Politik in Brüssel hat in vielen Belangen ihre eigenen Regeln und unterscheidet sich sehr von Gepflogenheiten der heimischen Politik. So manches davon könnte auch dem österreichischen Parlamentarismus gut tun.

Gewaltenteilung ist der Grundpfeiler einer funktionierenden Demokratie. Realpolitisch erfüllen aber in vielen Staaten die Institutionen nicht jene Funktionen, die ihnen die Verfassung zugedacht hätte. Da werden Gesetze in Wahrheit von der Regierung beschlossen und von der gestellten Mehrheit im Parlament durchgewinkt.

Nicht so in Brüssel: Es gibt keine Regierung, die über eine gesicherte Mehrheit im Parlament verfügt. Zwar stellt – so wie derzeit die EVP – die größte Fraktion im Parlament auch die meisten Kommissare. Jedoch ergeben sich daraus keine automatischen Mehrheiten im Parlament. Hinzu kommt der Drang des Europäischen Parlaments, als starke und eigenständige Institution wahr- und ernstgenommen zu werden. Die Häme einer Margret Thatcher, die einmal das Europaparlament als »Mickey-Mouse-Parlament« tituliert hatte, ist beispielhaft für die Geringschätzung, die das Parlament früher erfahren hat. Durch die sukzessive Aufwertung des Parlaments seit den 1980er-Jahren steigt daher auch dessen Drang, sich als zunehmend gleichberechtigtes gesetzgebendes Organ ins politische Rampenlicht zu boxen. Dementsprechend bedacht ist das Parlament auf seine Rolle als Gesetzgeber. Vorschläge der Kommission werden tatsächlich als solche gesehen: Vorschläge, die es zu ergänzen, verändern oder gleich als Ganzes abzulehnen gilt. Vorschläge der Kommission zu Richtlinien und Verordnungen schauen oft massiv anders aus, wenn sie einmal das Parlament bearbeitet hat.

Hinzu kommt, dass mit dem Rat eine zweite Kammer installiert ist, die auch tatsächlich stark (manche monieren: zu stark) in die Gesetzgebung eingreift. So ist es kein Garant, dass eine Verordnung tatsächlich in Kraft treten wird, nur weil die Hürden Kommission und Parlament genommen wurden. Wenn die Mitgliedstaaten wollen, können sie im Rat alles blockieren. Aktuelles Beispiel: die sogenannten Transparenz-Richtlinie. Weil etliche Mitgliedstaaten die Regeln der Kommission anfechten, wie in Zukunft Preise für Arzneimittel erstellt werden sollen (und wem dies transparent gemacht werden soll, ergo der etwas irreführende Name), werden die Diskussionen im Rat bis zum Sankt Nimmerleinstag verschleppt.

Kein Fraktionszwang im Parlament. Auf EU-Ebene herrscht ein lebendiger Parlamentarismus – und ein transparenter! Sitzungen der Ausschüsse waren seit jeher öffentlich zugänglich, mittlerweile können Interessierte jede Sitzung per Livestream und Dolmetsch im Internet verfolgen. Wer dies regelmäßig tut, wird schnell bemerken, dass die Diskussionen um einiges sachlicher geführt werden als im österreichischen Nationalrat. Und was noch viel mehr überrascht: Es werden Übereinstimmungen über Fraktionsgrenzen hinweg gesucht und auch sodann öffentlich geschätzt. Der Grund dafür: Es gibt keinen Klubzwang im Europaparlament. Aus diesem Grund müssen sich die Politiker jedes Mal Mehrheiten organisieren – und die gibt es nur , wenn man auch Stimmen von anderen Fraktionen gewinnt. So kommt es, dass sich Interessenslagen von Sozialdemokraten, Christdemokraten und Grünen überschneiden, weil zum Beispiel die jeweiligen nationalen Interessen überwiegen. Als Beispiel sei hier die geschlossene Position aller österreichischen Europaabgeordneten bei Atomenergie zu nennen.

Es gibt noch einen Grund, warum im Europaparlament eher der fraktionsübergreifende Konsens als der Konflikt gesucht wird. Will man gegen den Rat als mächtige zweite Kammer bestehen, muss das Parlament möglichst geschlossen auftreten. 

Hearing als Lackmustest

Regelmäßig, so auch jüngst während der letzten Regierungsverhandlungen, fordern Politiker und Experten in Österreich, dass Ministerkandidaten sich in einem Hearing den Nationalratsabgeordneten stellen sollen. Die Ablehnung dieser Idee stößt bei Brüssel-Kennern auf Unverständnis. Denn wer EU-Kommissar werden will, muss sich als letzte Hürde dem Europaparlament stellen. Und dass das kein Selbstläufer ist, davon kann Rocco Buttiglione ein Lied singen. 2006 als italienischer Kandidat ins Rennen geschickt, bestand er den Lackmustest Hearing nicht. Aufgrund bestimmter Weltanschauungen verweigerten die Europaabgeordneten ihm das Vertrauen und damit den Posten als EU-Kommissar. Seitdem nimmt jeder Kandidat die Hearings ernst und bereitet sich gewissenhaft auf seine zukünftige Aufgabe vor. Das wiederum hat den positiven Effekt, dass Kommissare, sofern sie auch tatsächlich ihr Amt antreten dürfen, inhaltlich top vorbereitet sind, sobald ihre Amtszeit beginnt.