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Das Geschlecht ist ein Faktor, aber nicht der einzige

Foto: 2016 wurde Alexandra Kautzky-Willer als Wissenschafterin des Jahres ausgezeichnet. Foto: 2016 wurde Alexandra Kautzky-Willer als Wissenschafterin des Jahres ausgezeichnet. Foto: Thinkstock

Krankheiten und ihre Symptome zeigen sich bei Frauen und Männern teilweise sehr unterschiedlich, aber erst seit wenigen Jahren wird auf diese Erkenntnisse geachtet. Der Trend geht in Richtung personalisierter Medizin, meint Alexandra Kautzky-Willer, Professorin für Gendermedizin an der Medizinischen Universität Wien. Über ungesunden Lebensstil, lange Arbeitszeiten und wie Frauen ihren biologischen Bonus verspielen, spricht sie im Report(+)PLUS-Interview.

Zur Person

Alexandra Kautzky-Willer, geboren 1962 in Wien, promovierte 1988 an der Universität Wien und forschte an der Medizinischen Universitätsklinik in Wien sowie am Institute of Systems Science and Bioengineering in Padua. 1996 schloss sie die Ausbildung zur Fachärztin für Innere Medizin ab und habilitierte ein Jahr später. Seit 2002 ist sie als Oberärztin an der Uniklinik für Innere Medizin tätig. 2010 wurde Alexandra Kautzky-Willer zur ersten Professorin für Gendermedizin ernannt. Seit Jänner 2018 ist sie Präsidentin der Österreichischen Diabetes-Gesellschaft.

Gendermedizin ist ein relativ junges Fachgebiet der Humanmedizin, das eine geschlechtsspezifische Erforschung und Behandlung von Krankheiten for-ciert. Signifikante Unterschiede zeigen sich insbesondere bei Herzerkrankungen, Autoimmunkrankheiten, Suchterkrankungen, Adipositas und Diabetes sowie in der Wirksamkeit von Medikamenten, die in der Regel an jungen Männern getestet werden. Neben Wien gibt es seit 2014 einen zweiten Lehrstuhl für Gendermedizin an der MedUni Innsbruck, geführt von Margarethe Hochleitner. 


(+) plus: Sie wurden 2016 zur Wissenschafterin des Jahres gewählt. Betrachten Sie diese Auszeichnung auch als Anerkennung für Ihre Spezialdisziplin, die Gendermedizin?

Alexandra Kautzky-Willer: Das Bewusstsein für die Bedeutung der Gendermedizin ist dadurch auf jeden Fall gewachsen. Aber die Auszeichnung war auch wichtig für die Motivation junger Wissenschafterinnen und Wissenschafter, sich mit der Materie zu beschäftigen.

(+) plus: Wie stark ist Gendermedizin inzwischen in der Ausbildung verankert?

Kautzky-Willer: In Österreich ist Gendermedizin an den Medizinischen Universitäten Wien und Innsbruck fix im Studium integriert. Es gibt ein eigenes Wahlfach und eine Ringvorlesung, die sich dem Thema seit vielen Jahren widmet. Seit 2010 bieten wir den ersten postgraduellen Lehrgang für »Gender Medicine« in Europa an. In ihrem Mission Statement bekennt sich die Medizinische Universität Wien zur Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte in der Medizin. Das wird noch nicht überall gleich gut umgesetzt und ist ein langsamer Prozess.

(+) plus: Sind die Erkenntnisse auch bereits in der Praxis angekommen?
Kautzky-Willer: Dieser Bereich hinkt sicher noch am meisten hinterher. Was es hier braucht, sind Leitlinien oder Empfehlungen von Fachgesellschaften für die klinisch-praktische Umsetzung. Dafür muss aber die Evidenz hoch sein, es braucht Meta-
analysen oder zumindest randomisiert-kontrollierte Studien. Das ist sehr oft nicht der Fall, weil geschlechtsspezifische Analysen beim Design von Medikamentenstudien früher gar nicht berücksichtigt wurden und noch immer kein großes Thema sind. Es sind zwar mehr Frauen in Studien eingeschlossen, aber Auswertungen stratifiziert nach Geschlecht und Hormonstatus oder Alter werden selten aufgezeigt. Es wird sicher noch dauern, bis es eindeutige Ergebnisse gibt.

(+) plus: Wird es eigene Medikamente für Frauen geben?

