Die IT-Unabhängigkeit Europas erfordert einen kontinentalen Kraftakt zur Finanzierung der Infrastruktur. Die Zweckwidmung der enormen Strafgeldsummen aus Wettbewerbsverletzungen könnte für Förderungen und Anschubfinanzierungen verwendet werden.
Ohne eine effektive Wettbewerbspolitik kann der Binnenmarkt sein mögliches Potenzial niemals zur Gänze entfalten. Daher gingen in der Europäischen Union – als heute größtem Wirtschafts- und Handelsraum der Welt mit einer halben Milliarde Verbrauchern und an die 20 Millionen Unternehmen – die kontinuierliche Verbesserung fairer Wettbewerbsregeln und die schrittweise Verwirklichung des Binnenmarktes von Anfang an Hand in Hand.
Kartelle – die schlimmste Form der Wettbewerbsverletzung
Kartellbildungen, die Zusammenarbeit von Unternehmen bei der Marktgestaltung, sind im Unterschied zu Forschungskooperationen und heute vielfach ebenfalls üblichen Open Innovation-Ansätzen, nicht darauf ausgerichtet, im freien Wettbewerb laufend bessere und preisgünstige Produkte und Dienstleistungen zu generieren, sondern im Gegenteil durch illegale und verdeckte Preisabsprachen den Wettbewerb weitgehend auszusetzen. In solchen Fällen gibt es für die beteiligten Unternehmen keinen Anreiz mehr, in ihren Geschäften die Verbraucherperspektive in Bezug auf Qualität und Produktvielfalt zu berücksichtigen.
Die meisten Kartellbildungen erfolgen verdeckt, entweder durch direkte Vereinbarungen zwischen Marktteilnehmern oder über ihre Berufsverbände und sind daher schwierig aufzudecken. Kartellbildungen verstoßen gegen das EU-Wettbewerbsrecht und die Kommission kann involvierte Unternehmen mit hohen Geldbußen belegen. Mit der Einführung einer Kronzeugenregelung nach amerikanischem Vorbild ermutigt die EU-Kommission selbst in Kartelle involvierte Unternehmen zur Preisgabe von internen Kartellinformationen und stellt dafür mildernde Umstände (leniency) wie die Verringerung oder gänzliche Erlassung andernfalls verhängter Geldbußen in Aussicht.
Gegen Kartelle wird insbesondere deswegen besonders hart vorgegangen, weil sie die schamloseste Verletzung des Wettbewerbsrechtes darstellen. In der Antitrust-Gesetzgebung wird sehr genau darauf geachtet, in welcher Form die Rechtsverletzung erfolgte, ob z.B. horizontale Vereinbarungen zwischen unabhängigen Unternehmen, also zwischen Konkurrenten auf gleicher Ebene der Supply-Chain, oder vertikale Absprachen zwischen Firmen auf unterschiedlichen Stufen der Erzeugungs- und Lieferkette (z.B. zwischen Hersteller und Handelsvertrieb) getroffen wurden und in welchem Ausmaß z.B. durch Preisfestlegungen und Marktaufteilungen die Funktionalität von Märkten unterminiert wurde.
Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung
Eine marktbeherrschende Stellung an sich ist noch nicht wettbewerbswidrig. Erst wenn ein Unternehmen seine dominierende Marktstellung dazu missbraucht andere Wettbewerber am Markt auszuschalten, liegt Missbrauch vor. Rechtsverletzungen in diesem Bereich betreffen Junktimierungen beim Verkauf von Softwareleitprodukten (z.B. Betriebssysteme) mit anderen Software-Accessoires (z.B. Browser-Systeme), die Festsetzung von Dumping-Preisen auf einem Verlust-Level (Predation), die Verweigerung der Bereitstellung von für den Wettbewerb in einem Nebenmarkt unerlässlichem Know-how (z.B. Druckertreiber) oder die Verrechnung überhöhter Preise.
