überfall auf die Depression
- Written by Redaktion_Report
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Ungewiss ist die Zukunft immer und in jedem Augenblick. \"Gewiss ist nur die Ungewissheit«, heißt daher auch ein wichtiger konstruktivistischer Leitsatz. Ohne konstruktivistisches Denken gibt es auch kein systemisches Management. Daher hat das Managementzentrum Witten, ein Institut für Management und Coaching der mit Sponsorgeldern finanzierten Privatuniversität Witten/Herneke , auch das »X« vor das Wort »Organisationen« gesetzt und einen Kongress zur Ungewissheit derselben veranstaltet. Er hörte folgerichtig auf den Namen »X-Organisationen«. Einer der vielen Schwerpunkte (über den überwiegenden Rest berichten wir im Laufe des nächsten Jahres) war die zu beobachtende depressive Stimmung in der deutschen Gesellschaft. Eine depressive Stimmung ist schlecht für die Wirtschaft, wie man weiß. Denn die Stimmungslage drückt auf die Konjunktur, die schlechte Konjunktur drückt wiederum auf die Stimmungslage, und so weiter. Das Ergebnis konnten wir während der letzten Jahre gut beobachten: Wo immer auch (ob an türkischen Badestränden oder sonstwo) mehrere deutsche Mitbürger zusammenkamen, wurde gejammert und lamentiert. Das wiederum hat die Führung des Managementzentrums Witten (MZW) auf die Idee gebracht, ein »Depressionsbarometer« ins Internet zu stellen (www.depressionsbarometer.de). Mehr als 100.000 Menschen haben den Onlinefragebogen bisher ausgefüllt, der Verdacht hat sich bestätigt: Unsere Nachbarn taumeln am Rande einer kollektiven Depression dahin. Die Ergebnisse werden täglich ausgearbeitet - und sie eröffnen interessante Einsichten: So war im Juni der Wert extrem tief, also weit entfernt von einer Depression. Es war eine Zeit, als das frühsommerliche Schönwetter die Stimmung ganz offensichtlich in die Höhe schnellen ließ. Goethe hatte mit seinem »himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt« ein gutes Gespür für die Psychologie bewiesen (ein Spruch, der auch in österreich nicht unbekannt ist). Der Erfinder des Depressionsbarometers, Fritz Simon, ist freilich ein Fachmann: Der Professor für Führung und Organisation am MZW ist schließlich gelernter Psychiater. Er meint, dass die deutschen Unternehmer ihr Elend großteils selber produzieren: »Wenn dauernd gejammert wird, wie schlecht es uns geht und wenn die Politik sagt, dass wir in zwanzig bis dreißig Jahren verarmt sein werden, entstehen logischerweise Verarmungsängste. Verarmungsängste wiederum drücken auf das Konsumverhalten.« Und so produziert der Mensch immer wieder sich selbst erfüllende Prophezeiungen. Dasselbe Spiel kennen wir nicht nur von der Börse, es ist im Alltagsleben genauso zu beobachten: Ein nebeliger Tag drückt vielen Menschen aufs Gemüt - weil dauernd davon geredet wird, dass Nebel aufs Gemüt drückt. Manche Menschen denken einfach andersrum: »Hm, wenn ich eh hackeln muss, was stört mich da der Nebel?« Das gelingt offensichtlich nur den wenigsten Zeitgenossen, obwohl ein paar Tage ohne Sonnenlicht dem Organismus so gut wie nichts anhaben können.
80-Prozent-Modell
»Achtzig Prozent der Menschen sind Volldeppen«, hat Selfmade-Fußballtrainer Adi Pinter einmal gemeint. Tatsächlich ist dieses 80-Prozent-Modell in vielen Themenbereichen ein sehr beliebtes geworden. Und so redet man auch davon, dass achtzig Prozent des wirtschaftlichen Handelns von der Psychologie bestimmt werden. Das war für Simon & Co Grund genug, das Barometer zu installieren (nicht zu vernachlässigen die Absicht, für den Kongress und das MZW Medienaufmerksamkeit zu lukrieren). Die Zwischenberichte, welche auf der Website abrufbar sind, zeigen interessante Schwankungen und Details: Neben den Schönwetterperioden wirkten sich offensichtlich auch die Ergebnisse der Fußballnationalmannschaft auf die Stimmungslage aus - logischerweise auch Terroranschläge und Wahlen.
Persönlich vs. kollektiv
Nicht minder interessant ist der Unterschied bei der Einschätzung der eigenen und der öffentlichen Befindlichkeit. Viele Barometerteilnehmer, welche die allgemeine Stimmungslage eher negativ einschätzen, meinen hingegen, dass sie selber »gut drauf« seien. Nimmt man den Durchschnittswert her, dann bedeutet der Wert von 32,4 Punkten, dass noch keine Anzeichen von kollektiver Depression bestünden. Eine diagnostizierbare Depression ist erst ab vierzig Punkten (von 105 möglichen) zu veranschlagen. Die Initiatoren werfen allerdings das Argument in die Diskussion, dass in der restlichen, westlichen Welt, wenn man vergleichbare Studien hernimmt, ein Wert von 17 Punkten zu berücksichtigen sei. Die Lage der Deutschen scheint also in der Tat bedenklich.
Therapie?
Die Depression unseres wichtigsten Wirtschaftspartners ist also diagnostiziert. Klar ist auch, dass das Bild von der Zukunft Kauf- und Investitionsentscheidungen beeinflusst. Aber wie könnte eine Therapie ausschauen? Darauf weiß selbst Experte Fritz Simon keine Antwort: »Eine Depression ist ja eine Situation, wo man in die Zukunft schaut und keine Handlungsmöglichkeiten sieht. Aber wer kennt schon die Zukunft?« Der Blick in die Zukunft ist eher eine vorauseilende Bewertung derselben. Warum also nicht positiv denken und etwa auf das Phänomen der »Frustkäufe« setzen? Dann geht es wenigstens der Schuhindustrie gut.