Die Nationalratswahl kann für Österreich eine Zeitenwende bedeuten – im europäischen Kontext ist sie mit dem Ausgang der Wahlen 1999 nicht vergleichbar.
»Die Schande Europas« – so plakativ und umstritten urteilte das Nachrichtenmagazin profil im Februar 2000 über die neue österreichische Bundesregierung aus ÖVP und FPÖ. Mindestens ebenso umstritten waren damals die Reaktionen der übrigen EU-Mitgliedstaaten, die Sanktionen beschlossen. Der langjährige substantielle Frust gegen »die EU« in Österreich lässt sich zu einem guten Teil mit diesen Sanktionen erklären, die ein veritabler Schuss ins europäische Knie waren.
>> Neue Koalition ist keine Schande <<
Noch sind eine neue Regierung und eine mögliche Beteiligung der FPÖ daran in einer gewissen Ferne. Doch es lässt sich – wenn man in Brüssel und anderen EU-Hauptstädten genauer hinhört – mit Sicherheit sagen, dass eine Reaktion darauf anders ausfallen würde als anno 2000. Die EU hat aus ihren Fehlern gelernt und auch der politische Zeitgeist ist in Europa deutlich nach rechts gerückt. Sozialdemokratische Regierungschefs muss man in Europa derzeit mit der Lupe suchen und würden wohl auch die Kriterien für Artenschutz erfüllen. Wahrscheinlich würde sogar eine Koalition zwischen SPÖ und FPÖ stärkere Reaktionen in Europa auslösen als die Variante ÖVP/FPÖ – nämlich in den SPÖ-Schwesterparteien, die in ihren Ländern oft gegen (Rechts-)Populisten um ihre politische Zukunft kämpfen. Wie auch immer sich die Koalition zusammensetzen wird – Europa wird ein allgegenwärtiges Thema sein. Denn viele Probleme, die auf Lösungen warten und die stärksten Wahlmotive in Österreich waren (Stichwort: Migration), können nur auf europäischer Ebene nachhaltig angegangen werden.
>> Zeitenwende <<
Die europäische Tangente wird in den nächsten zwei Jahren noch stärker in die Innenpolitik mit hineinspielen und damit auch unsere Bundesregierung betreffen. Nicht nur, weil Österreich den Ratsvorsitz in genau einem Jahr innehat – und damit für sechs Monate an einer der entscheidenden Stellen der Europäischen Union sitzen wird. Sondern auch, weil sich mit der absolvierten Wahl in Deutschland und Emmanuel Macron als neuem französischen Präsidenten ein Mondfenster auftut, die Europäische Union grundlegend neu zu ordnen. Macrons Grundsatzrede an der Pariser Sorbonne hat gezeigt, dass er es ernst meint.
Die nächsten zwei Jahre werden Europa für die kommenden Dekaden entscheidend prägen. Zentrale Fragen müssen dann beantwortet sein: eine stärkere Zentralisierung oder flexible Zusammenarbeit nach verschiedenen Geschwindigkeiten? Militärischer Player oder weiterhin ein Addendum der Amerikaner? Ein Euro-Finanzminister mit Eurozonen-Budget (und damit ein Ausbau der Kompetenzen der Kommission) oder Stärkung der inter-staatlichen Kontrolle durch Aufwertung des ESM?
>> Neue Rolle für Österreich <<
Österreich kann und soll auch eine aktive Rolle darin spielen. Dabei ist es keine Frage, ob das Land nun entweder ins Macron-Lager gehört oder sich dem Visegrad-Block anschließt. Diese Frage greift zu kurz und verstellt den Blick auf eine wichtige Lücke: Mit dem bevorstehenden Abschied von Großbritannien stehen drei Rollen zur Auswahl. Doch weder haben wir die nachrichtendienstliche »Intelligence« der Briten noch wollen wir der ewige Nörgler mit einem Bein im Öxit sein. Bleibt die dritte Rolle, die uns allerdings gut stehen könnte: das ausgleichende Korrektiv zwischen französischem Etatismus und deutschem Selbstbewusstsein. n