Kautzky-Willer: Das glaube ich nicht. Man wird aber klarer auf Unterschiede hinweisen: Das kann das Geschlecht sein, aber auch die Lebensphase, das Alter, das Gewicht. Prinzipiell geht der Trend in Richtung individuelle, personalisierte Medizin. Das Geschlecht ist dabei ein Faktor, aber nicht der einzige. Wir berücksichtigen das biologische Geschlecht, also den Hormonstatus, die Geschlechtschromosomen, die genetische Situation, Organfunktionen. Ebenso wichtig ist aber das soziale Geschlecht, das den Lebensstil, die Umweltbelastung, die Compliance bei Medikamenten und Therapien und den zwischenmenschlichen Bereich betrifft und wissenschaftlich weniger greifbar ist. Es ist eine sehr komplexe Materie mit vielen Wechselwirkungen.

(+) plus: Wo zeigen sich die medizinischen Unterschiede zwischen Frauen und Männern am deutlichsten?

Kautzky-Willer: Bei einem Herzinfarkt beispielsweise sind die Symptome bei Frauen oft nicht ganz »typisch«. Treten Schmerzen im Oberbauch, im Rücken oder Kieferbereich auf, die mit Übelkeit oder einem Schwächegefühl einhergehen, muss man deshalb achtsamer sein und auch an eine systemische Herzerkrankung oder einen drohenden Herzinfarkt denken. Die Diagnosekriterien sind oft nicht einfach und die Untersuchungen häufig nicht so spezifisch und sensitiv wie bei Männern. Es gibt eben noch keine klaren Vorgaben, Checklisten, was zu tun ist, wenn eine Frau mit diesen Symp-tomen kommt. Auch bei der Herzschwäche zeigen sich deutliche Unterschiede. Das »steife Herz« (diastolische Dysfunktion), das vor allem ältere Frauen betrifft, ist derzeit schwerer behandelbar. Das sogenannte »Broken Heart Syndrom« erleiden fast nur Frauen nach der Menopause. Die EU und die WHO unterstützen die internationale Zusammenarbeit und Fortbildungen in diesem Bereich sehr. Es tut sich schon etwas, aber noch recht träge.

Bild: Geschlechts-spezifische Analysen wurden beim Design von Medikamenten-studien früher gar nicht berücksichtigt und sind noch immer kein großes Thema. 

(+) plus: Frauen haben insgesamt eine höhere Lebenserwartung als Männer. Wie lässt sich das erklären?

Kautzky-Willer: Frauen haben von Natur aus einen kleinen biologischen Vorteil von ein bis zwei Jahren, weil sie einen höheren Östrogenspiegel haben, der sie bis zur Menopause vor Schlaganfällen und Herzinfarkten schützt. Sie bekommen später Diabetes und haben eine günstigere Fettverteilung, auch das Arterioskleroserisiko und das Krebsrisiko steigen erst zehn bis 15 Jahre später.

Ganz entscheidend spielt aber der Lebensstil mit. Alkohol und Rauchen sind der Hauptgrund, weshalb Männer früher an damit verbundenen Krankheiten sterben. Aber auch bei Unfällen und Selbstmord liegen Männer voran. Der größte Unterschied in der Sterblichkeit zeigt sich zwischen 20 und 35 Jahren: Arbeitsunfälle, Sportunfälle, Männlichkeitsrituale – alles, was mit risikoreichem Agieren zusammenhängt. Ich sage immer, am gefährlichsten lebt der 20-jährige Mann, auch gegen sich selbst.

(+) plus: Nähern sich die Geschlechter an?

Kautzky-Willer: Ja, und zwar im negativen Sinn. Auch Frauen nehmen immer mehr einen ungesunden Lebensstil an, beginnen früh zu rauchen und trinken mehr Alkohol. Durch die zunehmende Berufstätigkeit wird zwar ihre Unabhängigkeit und Selbstbestimmung gefördert, weil die Familienaufgaben aber noch immer primär bei der Frau liegen, steigt ihre Mehrfachbelastung. Frauen leben zwar immer noch länger, aber die Unterschiede werden geringer. Sie haben auch weniger gesunde Lebensjahre. Sie leiden unter chronischen Krankheiten, Behinderungen, Schmerzzuständen oder Depressionen, die ihre Lebensqualität stark beeinträchtigen.