Bei Untersuchungen zum Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung evaluiert die EU-Kommission zuerst die Marktstellung des Unternehmens am Produktmarkt sowie auf geografischen Märkten. Bei Marktanteilen unter 40 Prozent ist es unwahrscheinlich, dass eine marktbeherrschende Stellung vorliegt. Aber es werden auch andere Faktoren für eine abschließende Beurteilung herangezogen, wie z.B. die Leichtigkeit eines Markteintritts für Konkurrenzunternehmen, die Existenz von Marktteilnehmern mit gleicher Kaufkraft, die Gesamtstärke des verdächtigten Unternehmens und seine Ressourcen sowie seine Präsenz auf verschiedenen Stufen der Lieferkette (vertikale Integration). Einen nachgewiesenen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung kann die EU-Kommission ebenfalls mit erheblichen Geldbußen sanktionieren.
Unternehmensfusionen und staatliche Beihilfen
In der globalen Wirtschaft kommt es immer wieder zu Unternehmenszusammenschlüssen mit dem Ziel, Produkte durch Ausnützung von Synergieeffekten und durch Bündelung der wechselseitigen Stärken effizienter zu entwickeln oder um Produktions- und Vertriebskosten zu senken. Das Resultat solcher Fusionen ist eine Intensivierung des Wettbewerbes auf den jeweiligen Märkten. Die Wettbewerbsbehörden prüfen daher, ob im Falle von Zusammenschlüssen das Marktgleichgewicht noch intakt bleibt und versuchen dadurch zu vermeiden, dass monopolähnliche Konstellationen den Wettbewerb verfälschen.
Die Europäische Kommission prüft jeden Zusammenschluss aus dem ein Unternehmen mit einem globalen bzw. europäischen Jahresumsatz abzüglich Steuern oberhalb einer bestimmten Schwelle hervorgeht. Dabei wird nur jener Umsatzteil in Betracht gezogen, der Gegenstand der Konzentration ist. Prüfungsrelevant sind Fälle, bei denen das Unternehmen des Verkäufers einen Vermögenswert von mehr als 5 Milliarden Euro repräsentiert bzw. der aggregierte Umsatz eines jeden von mindestens zwei involvierten Unternehmen mehr als 250 Millionen Euro beträgt. Zusammenschlüsse unterhalb dieser Schwellenwerte können von den nationalen Wettbewerbsbehörden geprüft werden.
Staatliche Beihilfen sind der vierte Bereich, den die Europäische Kommission bei der Gestaltung fairer Märkte in Beobachtung hält. Wenn Wirtschaftszweige von der öffentlichen Hand unterstützt werden, können unlautere Vorteile gegenüber vergleichbaren Branchen in anderen EU-Mitgliedsstaaten entstehen und Wettbewerbsverzerrungen eintreten. Staatliche Beihilfen werden daher nur dann bewilligt, wenn sie tatsächlich im allgemeinen öffentlichen Interesse liegen, und es dadurch zu keinerlei Beeinträchtigungen im Handel zwischen den Mitgliedsstaaten kommt.
Zu Erleichterung dieser Kontrollfunktion wurde 2011 ein neuer „Rechtsrahmen für staatliche Beihilfen für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ (DAWI) angenommen und mit 31. Jänner 2012 in Kraft gesetzt. Im Mai 2012 leitete die Kommission mit der Modernisierung des EU-Beihilfenrechts (State Aid Modernisation = SAM) eine noch ehrgeizigere Reformagenda ein. DAWI ist Bestandteil des europäischen Modells der sozialen Marktwirtschaft und unterstützt öffentliche Stellen bei der Entwicklung intelligenterer, wirkungsvollerer und effizienterer Dienstleistungen in Bereichen wie z.B. Energie, Verkehr, Telekommunikation und Postdienste. Dabei sollen gut konzipierte und auf ein ausgewiesenes Marktversagen gerichtete Beihilfen erleichtert werden. Insgesamt geht es im Beihilfenrecht um die Bewältigung einer doppelten Herausforderung: Einerseits sollen Beihilfen der Wachstumsförderung dienen und einen Anreizeffekt auch für private Investitionen darstellen, andererseits sollen sie basierend auf den gegebenen Haushaltszwängen die Tragfähigkeit öffentlicher Finanzen sicherstellen und dabei den Binnenmarkt in höchst möglichem Ausmaß schützen.
