Die Vereinigten Staaten sind die Zerstrittenen Staaten von Amerika geworden. Kann Joe Biden die Wunden heilen?
Wenn erst Trump besiegt sei und der Unselige aus dem öffentlichen Leben verbannt, dann könne man zurückkehren zu dem, was einmal war, sagen viele meiner demokratischen Freunde. Deshalb sei es wichtig, dass Twitter, Facebook und Co Donald sperren und dass YouTube ihn aus dem digitalen Gedächtnis streiche. Der Ex-Präsident sei ein Symbol für eine Verirrung, stehe für eine Phase, in der man den Weg verloren habe.
Das sei jetzt vorbei, mit Joe Biden kehre man zurück zur Normalität, sagen meist ältere Semester, die ihr gesamtes Erwachsenenleben mit dem Politiker Biden verbracht haben. Er verkörpert das Establishment, 1972 erstmals als Senator gewählt, seither ununterbrochen in Washington, von 2009 bis 2017 als Vizepräsident, jetzt als Präsident.
Er verkörpert die Sehnsucht nach dem, was einmal war, in einer Verklärung der Vergangenheit. Seine Fans übersehen, dass Bidens politische Geschichte geprägt ist von opportunistischen Allianzen und verheerenden Reformen. Zu Beginn seiner politischen Karriere verbündete er sich mit dem mächtigen Robert Byrd, dem längstdienenden Senator, einem ehemaligen Mitglied des Ku-Klux-Klans und ein Südstaaten-Demokrat, der vehement gegen die Bürgerrechtsbewegung der 60er-Jahre auftrat.
Biden versuchte gemeinsam mit Byrd, das »Busing« zu verhindern, die Initiative, die vor allem Kindern aus Schwarzen-Gettos helfen sollte, eine bessere Bildung zu bekommen. Mehr Diversität sollte erreicht werden, indem Kinder aus benachteiligten Gegenden mit Bussen in »reichere« Schulen gebracht wurden. Biden war dagegen, was ihm während des Vorwahlkampfs der Demokratischen Partei 2019 die Kritik seiner jetzigen Vizepräsidentin Kamala Harris einbrachte: »Ich war das Mädchen im Schulbus«, sagte sie, das die Möglichkeit auf Bildung dem »Busing«-System zu verdanken habe. Dass ihre Eltern wohlhabende Akademiker waren, mag natürlich auch geholfen haben.
Law & Order
Als Präsident Bill Clinton nach den verlorenen Midterm-Wahlen des Jahres 1994 in höchster politischer Not war und die Wiederwahl ein fast aussichtsloses Unterfangen schien, war Joe Biden zur Stelle. Die Partei sollte einen dramatischen Schwenk nach rechts nehmen und das Thema Law&Order für sich besetzen.
Mit der Strafrechtsreform des Jahres 1994 wurden die Mindeststrafen für Drogendelikte dramatisch erhöht, mit verheerenden Konsequenzen gerade für die afroamerikanische Bevölkerung, die mit höherer Wahrscheinlichkeit im Gefängnis landet als auf einer Universität. 49,8 Prozent der Strafgefangenen in den USA sitzen wegen Drogendelikten ein, die mit Mindeststrafen belegt sind, im Schnitt 94 Monate lang.
45,9 Prozent der Inhaftierten haben kaum oder keine kriminelle Vergangenheit. Der Bericht der United States Sentencing Commission (USSC) liefert ein verheerendes Bild.
Zusammen mit Bill Clinton tat Joe Biden 1994, was gerade politisch opportun war, genauso wie 2002, als er sich als Vorsitzender des Außenpolitischen Komitees des Senats vehement für den Militäreinsatz im Irak aussprach. Afghanistan, Syrien, Libyen – überall propagierte Biden Militäreinsätze, als sie populär waren, kaum drehte sich die öffentliche Meinung, drehte sich auch Biden.
Der Irakkrieg sei ein Fehler gewesen, betonte Biden in krauser Logik im jetzigen Wahlkampf: Er sei nur dafür gewesen, um ihn zu verhindern. Der Krieg in Libyen habe nur zwei Milliarden US-Dollar gekostet und kein Amerikaner sei gestorben und aus Afghanistan solle man sich jetzt noch nicht zurückziehen, es sei nach 19 Jahren militärischen Präsenz viel zu früh.
Bidens Wahlkampf wurde massiv von der Finanzindustrie unterstützt, schließlich hat man dort nicht vergessen, dass es Joe Biden war, der 2005 den »Bankruptcy Abuse Prevention and Consumer Protection Act« durch den Kongress brachte. Das Gesetz traf Studenten massiv, die sich für ihr Studium verschuldeten. 2005 – zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Regelung – schulterten Studenten 56 Milliarden Dollar Schulden bei privaten Finanzinstituten, zehn Jahre später waren es 150 Milliarden – und das von Biden mitgetragene Gesetz versperrte den Weg der Schuldenregulierung.
Während seiner gesamten politischen Karriere flirtete Biden intensiv mit der Rüstungs- und Finanzindustrie und seine ersten Nominierungen für Ministerämter deuten nicht darauf hin, dass er im Weißen Haus eine Kehrtwendung machen wird. Aber genau das macht ihn zur berechenbaren Größe und die Republikaner rund um Mitch McConnell arbeiten lieber mit ihm als mit Donald Trump.
