansteigendes Pleiterisiko bei Unternehmen, aber das Finanzsystem werde so bald nicht im- oder explodieren. Auch er nennt als Grund die Bankenregulierung, die verhindere, dass zu viel Risiko eingegangen wird. Bei den aktuell niedrigen Zinsen zeige sich das Bild des Kreditwesens jedoch positiver als es tatsächlich ist.
Dr. Lacy Hunt, Hoisington Investment Management, sieht ausgehend von der gegebenen Überschuldung noch auf viele Jahre schwaches Wachstum und glaubt, dass der langfristige Trend bei Zinsen weiter abwärts gerichtet ist.
Auch Paul McCulley sieht die US-Wirtschaft in einer lang ausgedehnten Expansion. Die Geldpolitik sei wenig geeignet, die Nachwirkungen des Minsky-Moments im Platzen der Kreditblase 2008 zu kurieren. Die Gesamtnachfrage sollte besser durch zielgerichtete, nachhaltige und umfangreiche öffentliche Investitionen angestachelt werden, finanziert durch frisches Zentralbankgeld. Stattdessen hätte die Geldpolitik erfolgreich alles getan, um die Preise von Assets und Sicherheiten anzuheben. Er glaubt, dass auf Sicht der nächsten fünf bis zehn Jahre die öffentlichen Investitionen anziehen werden.
Die konjunkturelle Expansion ist über 70 Monate alt, schreibt Scott Minerd von Guggenheim Investments, sie erreicht nun ihre Reifephase. Die durchschnittliche Länge früherer Zyklen von 57 Monaten ist schon überschritten. Die jüngsten drei Zyklen seien im Mittel aber sogar 94 Monate lang gewesen. Auch er schreibt das niedrige Wachstum der Banken-Regulierung zu. Gerade wegen dieses langsameren Wachstums aber sei noch Raum für weitere Expansion. Er sieht den ersten Zinsschritt der Fed im September und dann bis Ende 2017, Anfang 2018 sukzessive Anstiege der Fed funds rate auf 2,5% bis 3%. Nach den Erfahrungen der jüngeren Zeit käme eine Rezession ein Jahr nach Erreichen des Zinsgipfels, damit also im Spätjahr 2018/Frühjahr 2019.
Zunächst seien die goldenen Zeiten für Investoren noch nicht vorbei, sagt Minerd. Basierend auf den jüngsten 13 Zinszyklen sei in den 12 Monaten vor dem ersten Zinsschritt mit im Mittel 16,4% Gewinn bei US-Aktien zu rechnen, bei high-yield-Anleihen seien es 8%, bei Investment-grade Bonds 9,9%. In den 12 Monaten nach dem ersten Zinsschritt brachten Aktien noch einen Gewinn von nahezu 4,5%, Bank-Kredite erbrachten 5,8%, high-yield-Bonds 3,9% und Investment-grade Anleihen kamen auf 3,3%. (Die Ertäge für Anleihen sind auf Basis der drei Zyklen seit 1994 berechnet, dem Beginn der Erhebung für diese Anlageklassen).
Die Argumentationen ähneln sich. Das niedrige Wachstum wird der Bankenregulierung zugeschrieben, die eine exzessive Kreditvergabe an den privaten Sektor verhindert. Das vermindert das Risiko, dass die Kreditgewährung hier allmählich in Minskys Ponzi-Stadium eintritt. (Anzumerken ist, dass dieses Stadium bei Staatsanleihen längst erreicht ist.)
Das erinnert mich an die „Große Moderation“. Der frühere Fed-Chef Bernanke prägte diesen Terminus 2004. Dies geht zurück auf Untersuchungen, die erklärten, eine geeignete Wirtschaftspolitik und v.a. die Geldpolitik hätten es geschafft, seit den späten 1980er Jahren für eine sich gleichmäßig entwickelnde Konjunktur und für langfristig stabiles Wachstum zu sorgen. Das wiederum habe die Asset-Preise steigen lassen und die Finanzmärkte gleichzeitig sicherer gemacht. Fortan glaubten immer mehr immer lieber an die Wundertaten einer unabhängigen und flexiblen Geldpolitik, reduzierter staatlicher Regulierung, niedriger Steuern, verbessertem Supply-Chain-Management usw. Der damalige EZB-Präsident Trichet betrachtete noch Anfang September 2008 „die Moderation der makroökonomischen Fluktuationen und damit der Risiken als eine teilweise dauerhafte Errungenschaft der modernen Volkswirtschaften“. Das Ende dieser „Großen Moderation“ ist bekannt – alle aufgeschobenen Konjunkturtäler gab es akkumuliert in der Finanzkrise 2008.
Jetzt haben wir eine „Große Moderation“ ganz anderer Art. Nun sorgt angeblich gerade die Regulierung für eine geringe Amplitude des Konjunkturzyklus und für sichere Asset-Märkte. Geringes Wachstum? Kein Problem! Hauptsache, man kann sich (wie zuvor auch) auf die Wundertaten der Geldpolitik verlassen. Dabei geht es jetzt allerdings nicht mehr zunächst um deren Auswirkung auf die Realwirtschaft, sondern gleich direkt um die (hiervon losgelöste) Performance auf den Asset-Märkten.
War vor 2008 das Pendel in Richtung „maximale Deregulierung“ geschwungen, so schwingt es jetzt zurück in Richtung zentrale Planwirtschaft, bei der die Notenbanken den Ton angeben. Die Bankenregulierung mag die Gefahr von Exzessen im privaten Sektor vielleicht(?!) gemindert haben, dafür haben aber die Schuldenexzesse im öffentlichen Sektor gewaltig zugenommen. Hier liegt der Kern der nächsten Krise.
Die neue „Große Moderation“ führt genauso in die Irre wie die alte. Bei beiden steht der Irrglaube an die Allmacht der Geldpolitik im Zentrum, der ein Klima trügerischer Sicherheit schafft. Dennoch nicht unwahrscheinlich, dass die Szenarien von Rosenberg oder Minerd zutreffen, die noch weiter steigende Assetpreise sehen. Die nach diesen Szenarien dann aufziehende Rezession könnte dafür sorgen, dass Culleys Ausblick starker öffentlicher Investitionen Wirklichkeit wird, weil sich dann nämlich zeigt, dass die bis dahin verfolgte Geldpolitik eben nicht in der Lage war, die nächste Krise zu verhindern. Dann wären wir schließlich bei zentraler Planwirtschaft in Vollendung. Und was kommt danach?