Zielsetzungen und Procedere bei Geldbußen
Die Europäische Kommission verfolgt in Bezug auf wettbewerbsrechtliche Verstöße einen präventiven Ansatz. Auch die Geldbußen haben letztlich einen vorbeugenden Charakter – sie müssen bestrafen und abschrecken. Wenn diese Zielsetzung erreicht werden will, muss sich z.B. in der Höhe einer Geldbuße wegen Kartellbildung die Dauer des Kartells widerspiegeln. Grundlage für das Ausmaß einer Geldbuße ist ein bestimmter Prozentsatz des Jahresumsatzes, den das an einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln beteiligte Unternehmen mit dem betreffenden Produkt erwirtschaftet hat. Grundsätzlich kann ein Betrag von bis zu 30 Prozent des Wertes des relevanten Umsatzes festgelegt werden. Die Höhe richtet sich aber letztlich nach der Schwere der Zuwiderhandlung, für die mehrere Faktoren bestimmend sind, u.a. die Art der Zuwiderhandlung (z.B. Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung, Preisabsprache, Marktaufteilung) sowie die geografische Reichweite eines Kartells. Bei Kartellbildungen liegt der Prozentsatz in der Regel in einer Bandbreite von 15 bis 20 Prozent.
Ein zweites wesentliches Kriterium bei der Ermittlung der Höhe der Geldbuße ist die Dauer der Zuwiderhandlung. Der nach dem Umsatz ermittelte Betrag wird mit der Anzahl der Jahre und Monate (0 – 6 Monate = ½ Jahr, 7 – 12 Monate = 1 Jahr) multipliziert, die das Unternehmen an der Zuwiderhandlung beteiligt war.
Kommen erschwerende Umstände (z.B. im Falle von Wiederholungstätern) hinzu kann die Geldbuße erhöht, bei mildernden Umständen (z.B. geringfügige Beteiligung) dagegen ermäßigt werden. Als zusätzliche Abschreckung wird bei Kartellen die Geldbuße um einen einmaligen Betrag von 15 bis 25 Prozent des Jahresumsatzes erhöht, was insbesondere bei Kartellen von kurzer Dauer große Wirkung zeigt.
Am Abwicklungsprozess zur Durchsetzung von Geldbußen sind viele Schlüsselakteure in der EU-Kommission sowie in der externen Gerichtsbarkeit beteiligt. Die zentrale Zuständigkeit obliegt der GD Wettbewerb (Generaldirektion „Wettbewerb“), die in Direktionen (Mergers, Antitrust, State Aid) und Units (Instrumente der Wettbewerbspolitik und sektorale Gliederung) organisiert ist. Die Untersuchung eines Falles wird nun der dafür relevanten Unit zugeteilt, die als Case-Team die Schnittstelle zwischen der GD Wettbewerb und den involvierten Parteien bildet.
Im Verlauf der internen Prüfungen und Abwägungen (Checks and Balances) steht dem Case-Team insbesondere bei sehr komplexen Fällen der unmittelbar dem Generaldirektor verantwortliche „Chief Economist“ Rat gebend zur Seite. Er assistiert auch dem Europäischen Gerichtshof bei noch schwebenden Verfahren. Intern in der GD wird eine „Peer review“ durchgeführt, die einen neuen Blick („fresh pair of eyes“) auf bestimmte Aspekte der Begutachtung durch das Case-Team ermöglichen soll. Die „Anhörungsbeauftragten“ („Hearing Officer“) arbeiten unabhängig von der GD und sind direkt dem Kommissionmitglied (Almunia) unterstellt. Ihre Aufgaben sind es, die Einhaltung der Verfahrensregeln und die Qualität der Entscheidungsfindung sicherzustellen sowie die Verfahrensrechte der Parteien zu gewährleisten.
Darüber hinaus sind kommissionsintern noch die „Rechtsdienste“ und andere assoziierte Services sowie ein „Beratungskomitee“ („Adivsory Committee“) in die Entscheidungsfindung involviert. Entscheidungen über die Anwendung der Artikel 101 und 102 des Vertrages über das Funktionieren der Europäischen Union (TFUE = Traité sur le fonctionnement de l’Union européene) werden vom „The College of Commissioners“ (Kommissarskollegium) auf Empfehlung des für Wettbewerbspolitik zuständigen Kommissars gefällt. In die externen Prüfungen und Abwägungen, der juristischen Bewertung („judical rewiew“), sind die europäischen Gerichte und der Europäische Gerichtshof in zweiter Instanz eingebunden.