(+) plus: Welche Auswirkungen hat die geplante Anhebung der Höchstarbeitszeiten auf die Lebensqualität?

Kautzky-Willer: Die Frage ist, ob die Freiwilligkeit hier wirklich gegeben ist – und zwar bei Frauen gleichermaßen wie bei Männern. Grundsätzlich ist eine Flexibilisierung nicht schlecht, aber für Frauen, die Betreuungspflichten für Kinder oder zu pflegende Angehörige haben, darf keine Stresssituation entstehen. Diese Regelung muss mit besseren Betreuungsmöglichkeiten und Entlastung Hand in Hand gehen.

(+) plus: In Krankenhäusern waren diese langen Arbeitszeiten Usus. Was hat sich durch das neue Krankenanstaltenarbeitszeitgesetz (KA-AZG) verändert?

Kautzky-Willer: Die Arbeitszeit wurde beschränkt, die Arbeit verdichtet sich dadurch. Wir wollen evaluieren, ob sich die Arbeitszeitverkürzung unterschiedlich auf Männer und Frauen und die Arbeitszufriedenheit auswirkt. Für die Patientenversorgung, aber auch die Ausbildung ist auf jeden Fall eine gewisse Kontinuität wichtig, was bei häufigen Wechseln sicher weniger gegeben ist.

Die Arbeit muss bewältigbar bleiben. Es muss genügend Personal und Erholungszeiten geben. Wir sind noch nicht so weit, dass die Patientenströme aus den Krankenhäusern zu den niedergelassenen Ärzten umgeleitet werden. Überlastete Ärzte sind für die Patienten sicher nicht gut.

(+) plus: Empfanden Sie persönlich die langen Dienste als Belastung?

Kautzky-Willer: Ich habe selbst nach Wochenenddiensten noch am Montag bis nachmittags gearbeitet – und nicht mit schlechterer Leistung, glaube ich. Für die Patienten war diese Kontinuität auch von Vorteil. Wahrscheinlich muss man das richtige Mittelmaß finden. Auch eine kurze Arbeitszeit kann in der Medizin extrem anstrengend sein und man braucht eine Auszeit, um sich wieder zu sammeln. Genauso kann ein langer Dienst weniger fordernd sein und man fühlt sich gar nicht gestresst. Darauf sollten flexible Arbeitszeitregelungen Rücksicht nehmen. An der Universitätsklinik kommt ja noch dazu, dass auch ausreichend Zeit für Lehre und Forschung ermöglicht werden muss.

(+) plus: Seit einigen Jahren müssen Arbeitgeber auf die psychische Belastung ihrer MitarbeiterInnen achten. Hat sich das Bewusstsein für diese Erkrankungen gebessert?

Kautzky-Willer: Burnout und psychische Erkrankungen nehmen extrem zu, vor allem auch bei Personen, die im Gesundheitsbereich tätig sind. Der Stressfaktor spielt eine große Rolle. Ein gutes Arbeitsklima und das Einhalten von Ruhezeiten sind bei belastenden Tätigkeiten mit großer Verantwortung besonders wichtig. An der Medizinischen Universität gibt es diesbezüglich verschiedenste Maßnahmen und Präventionsprogramme.

(+) plus: In Österreich liegt man öfter und länger im Spital als in anderen Ländern. Sind wir kränker als andere Nationen?

Kautzky-Willer: Das glaube ich nicht. Wir haben ein historisch anders gewachsenes System, früher wurden viel mehr Patienten stationär aufgenommen. Manchmal liegen noch immer Menschen, die eigentlich in ein Pflegeheim gehören, auf teuren Spitalsbetten in der Universitätsklinik, weil es keinen Platz für sie gibt. Hier wäre eine Akut-geriatrie dringend notwendig. Generell geht aber der Trend ohnehin zu ambulanter Behandlung in Tageskliniken, wo sogar kleine Operationen durchgeführt werden. Gleichzeitig müsste man den niedergelassenen Bereich sowie Tages- und Rehabilitationszentren und Pflegeeinrichtungen stärken.

(+) plus: Haben Sie den Eindruck, dass das österreichische Gesundheitssystem derzeit bewusst schlechtgeredet wird?

Kautzky-Willer: Unser Gesundheitssystem ist sicher sehr gut, aber Verbesserungen sind überall möglich. Geld ist nunmal begrenzt vorhanden.

Last modified onDienstag, 29 Mai 2018 16:49

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