Ausgleich ohne Harmonie
Schließlich ist Biden eine Kreatur Washingtons, oft hat er mit Republikanern gestimmt und der Ausgleich mit der Republikanischen Partei wird gelingen. Die Eliten verbünden sich. Aber die Harmonie am Capitol Hill bedeutet noch lange keine Harmonie im Land. Der Riss geht nicht durch Washington, er klafft zwischen Washington und dem Rest des Landes. Als am 6. Jänner, dem Tag, als der Kongress die Wahlmänner zählte, fast eine Millionen Trump-Anhänger demonstrierten und ein paar Gesetzlose das Kapitol stürmten, endete das mit einer pauschalen Verunglimpfung der Demonstranten. Das sei der Mob, erklärte Biden, Aufständische, die eingesperrt gehörten. Ein Versuch, das Land zu einen, schaut anders aus.
Fast die Hälfte der Bevölkerung glaubt, die Wahlen seien gestohlen worden – und es gibt dafür reichlich Gründe. Jene, die Trump 2016 gewählt haben, waren getrieben von dem Gefühl, von den Eliten im Stich gelassen worden zu sein. Die USA haben in Asien eine Mittelklasse geschaffen, dabei aber die eigene geopfert. Die produzierende Industrie ist vielfach abgewandert und die herrschende Philosophie – »Wenn es in China billig Arbeit gibt, dann kaufen wir viel davon« – hat ganze Landstriche devastiert.
Das mittlere Einkommen in den USA ist zwar zwischen 1970 und 2018 um 49 Prozent gestiegen (Pew Report), aber der Großteil des Zuwachses – 40 Prozent – kam bis zum Jahr 2000. Danach verflachte der Anstieg auf magere 0,3 Prozent im Jahr.
Die Opfer der Globalisierung haben Trump 2016 gewählt, rund 62 Millionen. Vier Jahre später haben 74 Millionen Amerikaner ihm die Stimme gegeben und anstatt Vorwürfe des Wahlbetrugs aufzuklären, den Beschwerden einen Raum zu geben, hat der Supreme Court die Klage – obwohl vorgebracht von 20 Bundesstaaten – nicht gehört. Auch die Versammlung beider Häuser hat am 6. Jänner über einen Antrag, die Vorwürfe zu prüfen, nicht einmal abgestimmt.
Blinder Hass
Es gibt zwei große Gleichmacher in einer demokratischen Gesellschaft, die Wahlen und den Tod. Beim Urnengang zählt die Stimme des Bettlers gleich viel wie jene des Milliardärs. In der Theorie, aber nicht 2020. Das Land wurde mit 65 Millionen Wahlkarten geflutet und auf die Überprüfung der Identität des Wählers wurde in allen umstrittenen Bundesstaaten verzichtet. Wahlbeobachter wurden zum Teil gewaltsam aus Wahllokalen entfernt, Auszählungsräume blickdicht verbarrikadiert, im Nachhinein eine Begutachtung der Stimmzettel durch unabhängige Dritte verhindert, die forensische Untersuchung der Wahlmaschinen – trotz Anordnung des Senats in Arizona etwa – boykottiert.
Marc Zuckerberg, der Facebook-Gründer, hat sich mit 350 Millionen US-Dollar ganze Wahlbehörden gekauft und ihnen vorgegeben, wo sie Wahlkarten sammeln müssen und wie viele Wähler zu registrieren sind. Der Milliardär hat genauso viel für die Wahlen ausgegeben wie der Staat. Hielte ein Entwicklungsland so Wahlen ab, sie würden international niemals anerkannt. Die Wahlen in den USA waren ein Farce und wer etwas anderes behauptet, hat nicht wirklich hingeschaut. Der Trump-Hass macht blind.
Warum Trump?
Die Eliten versöhnen sich, die Kluft zu den Bürgern wird immer größer. Die Fragen – warum wurde Trump gewählt, woher kommt die Unzufriedenheit – bleiben unbeantwortet. Covid-19 und die massiven Einschränkungen durch die Behörden treiben Millionen von Amerikaner in die Armut. Die Selbstmordzahlen explodieren, die Zahl der Drogenabhängigen auch.
Die »Deplorables« (Trademark Hillary Clinton) sind ohne Arbeit, ohne Einkommen, ohne Perspektive, von den Institutionen im Stich gelassen und werden bei Demonstrationen als Mob beschimpft. Der Zorn ist gewaltig und er wächst mit jedem Tag. Washingtons Elite unterschätzt das. Sie sitzt buchstäblich auf einem Pulverfass. Die Amerikaner haben 2020 so viele Waffen gekauft wie noch nie: 17 Millionen Gewehre und Pistolen sind zum ohnedies schon reich bestückten Arsenal dazu gekommen. Die Waffen sind da und mit dem Zorn wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sie eingesetzt werden.
Das Jahr hat katastrophal begonnen mit vier Toten am Capitol Hill und wer verhindern will, dass es viel mehr werden, sollte mit dem Verteufeln Andersdenkender aufhören. Lagerdenken kann man nur überwinden, indem man nicht in Lagern denkt.