Spektakuläre Bußgeldfälle
Eine gigantische Bußgeldzahlung verhängte die EU-Kommission 2008 im Zusammenhang mit dem Marktaufteilungs-Kartell europäischer Autoglashersteller. Die Unternehmen Asahi, Pilkington, Saint-Gobain und Soliver haben zwischen 1998 und 2003 die Automobilindustrie und die Konsumenten fünf Jahre lang systematisch hintergangen, und das auf einem Markt mit 2 Milliarden Euro jährlich. Die Geldbuße für das gesamte Kartell machte 1,3 Milliarden Euro aus und die gegen ein einzelnes Unternehmen ausgesprochene Bußgeld-Festsetzung in Höhe von 880 Millionen Euro (gegen Saint-Gobain – 60 Prozent Erhöhung wegen wiederholten Verstoßes) war die höchste jemals verhängte Strafe. Asahi legte im Verfahren zusätzliche Informationen über das Kartell vor und erhielt auf der Grundlage der Kronzeugenregelung eine um 50 Prozent verringerte Geldbuße.
2012 wurde mit einer Geldbuße gegen Bildröhren-Kartelle, die 10 Jahre (1996 – 2006) lang aktiv gewesen sind, der erst vier Jahre alte Rekord erneut gebrochen. In zwei Kartellfällen wurde gegen sieben Hersteller von Bildröhren eine Gesamtstrafe von 1,47 Milliarden Euro ausgesprochen. Bei den Unternehmen handelte es sich um Philips, Samsung, LG Electronics, Panasonic, Toshiba, Chunghwa und MTPD.
Im Jahr 2008 wurde Microsoft von der EU-Kommission mit einem Bußgeld in Höhe von 860 Millionen Euro belegt. Die Begründung: Microsoft hat jahrelang für die Bereitstellung technischer Informationen zu seinem Betriebssystem überhöhte Preise von den Konkurrenten verlangt. Letztes Jahr wurde Microsoft erneut mit einem Bußgeld in Höhe von mehr als einer halben Milliarde Euro belegt, weil es zwischen Mai 2011 und Juli 2012 den Benutzern des Betriebssystems „Windows 7“ nur den hauseigenen Browser „Internet Explorer“ und nicht, wie vereinbart, ein Auswahlfenster angeboten hatte, auf dem auch Konkurrenzangebote wie Mozilla Firefox, Google Chrome oder Apple Safari aufgelistet sind. In Europa waren 15 Millionen Windows-User von dieser Einschränkung betroffen. Mit dem Urteil wurde von der EU-Kommission das erste Mal eine Bußgeldstrafe wegen Nichteinhaltung eines Verpflichtungsbeschlusses ausgesprochen, die jedoch deutlich unter dem möglichen Höchstsatz von 10 Prozent des Gesamt-Jahresumsatzes blieb, weil Microsoft mit den Brüsseler Wettbewerbswächtern zusammengearbeitet hat.
Die EU-Kommission hat 2013 ungefähr 1,5 Milliarden Euro an Bußgeld durch Kartellverstöße oder Marktmissbrauch eingenommen. Ende des Jahres wurde dann eine Rekordstrafe von 1,7 Milliarden Euro gegen acht internationale Banken, darunter die Deutsche Bank verhängt, da sie gemeinsam wichtige Referenzzinssätze manipuliert hatten. Die Strafen gegen die Banken werden erst heuer verbucht.
Da z.B. Deutschland für gut 20 Prozent des EU-Budgets aufkommt, wird dieser Prozentsatz an eingegangenen Strafzahlungen auch wieder an Deutschland vergütet. 2013 flossen also etwa 310 Millionen Euro aus diesem Titel zurück ins deutsche Budget. Im Jahr 2012 reduzierte sich der Beitrag Deutschlands zum EU-Haushalt durch Bußgeldeinnahmen in Höhe von 3,3 Milliarden Euro um satte 683 Millionen Euro.
Mit Google will EU-Kommissar Joaquín Almunia hingegen den jahrelangen Rechtsstreit wegen Benachteiligung von Wettbewerbern bei Suchanzeigen nach neuerlichen Zugeständnissen des Unternehmens ohne Bußgeldfestsetzung beilegen.
Überprüfte Schwerpunktmärkte
In Jahr 2012 hat die GD Wettbewerb gemäß ihrem Jahresbericht den Fokus bei der Überwachung der Einhaltung der Wettbewerbsregeln insbesondere den Finanzsektor (z.B. Kapitalisierung des spanischen Bankensektors in Übereinstimmung mit den Beihilferegeln), auf die Netzindustrien (Eröffnung eines Antitrust-Vorgehens gegen Gazprom, Sanktionierung eines Abkommens zwischen den Anbietern Telefónica und Portugal Telecom wegen geografischer Aufteilung des iberischen Marktes), auf die digitale Ökonomie (Verfahren gegen Samsung und Motorola wegen Missbrauch ihrer „Standard Essential Patents“ sowie Wiederherstellung des Wettbewerbs beim Verkauf von e-books) und die pharmazeutische Industrie (Veröffentlichung von Feststellungen und Reklamationen betreffend wettbewerbswidrigen Verhaltens und Absprachen im Bereich billiger, generischer Medikamente) gelegt.
Weiterer Meilenstein im europäischen Wettbewerbsrecht
Im Juni letzten Jahres hat die Europäische Kommission nach vorhergehenden Politikinitiativen (Grünbuch 2005 und Weißbuch 2008) eine „Empfehlung für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Vorschriften für Schadenersatzklagen nach einzelstaatlichem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedsstaaten und der Europäischen Union“ vorgelegt. Damit zielt die EU-Kommission auf die private Durchsetzung der EU-Wettbewerbsvorschriften aus den Artikeln 101 und 102. Wegen der dort verankerten Verbote kann jedermann Ersatz für den entstandenen Schaden verlangen, wenn zwischen dem Schaden und einer Zuwiderhandlung gegen die EU-Wettbewerbsvorschriften ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Ein Geschädigter sollte dabei sowohl Ersatz für die eingetretene Vermögenseinbuße („damnum emergens“) als auch Ersatz für entgangenen Gewinn („lucrum cessans“) sowie die Zahlung von Zinsen fordern können.
Die Zuerkennung von Schadenersatz fällt jedoch nicht in die Zuständigkeit der Europäischen Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden, sondern ist Gegenstand des Zivilrechts und zivilrechtlicher Verfahren bei einzelstaatlichen Gerichten. Mit dem Vorschlag zielt die Kommission auf die Optimierung der Interaktion zwischen behördlicher und privater Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts und auf die Gewährleistung, dass Opfer von Zuwiderhandlungen gegen das EU-Wettbewerbsrecht Schadenersatz in voller Höhe erhalten können. Zur Quantifizierung von Schäden bei Wettbewerbsverletzungen hat die Kommission einen „Praktischen Führer“ herausgegeben der bei der schwierigen Ermittlung des Schadensumfanges wertvolle Hilfestellungen geben soll.
Die Entscheidungen der Wettbewerbsbehörden sollen nach den Vorstellungen der Kommission volle Geltung im Zivilverfahren haben (verbesserte Evidenz von eingetretenen Schäden) und es soll klare Regeln der zeitlichen Limitierung für die Einreichung von Schadenersatzklagen geben. Die Richtlinie soll auch mit einer „widerlegbaren (vom Verursacher) Vorannahme“operieren, wonach in 90 Prozent aller Kartellfälle die Kunden durch höhere Preise geschädigt werden, für deren Bezahlung dann eine volle Kompensation zugestanden werden soll.
Im Dezember 2013 hat die EU-Kommission politische Einigung über einen Vorschlag für eine „Verordnung über strafrechtliche Sanktionen für Marktmissbrauch“ (IP/11/1218) erzielt. Zu dieser herben Weihnachtsüberraschung für Straftäter in den europäischen Vorstandsetagen äußerte sich der Binnenmarkt- und Dienstleistungskommissar Michel Barnier wie folgt: „Endlich müssen Straftäter, die des Marktmissbrauchs überführt werden, EU-weit mit Gefängnisstrafen rechnen. Und für die Justizkommissarin Viviane Reding hat das Strafrecht eine stark abschreckende Wirkung: „Die EU kennt keine Toleranz im Hinblick auf Marktmissbrauch und Zinsmanipulation. Wir müssen die Integrität unserer Märkte und das Geld unserer Bürgerinnen und Bürger schützen.“ Mit der „Marktmissbrauchsverordnung“ hat die EU die Befugnisse der Mitgliedsstaaten zur Aufdeckung und strengen Ahndung von Insiderhandel und Marktmanipulation erheblich gestärkt.
Nächster logischer Schritt – Zweckbindung von Geldbußen
Nach der derzeitigen Praxis fließen EU-Bußgelder in den Haushalt der Union und werden anteilig im Schlüssel der Beitragszahlungen der Mitgliedsländer an diese refundiert, unterliegen dort bislang aber keiner Zweckbindung für die Ausschüttung an betroffene und im Wettbewerb beeinträchtigte Industrien und Märkte. Im Vorjahr ist im Netzwerk der Nationalen Wettbewerbsbehörden (ECN = European Competition Network) als auch in der EU-Kommission erstmals ein gewisser Reformeifer in dieser Hinsicht erkennbar gewesen. Wenn nachweislich globale, außereuropäische Wettbewerber durch Ausnutzung ihrer Marktmacht die Konkurrenz in der EU und die europäischen Konsumenten schädigen, wäre es ein logischer Schritt in die richtige Richtung, die verhängten Bußgeldzahlungen bzw. die Einnahmen wegen Verletzungen des europäischen Wettbewerbsrechts genau in den betroffenen Wirtschaftssektoren auszuschütten. Mit einer solchen Vorgangsweise könnte z.B. die europäische IKT-Industrie ihr Innovationspotenzial deutlich verstärken und damit die Realisierung des digitalen Binnenmarktes beschleunigen. Europäische Softwareunternehmen könnten ihre Unabhängigkeit mit diesen quasi „Fördergeldern“ unter Ausnutzung von Open Source-Modellen massiv verstärken und die Netzbetreiber könnten die europäische IKT-Infrastruktur (Stichwort: Union weiter Ausbau von optischen Breitbandnetzen) in eine blühende Zukunft führen.
Der FTTH (Fibre-to-the-Home) Council Europe hat in diesem Zusammenhang vorgerechnet, dass die europaweite Hochrüstung der IKT-Infrastruktur mit Glasfaserverbindungen bis 2020 Investitionen von 201 Milliarden Euro erfordern würde. Mit einem flächendeckenden optischen Netz stünden nahezu unlimitierte Übertragungskapazitäten für alle heute bestehenden multimedialen Anwendungen als auch für künftige Applikationen zur Verfügung. Gleichzeitig arbeitet die auf Lichtwellenleitern eingesetzte Transmission-Technologie DWDM (Dense Wave Division Multiplexing) mit einem komplexen Verschlüsselungsverfahren, mit dem Europa seine Lebensadern für Information und Kommunikation sicherheitstechnisch enorm hochrüsten und härten könnte.
Natürlich müssten die europäischen Netzbetreiber ihre heutigen Ausbaustrategien in Richtung eines zukunftssicheren Glasfaser-Backbone ändern, anstatt dieselbe Summe in die stufenweise Adaptierung und Hochrüstung mittels VDSL2-Verbindungen zu investieren. Die aus Bußgeldern wegen Verletzung des europäischen Wettbewerbsrechts im Bereich IKT lukrierten Mittel würden aber bei Zweckbindung eine additive Förderwirkung für den erforderlichen Umstieg auf optische Netze entfalten. Sicherlich ziehen sich Verletzungen des Wettbewerbsrechts durch alle Branchen, aber in den Informationstechnologien gilt für die heute dominierenden Unternehmen aus Amerika und Asien einfach die Devise der Marktabsicherung um jeden Preis, auch unter Inkaufnahme von Bußgeldzahlungen. Aus dieser Perspektive würde eine Zweckbindung nicht nur die Konturen des europäischen Wettbewerbsrechts noch einmal nachhaltig schärfen, sondern auch die IKT-Industrien in Europa stärken. Und letztlich wäre eine solche kontinentale Kraftanstrengung das deutlichste Signal für die unabdingbare Unabhängigkeit des Wirtschaftsstandortes Europa von den IT-Giganten konkurrierender globaler Wirtschaftsmächte. Die Debatte zur Finanzierung eines Schengenraumes für europäische Daten ist daher überfällig.
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